Kinder- und Jugendgewalt seit 2008 - ein Blick auf die Kriminalstatistik
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Hinweis: Dieser Artikel wurde am 5.4.2023 überarbeitet und die neuen PKS-Zahlen 2022 eingearbeitet.
Anlässlich des offenbar von Kindern begangenen Tötungsdelikts in Freudenberg kam auch die Frage auf, ob es stimmt, dass Kinder und Jugendliche in den vergangenen Jahren „immer gewalttätiger“ werden.
Ich hatte in einem Beitrag auf dieser Plattform im Jahr 2010 kommentierend zur jährlichen Polizeilichen Kriminalstatistik geschrieben: "Die Jugendgewalt nimmt dramatisch ab!" Ich hatte auch beklagt, dass nur wenige journalistische Kommentare zur Kriminalstatistik diese sehr wichtige Information aufgreifen.
Nun wurde ich angesichts des erwähnten aktuellen Falls auch von Journalisten gefragt, ob Tötungsdelikte von Kindern häufig bzw. häufiger vorkommen als früher. Zur Beruhigung: Nein das ist nicht der Fall. (Vorsätzliche) Tötungsdelikte von Kindern sind nach wie vor sehr selten, ein Trend ist hier nicht festzustellen.
Aber es wird auch die Frage gestellt, wie es denn weitergegangen ist mit der Kriminalstatistik zu Jugendgewalt im Allgemeinen. Hierzu muss man wissen, dass unter Gewaltkriminalität in der PKS (Summenschlüssel 892000) eine Reihe von Delikten zusammengefasst werden, darin einbezogen sind natürlich auch Tötungsdelikte. In diesem Summenschlüssel ist die einfache Körperverletzung nicht erfasst, den Hauptanteil bildet die gefährliche Körperverletzung (um 90% der Gewaltdelikte). Das sind grob gesagt alle Verletzungsakte, bei denen eine Waffe oder ein Werkzeug zur Verletzung verwendet wurde, sowie solche, bei denen gemeinschaftlich mit anderen vorgegangen wird, was gerade bei Kindern und Jugendlichen häufig der Fall ist.
Ich habe hier eine auf Grundlage der PKS angefertigte Tabelle eingefügt.
Allgemein gilt, dass die Polizeiliche Statistik vor allem die Anzeigetätigkeit reflektiert. Insbesondere wenn ein Fall geringe Folgen hat, werden Jugendliche und Kinder häufig nicht angezeigt und der ganze Fall damit der Polizei nicht bekannt (Dunkelfeld). Da die Anzeigebereitschaft durchaus von Jahr zu Jahr schwanken kann, ist ein Blick auf einzelne Jahre wenig aussagekräftig. Im Gegensatz dazu können Entwicklungen über längere Zeitabschnitte auch auf entsprechende Tendenzen in der Realität hinweisen, insbesondere wenn es keine anderen erkennbaren Faktoren gibt, die die Anzeigehäufigkeit beeinflusst haben (könnten).
Tendenz der Anzahl wegen Gewaltstraftaten verdächtiger polizeilich registrierter Jugendlicher
Betrachtet man die langfristige Tendenz der Entwicklung der (angezeigten) Gewaltdelikte Jugendlicher, dann lässt sich beobachten, dass diese (seit 2008) für ein Jahrzehnt „dramatisch“ rückläufig iwar. Die starke jährliche Abnahme hat sich seit meinem früheren Beitrag von 2010 noch fünf Jahre lang fortgesetzt, bis 2015 der bisher niedrigste Wert erreicht wurde, bei etwa 20.000 tatverdächtigen Jugendlichen. Zwei Jahre lang ist die Anzahl der jugendlichen Tatverdächtigen dann wieder angestiegen. Der Zusammenhang mit der Aufnahme von etlichen hunderttausend Geflüchteten in diesen Jahren scheint offensichtlich, aber dieser verweist nicht allein auf eine von verschiedenen Seiten vermutete höhere Gewaltbereitschaft geflüchteter Jugendlicher. Geflüchtete unterlagen (in Aufnahmelagern bzw. Flüchtlingsunterkünften) auch einer stärkeren Kontrolle, so dass auch gewalttätiges Verhalten schneller zur Anzeige gekommen ist. Nach einer Stabilisierung auf (im Vergleich zu den 1990er und 2000er Jahren) recht geringem Niveau, ist die polizeilich registrierte Jugendgewalt im vergangenen Jahr wieder stark gestiegen (um 28,8% mehr tatverdächtige Jugendliche) und hat jetzt wieder fast das Niveau von 2012 erreicht.
Tendenz der Anzahl wegen Gewaltstraftaten verdächtiger polizeilich registrierter Kinder
Bei Kindern liegt die allg. Anzeigebereitschaft noch einmal niedriger als bei Jugendlichen, denn es ist allgemein bekannt, dass Kinder nicht strafmündig sind. Deshalb sind diese Zahlen mit noch größerer Vorsicht zu genießen. Aber auch hier zeigen sich zunächst ähnliche Tendenzen: Starker Rückgang seit 2008, dann kurzer Anstieg um das Jahr 2016. Die Entwicklung im Anschluss zeigt jedoch, insbesondere durch den sehr starken Anstieg im vergangenen Jahr, dass hier seit 2017 ein durchaus beachtlicher (nur durch die Pandemie unterbrochener) Trend zu wieder höheren Zahlen von angezeigten Kindern besteht, der jetzt wieder das Niveau von 2009 erreicht.
Tendenz der Kinder und Jugendlichen als Opfer von Gewaltstraftaten
Update 6.4.23:
Auf Anregung eines Lesers habe ich noch eine Tabelle angefertigt mit der die Entwicklung der Anzahl der (registrierten) Opfer von Gewaltkriminalität im Kindes- und Jugendalter seitz 2008 nachvollzogen werden kann
Einige knappe Anmerkungen dazu:
Bei den Kindern als Gewaltopfer ist zu berücksichtigehn, dass die Kindesmisshandlung NICHT zu den Gewaltdelikten im Schlüssel 692000 gehört. Die Opferzahlen dazu lagen in den Pandemiejahren etwa 10 % höher als 2019 und sind 2022 um rd. 5% zurückgegangen.
Bei den Jugendlichen als Gewaltopfer lässt sich anhand der beiden Tabellen erkennen, dass hier Tatverdächtige und Opfer meist derselben Altersgruppe angehören.
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