Loveparade Duisburg 2010 – die Mühen der Ebene in der Hauptverhandlung
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Aus dem Gedicht "Wahrnehmung" (1949) von Brecht stammt der Ausdruck „vor uns liegen die Mühen der Ebenen“. Er wird heute gebraucht um damit auszusagen, dass man nach glücklicher Bewältigung des größten Hindernisses nun feststellen muss, dass erst der zähe und langwierige Alltag die eigentliche Anstrengung darstellt.
Mir fiel das ein, als ich die Beschreibung der Hauptverhandlungstage im Spätsommer und Herbst zur Loveparade 2010 im WDR-Blog nachlas. Als große Hürde erschien es jahrelang (siehe meine unten verlinkten früheren Beiträge), dass in diesem Strafprozess überhaupt eine Hauptverhandlung stattfinden würde. Und nun, nachdem der von den Opfern und der Öffentlichkeit lang ersehnte Prozess tatsächlich stattfindet, wirkt er langwierig, zäh, teilweise wenig erhellend und nur äußerst zögerlich aufklärend.
Aufregung gab es vor gut vier Wochen – allerdings gar nicht in der Hauptverhandlung, sondern außerhalb. Einige Nebenklagevertreter hatten sich aufgrund der Befürchtung, das Gericht werde eine Verfahrenseinstellung anregen, mit einem Brief an den NRW-Justizminister gewendet.
Auszüge aus dem Brief, der von elf Nebenklagevertretern unterzeichnet ist:
„Die zuständige Kammer des Landgerichts Duisburg hat im Laufe des Verfahrens zwischenzeitlich mehrfach bekundet, im Frühjahr nächsten Jahres mit sämtlichen professionellen Verfahrensbeteiligten (Richter, Staatsanwälte, Verteidiger und Nebenklagevertreter) ein Rechtsgespräch fuhren zu wollen, mit dem Ziel, das Verfahren konsensual einer finalen Erledigung zuzuführen. Gemeint ist mit diesem Hinweis eine geplante Einstellung des Verfahrens gegen Auflage (z.B. Geldauflage) nach der Vorschrift des § 153a Absatz 2 der Strafprozessordnung gegen sämtliche Angeklagten. (…) Die Nebenklage wird vor einer beabsichtigten Verfahrenseinstellung zwar angehört; verhindern kann sie diese jedoch nicht. Leider haben Verlautbarungen der für das Loveparade-Strafverfahren zuständigen (Ober-)Staatsanwälte ergeben, dass die Staatsanwaltschaft offenbar bereit ist, den vom Gericht aufgezeigten Weg hin zur Verfahrenseinstellung mitzugehen. Die Dogmatik des § 153a StPO sieht vor, dass die Auflagen, die der Angeklagte zu erfüllen hat, das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung beseitigen, sofern die Schwere der Schuld dem nicht entgegensteht. (…) Vermutlich hat niemand bei Einführung des § 153a StPO ernsthaft erwogen, dass auch der Vorwurf fahrlässiger Tötung dieser Vorschrift unterstellt werden könnte, zumal Gegenstand des Loveparade-Strafverfahrens nicht nur der Vorwurf einer einzigen, sondern der einer 21-fachen fahrlässigen Tötung ist. Hinzu kommt noch der Vorwurf der mindestens 652-fachen Körperverletzung im Amt bzw. fahrlässigen Körperverletzung. Diese Bereitschaft der für das Loveparade-Strafverfahren zuständigen Staatsanwälte, der Kammer des Landgerichts zu folgen, kann nach unserer Überzeugung nur durch sachfremde Erwägungen motiviert sein. Als Stichworte hierfür seien genannt: Kostenersparnis, Entspannung der Personalsituation in der Justiz, drohende Verjährung. (…) Den Opfern der Loveparade klingt es vor diesem Hintergrund wie Hohn in den Ohren, wenn nun seitens der Staatsanwaltschaft bekundet-wird, nach einer durch die Angeklagten zu leistende Auflage bestehe an der Strafverfolgung kein öffentliches Interesse mehr. (…) Würde das Gericht mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft das Loveparade-Strafverfahren durch eine-Einstellung beenden, so wäre in der traurigen und skandalreichen Geschichte der Loveparade 2010 der Schlusspunkt auch noch mit einem ausgewachsenen Justizskandal gesetzt. Die Verfahrenseinstellung, die wir unter keinem Gesichtspunkt für einen gangbaren Weg halten, kann indes sehr einfach verhindert werden, indem die Staatsanwaltschaft einer solchen Einstellung nicht zustimmt. (…) Namens und im Auftrag der Geschädigten der Loveparade-Katastrophe 2010 ersuchen wir Sie, Herr Minister Biesenbach, aus den vorgenannten Gründen im Wege ministerieller Weisung gemäß den§§ 146, 147 Nr. 2 des Gerichtsverfassungsgesetzes den für das Loveparade-Strafverfahren zuständigen Staatsanwälten der Staatsanwalt Duisburg (…) zu untersagen, einer Einstellung des Verfahrens gemäß den §§ 153, 153a StPO zuzustimmen. (…) Wir sind uns bewusst, dass ministerielle Weisungen an Staatsanwälte die Ausnahme sind und auch bleiben sollten. Nach unserer Auffassung ist vorliegend ein solcher Ausnahmefall gegeben, um der Würde der Opfer der Loveparade 2010 Rechnung zu tragen und eine schwere Störung des Rechtsfriedens und damit schweren politischen Schaden vom Lande Nordrhein- Westfalen abzuwenden.“
Justizminister Biesenbach lehnte eine Weisung umgehend ab. Sie sei nur in Betracht zu ziehen, wenn der zuständige Generalstaatsanwalt „gegen eine rechtsfehlerhafte staatsanwaltschaftliche Sachbehandlung zu Unrecht nicht einschreitet“. Dafür habe er keine Anhaltspunkte. (Zitat WAZ vom 4. 10.2018)
Laut WDR-Blog verwahrte sich der Vorsitzende Richter Plein am nächsten Verhandlungstag in einer „Wutrede“: (Auszug WDR-Blog)
„Der Brief liegt zwar Pressevertretern vor, nicht aber den anderen Verfahrensbeteiligten. Plein nennt das „beschämend“. Er setzt zu einer Standpauke an: „Es gibt einfach Grundsätze der Fairness“. Das Verfahren habe sich bisher durch außerordentliche Transparenz ausgezeichnet. „Sie sollten genau wissen: Mir ist es ein riesiges Anliegen, dass die Nebenkläger hier den maximalen Nutzen aus diesem Verfahren ziehen“, sagt Plein. „Wir müssen die Ursache hier feststellen, wir wollen die Ursache hier feststellen und wir werden die Ursache hier feststellen.“ Pleins Ton wird bestimmter: Er werde das Verfahren nicht einstellen, weil ihm nichts anderes einfalle. Im Umkehrschluss: „Wenn wir wirklich hier zu einem bestimmten Zeitpunkt der Auffassung sind, dass eine Einstellung richtig ist, dann ist kein Raum mehr für eine Verurteilung.“ Das gebiete der Rechtsstaat. Das sei das kleine Einmaleins des Strafprozesses.
Ein Nebenklägeranwalt meldet sich: „Die Bedenken sind von den Nebenklägern ernst gemeint und fußen maßgeblich auf ihrer Verhandlungsführung“ Es gebe hier Prozesssituationen, „wo man sagen kann, ist das hier nur noch eine Alibiveranstaltung.“ Plein beendet die Diskussion. Bis zum Rechtsgespräch stünden noch 30 Hauptverhandlungstage bevor: „Also warten sie mal ab“.“
Ob es taktisch richtig war, den Vorsitzenden einer „Alibiveranstaltung“ zu zeihen, kann man bezweifeln. Allerdings scheint das, was im WDR-Blog über die seitherigen Zeugenvernehmungen berichtet wird, möglicherweise darauf hinauszulaufen, dass am Ende auch die Nebenkläger zermürbt sein werden, eben durch den langen Weg durch die Ebene.
Die vernommenen Zeugen aus den Reihen von Polizei und Feuerwehr können sich großteils wenig gut erinnern, können zur Einrichtung der Polizeiketten nichts sagen, sind bzw. fühlten sich unzuständig. Natürlich gibt dies der Verteidigung Raum für ihre These, dass nicht ihre Mandanten sondern das Verhalten Polizei der eigentliche Auslöser der Katastrophe gewesen sei.
Leider lässt eine Frage des Vorsitzenden Richters an den Gutachter befürchten, dass die meines Erachtens unrichtige These, die Angeklagten würden entlastet, wenn die Polizeiketten als (Letzt-)Ursache der Katastrophe festgestellt würden, auch gerichtlich möglicherweise noch „en vogue“ ist. Zitat WDR-Blog vom 26. September:
„Richter Plein erteilt im Anschluss dem anwesenden Gutachter noch einen, wie ich finde wichtigen, Auftrag. Sollte die für das Gutachten anstehende Simulation des Unglücks kein Ergebnis bringen, möge er bitte trotzdem für das Gericht die folgende Frage beantworten: Kann er ausschließen, dass es ohne die Polizeiketten nicht zu einer Menschenverdichtung am Fuße der Rampe – und damit zu dem Unglück – gekommen wäre?“
Auch wenn der WDR-Journalist die Frage als „wichtig“ erachtet, ich kann nur hoffen, dass die Antwort auf diese Frage nicht als entscheidend angesehen wird. Für mich lassen sich – wie schon mehrfach hier im Blog erörtert – die in der Anklage geschilderten Fahrlässigkeiten der Angeklagten eben nicht dadurch beseitigen, dass in dem von ihnen (mit) zu verantwortenden Loveparade-Chaos die Polizei fehlerhaft letzte Ursachen für die tödliche Massenturbulenz am Rampenfuß setzte. Auch für das Verhalten der Polizei in dieser Situation, nämlich den gefährlichen Personenstau am oberen Ende der Rampe und an den Vereinzelungsanlagen, sind krass unzureichende Planung und rechtswidrige Genehmigung mitverantwortlich. Dazu zitiere ich meinen eigenen Beitrag vom Beginn der Hauptverhandlung (Dez 2017):
Sicherlich werden auch in der Hauptverhandlung (wie von Anfang an) insbesondere die Angeklagten auf Veranstalterseite damit argumentieren, Polizeibeamte, die durch Bildung von Sperren an ungeeigneten Stellen letztendlich Ort und Zeit der Katastrophe entscheidend mitbestimmt haben, trügen (als letzte in der Verantwortungskette) die Hauptverantwortung. Und Polizeibeamte seien nicht einmal angeklagt worden.
Wie die regelmäßigen Leser des Blogs wissen, habe ich immer dafür plädiert, auch die Verantwortung der Polizei zu berücksichtigen, da polizeiliche Aktionen entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft eben doch wesentlicher Bestandteil der Ursachenkette gewesen sind. Jedoch ist gleichfalls festzuhalten, dass das Verhalten der Polizei keineswegs die Schuldfrage hinsichtlich der anderen Angeklagten entscheidet. Und es ist auch nicht so, dass auf diesem Wege praktisch die Schuld der (nicht angeklagten) Polizisten den anderen „aufgehalst“ wird. Nein, jeder haftet für eigene Fahrlässigkeit, selbst dann, wenn andere (später) ebenfalls fahrlässig handeln.
Update 16.01.2019:
Heute erreicht uns die Nachricht über eine (in Betracht gezogene) Einstellung des Verfahrens nach §§ 153, 153a StPO. Morgen wird sich aber der Vors. Richter in einem (wohl auch schriftlich niedergelegten) Vermerk über das heutige vertrauliche Rechtsgespräch dazu äußern. Ich werde dann zeitnah einen neuen Beitrag verfassen, der auch wieder (sachlich und höflich) kommentiert werden kann.
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Links zu früheren Beiträgen und Diskussionen hier im Beck-Blog und weiteren wichtigen Informationen, die im Netz verfügbar sind:
Juli 2018: Loveparade 2010 in Duisburg - acht Jahre später (11 Kommentare, ca. 2700 Aufrufe)
Dezember 2017: Loveparade 2010 - die Hauptverhandlung beginnt (69 Kommentare, ca. 10000 Aufrufe)
Juli 2015: Fünf Jahre und kein Ende – die Strafverfolgung im Fall Loveparade 2010 (98 Kommentare, ca. 11000 Abrufe)
Februar 2015: Was wird aus dem Prozess? (72 Kommentare, ca. 8000 Aufrufe)
August 2014: Zweifel am Gutachten (50 Kommentare, ca. 9000 Abrufe)
Februar 2014: Anklageerhebung (50 Kommentare, ca. 16000 Abrufe)
Mai 2013: Gutachten aus England (130 Kommentare, ca. 16500 Abrufe)
Juli 2012: Ermittlungen dauern an (68 Kommentare, ca. 14000 Abrufe)
Dezember 2011: Kommt es 2012 zur Anklage? (169 Kommentare, ca. 30000 Abrufe)
Mai 2011: Neue Erkenntnisse? (1100 Kommentare, ca. 37000 Abrufe)
Dezember 2010: Fünf Monate danach (537 Kommentare, ca. 26500 Abrufe)
September 2010: Im Internet weitgehend aufgeklärt (788 Kommentare, ca. 43000 Abrufe)
Ergänzend:
Link zur großen Dokumentationsseite im Netz:
speziell: Illustrierter Zeitstrahl
Link zur Seite von Lothar Evers: DocuNews Loveparade Duisburg 2010
Link zur Prezi-Präsentation von Jolie van der Klis (engl.)
Weitere Links:
Große Anfrage der FDP-Fraktion im Landtag NRW
Kurzgutachten von Keith Still (engl. Original)
Kurzgutachten von Keith Still (deutsch übersetzt)
Analyse von Dirk Helbing und Pratik Mukerji (engl. Original)
Multiperspektiven-Video von Jolie / September 2014 (youtube)
Interview (Januar 2013) mit Julius Reiter, dem Rechtsanwalt, der eine ganze Reihe von Opfern vertritt.
Blog des WDR zur Hauptverhandlung (Berichte über jeden Prozesstag)