Loveparade 2010 - die Hauptverhandlung beginnt

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 08.12.2017

Siebeneinhalb Jahre nach der Loveparade 2010 in Duisburg mit ihren furchtbaren Folgen beginnt nun heute in Düsseldorf die Hauptverhandlung gegen zehn Angeklagte aus der Duisburger Verwaltung und vom Veranstalter Lopavent. Angesichts der langen Vorgeschichte muss man schon begrüßen, dass es heute in Düsseldorf überhaupt zu einer Hauptverhandlung kommt. Viele hatten schon vor einiger Zeit dem Strafverfahren keine Chance mehr gegeben, insbesondere nachdem die Eröffnung zunächst abgelehnt wurde.

Nun findet die Hauptverhandlung im Düsseldorfer Congresscenter statt mit einem enormen zeitlichen, personellen und räumlichen Aufwand. Die LTO schreibt zur Gestaltung:

Am morgigen Freitag beginnt im Congresscenter Düsseldorf Ost mit dem Loveparade-Prozess einer der größten Prozesse der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte. Insgesamt 500 Plätze hat der Zuschauerbereich des Saals im ersten Stock, davon 85 allein für die Medienvertreter. Man wird sie brauchen, für die zehn Angeklagten, ihre 24 Verteidiger, die 64 Nebenkläger und ihre Vertreter. Simultandolmetscher werden in fünf Sprachen übersetzen.

(...)

Neben den drei Richtern und zwei Schöffen werden drei Ergänzungsrichter und fünf Ergänzungsschöffen das Verfahren begleiten, damit es nicht wegen eines Ausfalls auf der Richterbank platzt. Die zuständige 6. Große Strafkammer wurde von allen neu eingehenden Verfahren freigestellt. Sämtliche Verteidiger mussten Vorschläge für Pflichtverteidiger unterbreiten, die einspringen, wenn sie selbst an einem der Prozesstage verhindert sind. Das wird ziemlich sicher geschehen, zumal das Gericht angesichts des straffen Zeitplans schon jetzt mit drei Terminen pro Woche plant. Das ist selbst für größere Kanzleien mit vorhandenem Personal kaum zu leisten.

Die grundlegenden Kausalverläufe, die zur Massenturbulenzkatastrophe in Duisburg geführt haben, sind dabei seit Jahren geklärt, das lässt sich hier im Beck-Blog gut nachvollziehen (siehe die Links zu den früheren Beiträgen und Diskussionen am Ende des Beitrags) und sind erst durch eine fragwürdige Argumentation des LG Duisburg in dessen Nichteröffnungsbeschluss problematisiert worden. Wer sich für die (vom Gericht missverstandene) theoretischen Voraussetzungen interessiert, dem empfehle ich den  im Oktober 2017 in ZIS erschienenen Aufsatz von Thomas Grosse-Wilde.

Von Anfang an war eine der eingeschlagenen Verteidigungsrichtungen, dass man auf die Schuld des jeweils anderen hinwies, um die eigene Verantwortlichkeit zu minimieren bzw. auszuschließen. Das ist als Verteidigungsstrategie durchaus legitim, aber in diesem Fall nicht durchschlagend. Denn wenn Fahrlässigkeiten mehrerer Personen bzw. Arbeitsebenen in einem „Erfolg“ (hier Tötung bzw. Körperverletzung in der Massenturbulenz) zusammentreffen, ist jeder einzelne Beteiligte als fahrlässiger Nebentäter für seine eigene Fahrlässigkeit verantwortlich und kann bestraft werden, wenn diese Fahrlässigkeit mit dem Erfolg kausal verknüpft ist und im Pflichtwidrigkeitszusammenhang steht. Dass andere ebenfalls fahrlässig mit zum Erfolg beigetragen haben, entlastet dann nicht.

Sicherlich werden auch in der Hauptverhandlung (wie von Anfang an) insbesondere die Angeklagten auf Veranstalterseite damit argumentieren, Polizeibeamte, die durch Bildung von Sperren an ungeeigneten Stellen letztendlich Ort und Zeit der Katastrophe entscheidend mitbestimmt haben, trügen (als letzte in der Verantwortungskette) die Hauptverantwortung. Und Polizeibeamte seien nicht einmal angeklagt worden.

Wie die regelmäßigen Leser des Blogs wissen, habe ich immer dafür plädiert, auch die Verantwortung der Polizei zu berücksichtigen, da polizeiliche Aktionen entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft eben doch wesentlicher Bestandteil der Ursachenkette gewesen sind. Jedoch ist gleichfalls festzuhalten, dass das Verhalten der Polizei keineswegs die Schuldfrage hinsichtlich der anderen Angeklagten entscheidet. Und es ist auch nicht so, dass auf diesem Wege praktisch die Schuld der (nicht angeklagten) Polizisten den anderen „aufgehalst“ wird. Nein, jeder haftet für eigene Fahrlässigkeit, selbst dann, wenn andere (später) ebenfalls fahrlässig handeln. Damit ich nicht wiederum einen meiner eigenen früheren Beiträge zitieren muss, hier eine zentrale Aussage von Grosse-Wilde, dem insofern vollständig zuzustimmen ist:

„Hierbei gilt für keinen der möglichen Nebentäter, dass die fremde Fahrlässigkeit des jeweils anderen ihm als „eigene Schuld“ zugerechnet wird, sondern lediglich, dass man das Verhalten der anderen Beteiligten als Kausalfaktor in den Verursachungsprozess des Erfolges einfügt, ebenso wie natürliche Ursachen. Über natürliche Ursachen, etwa die Windrichtung, hat der Brandstifter ebenso wenig Herrschaft wie über spätere Handlungen Dritter; trotzdem nimmt niemand Anstoß an einer Zurechnung von Brandschäden.  Den Veranstaltern und der Genehmigungsbehörde wird nicht etwaiges Fehlverhalten der Polizei als eigenes zugerechnet, sondern lediglich, dass sie dieses Fehlverhalten durch eigene Fehler herausgefordert haben und damit mittelbar die Katastrophe mitverursacht haben.“ (Grosse-Wilde, in: ZIS 2017, 638 (655)) .

Auch wenn für mich nach allen Informationen, über die ich verfüge, die grundlegende Verantwortlichkeit des Veranstalters und der Genehmigungsbehörde ziemlich fest steht, so erfüllt natürlich trotzdem die Hauptverhandlung noch die wesentlichsten und wichtigsten Voraussetzungen für eine Beurteilung (und evtl. Verurteilung) einzelner Personen:

Es ist zu klären, welche von den angeklagten Personen genau welche Entscheidungen getroffen haben und mit welcher individueller Verantwortung sie daher belastet sind. Zudem hat die Hauptverhandlung auch für die Betroffenen und Angehörigen die wichtige Funktion, diese Aufklärung und den Nachweis öffentlich und transparent darzulegen: Hier hat sich keine unvermeidbare Naturkatstrophe abgespielt, in deren Risikobereich sich die jungen Leute selbst begeben haben (wie etwa bei einer Bergwanderung im Hochgebirge), sondern die Tötungen und Verletzungen hätten durch angemessene Planung und Durchführung (zur Not mit dem Bekenntnis, dass die Veranstaltung in Duisburg eben nicht durchführbar ist) vermieden werden können.

Schließlich: Irrtümer, Fehler und Leichtfertigkeit sind „menschlich“ und tragen keinesfalls dieselbe Schuld mit sich wie etwa das Begehen vorsätzlicher Gewaltstraftaten. Dennoch werden z.B. im Straßenverkehr regelmäßig diejenigen Fahrer, die einen (tödlichen) Unfall verursacht haben, selbst wenn es nur eine eigentlich verzeihlich erscheinende Nachlässigkeit oder ein Augenblicksversagen war, strafrechtlich verurteilt (meist zu Geldstrafen). Es ist hier nicht der Ort, über die Strafwürdigkeit fahrlässigen Verhaltens insgesamt zu streiten – für eine Entkriminalisierung leichter Fahrlässigkeit gibt es gute Argumente. Aber wenn selbst Augenblicksversagen im Straßenverkehr so geahndet werden kann und wird, dann wird man hier nicht gut mit „Zufall“, „Pech“ und „Unglück“ gegen eine Bestrafung argumentieren können. Personen, die eine solche Großveranstaltung monatelang geplant haben und auf die Risiken dieses Eingangskonzepts (Tunnelführung über mehrere hundert Meter) während des Planungsprozesses auch hingewiesen wurden, hätten hier die Gefahr einer tödlichen Massenturbulenz vorhersehen und im Vorfeld minimieren müssen. Das Gleiche gilt für diejenigen, die in der Behörde zur Prüfung des Sicherheitskonzepts einer solchen Veranstaltung berufen sind, bevor sie sie genehmigen.

Zur Verantwortung der politischen Leitung (Oberbürgermeister Sauerland) und des Chefs der Veranstaltungsfirma (Schaller), die jetzt wieder in Pressemeldungen hervorgehoben wird: Sofern die Leitungsebenen nicht in die konkreten Planungen involviert sind, sind sie zwar moralisch/politisch verantwortlich, können aber eben nicht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Strafbar ist nur die fahrlässige Verletzung einer konkreten Sorgfaltspflicht. Es ist aber kein Verstoß gegen eine Sorgfaltspflicht, die Planung und den Genehmigungsprozess für eine Großveranstaltung in Auftrag zu geben bzw. zu befördern. Es ist auch nicht sorgfaltspflichtwidrig, wichtige Aufgaben zu delegieren – sofern man geeignete Leute eingestellt hat, die diesen Plan bzw. dessen Prüfung umsetzen. Es gehört eben auch zur Verantwortung Untergebener in leitender Funktion, die Leitungsebenen über ihnen rechtzeitig darüber in Kenntnis zu setzen, dass grundlegende Sicherheitsbedenken nicht ausgeräumt werden können und deshalb eine Veranstaltung eben nicht stattfinden kann. Dass hier in der politischen Entscheidungsstruktur der Stadt Duisburg möglicherwiese etwas im Argen lag, wenn sich etwa niemand traut, dem Chef gegenüber ehrlich zu sein, soll dahingestellt bleiben, denn dies wäre strafrechtlich eben nicht relevant.

Ich werde, wann immer es angezeigt erscheint, den Prozess aus der Ferne kommentieren. Für die tägliche Information verweise ich zunächst auf den Blog des Kollegen Thomas Feltes, der am Prozess als Nebenklägervertreter beteiligt ist.

Update nach dem ersten Tag der Hauptverhandlung:

Spiegel Online schreibt, der erste Tag sei geprägt gewesen von Anträgen der Verteidigung, und lässt durchblicken, diese würden jetzt schon eine Verzögerungstaktik fahren:

Der erste Prozesstag ist davon geprägt, dass ihre Verteidiger Antrag auf Antrag einreichen. In einem geht es um eine mögliche Befangenheit zweier Ergänzungsschöffen. Dann möchte ein Strafverteidiger eine Besetzungsrüge einbringen. "Hier sitzen nicht die richtigen Richter, die über das Verfahren urteilen", sagt er. Ein Vorwurf, über den sich die Anwälte der Nebenkläger echauffieren, einer spricht von "rechtswidrigen Anträgen" und wirft der Verteidigung vor, die Verhandlung mit taktischen Manövern verzögern zu wollen.

Das ist m. E. eine Fehleinschätzung. Besetzungsrügen müssen gleich am ersten Tag, ebenso müssen bestimmte Ablehnungsgründe von der Verteidigung unverzüglich geltend gemacht werden (Korrektur: Vor dem in § 222b StPO genannten Zeitpunkt zu Beginn der Hauptverhandlung). Dies führt regelmäßig und notwendig gerade bei Großprozessen zu Verzögerungen am ersten Verhandlungstag, ist also nicht ungewöhnlich.

Erfrischend sachlich Thomas Feltes dazu (obwohl er ja als Nebenklägerverterter "auf der anderen Seite" steht):

Jedenfalls kann nicht von einer „Flut von Anträgen“ die Rede sein, wie dies eine überregionale Zeitung schrieb. Man muss den Verteidigern zubilligen, einen Befangenheitsantrag gegen zwei Ergänzungsschöffen zu stellen, deren Töchter bei der Loveparade waren, auch wenn die Töchter vor der Katastrophe gegangen waren. Aber dass dies den Eindruck der Befangenheit bei den Angeklagten wecken kann, zumal einer angab, dass er sich nicht mehr erinnern kann, ob er mit seiner Tochter über die Veranstaltung gesprochen hat, ist nachvollziehbar – und der Eindruck genügt für einen entsprechenden Antrag. Der zweite Antrag zur Besetzung des Gerichts war dann schon weniger klar, da er vor allem juristisch begründet wurde. Aber auch er erschien mir zumindest nicht offensichtlich unzulässig.

Ebenfalls interessant ist der Bericht von Frank Bräutigam (Prozessbeobachter für die tagesschau)

Update (Ergänzung am 10.12.2017):

Auf SPON wird der Staatsanwalt zitiert mit der Aussage:

"Die Gefahr lebensgefährlicher Drucksituationen war ihnen bewusst. Es musste zwangsläufig dazu kommen", sagte der Ankläger.

Diese Angabe der Zwangsläufigkeit (sie erscheint als wörtliches Zitat) erscheint mir sachlich unzutreffend und - wenn damit eine materiellrechtliche Begrenzung der Strafbarkeit auf Fälle der Zwangsläufigkeit impliziert sein sollte - sogar äußerst bedenklich. Es ist für die Verurteilung wegen eines Fahrlässigkeitsdelikts eben NICHT erforderlich, dass die Sorgfaltspflichtverletzung "zwangsläufig" zum Erfolg führen musste. Es genügt, dass der Erfolg vorhersehbar war und im KONKRETEN FALL durch die Pflichtverletzung  VERURSACHT (oder mitverursacht) wurde.

Zur Erläuterung: Jährlich werden tausende von Autofahrern wegen fahrl. Tötung nach § 222 verurteilt, weil sie einen Fahrfehler begangen haben, z.B. vor dem Unfall zu schnell gefahren sind. Im Prozess muss nachgewiesen werden, dass (im konkreten Fall) die Geschwindigkeitsüberschreitung (Mit)-Ursache des Unfalls war. Dass eine Geschwindigkeitsüberschreitung nicht zwangsläufig, also immer, zu Unfällen führt, lässt sich an den hunderttausenden von täglichen Geschwindigkeitsverstößen erkennen, die ohne Unfallfolge bleiben.

Natürlich hätte die Loveparade auch gut ausgehen können trotz der riskanten Planung/Genehmigung. Aber es ist eben nicht gut ausgegangen. Und strafrechtlich muss jetzt (nur) nachgewiesen werden, dass sorgfaltspflichtwidrige Beiträge der Angeklagten bei Planung und Genehmigung des Eingangsablaufs mitursächlich für das konkret eingetretene Unglück waren.  

Update (Ergänzung am 18.01.2018)

Mittlerweile haben Zeugenvernehmungen begonnen, zusammenfassende Berichte findet man in der Tagespresse, aber auch gut zusammengefasst auf dem Blog des WDR. Ich hielte es übrigens nicht für eine sinnvolle Verteidigungstaktik, sich auf Zeugen, die sich schlecht oder falsch erinnern bzw. ihren früheren schriftlich dokumnetierten Aussagen widersprechen, zu stürzen (sollte dies so geschehen sein wie im WDR-Blog geschildert). Warum? Die Geschehnisse am Tag der Loveparade, die Umstände, unter denen die Zeugen verletzt wurden bzw. unter denen sie die Verletzung oder Tötung von anderen Menschen beobachtet haben, stehen weitgehend bereits fest. Dass einzelne Zeugenaussagen Erinnerungslücken und Widersprüche aufweisen, ist typisch  für den Zeugenbeweis nach so vielen Jahren und unter den traumatisierenden Umständen, in denen die Wahrnehmung gemacht wurde. Unter diesen Umständen Zeugen "vorzuführen", bringt m.E. für die Verteidigung keine Vorteile. 
 

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Links zu früheren Beiträgen und Diskussioneen hier im Beck-Blog und weiteren wichtigen Informationen, die im Netz verfügbar sind:

Juli 2017: Loveparade 2010 - sieben Jahre später: Hauptverhandlung in Sichtweite (61 Kommentare, ca. 5100 Aufrufe)

April 2017: Loveparade 2010 – OLG Düsseldorf lässt Anklage zu. Hauptverhandlung nach sieben Jahren (105 Kommentare, ca. 7500 Aufrufe)

Juli 2016: Loveparade 2010 - nach sechs Jahren noch kein Hauptverfahren (76 Kommentare, ca. 9200 Abrufe)

April 2016: Loveparade Duisburg 2010 - Fahrlässigkeiten, 21 Tote, keine Hauptverhandlung? (252 Kommentare, ca. 115000 Abrufe)

Juli 2015: Fünf Jahre und kein Ende – die Strafverfolgung im Fall Loveparade 2010 (98 Kommentare, ca. 11000 Abrufe)

Februar 2015: Was wird aus dem Prozess? (72 Kommentare, ca. 8000 Aufrufe)

August 2014: Zweifel am Gutachten (50 Kommentare, ca. 9000 Abrufe)

Februar 2014: Anklageerhebung (50 Kommentare, ca. 16000 Abrufe)

Mai 2013: Gutachten aus England (130 Kommentare, ca. 16500 Abrufe)

Juli 2012: Ermittlungen dauern an (68 Kommentare, ca. 14000 Abrufe)

Dezember 2011: Kommt es 2012 zur Anklage? (169 Kommentare, ca. 30000 Abrufe)

Juli 2011: Ein Jahr danach, staatsanwaltliche Bewertung sickert durch (249 Kommentare, ca. 39000 Abrufe)

Mai 2011: Neue Erkenntnisse? (1100 Kommentare, ca. 37000 Abrufe)

Dezember 2010: Fünf Monate danach (537 Kommentare, ca. 26500 Abrufe)

September 2010: Im Internet weitgehend aufgeklärt (788 Kommentare, ca. 43000 Abrufe)

Juli 2010: Wie wurde die Katastrophe verursacht - ein Zwischenfazit (465 Kommentare, ca. 51000 Abrufe)

Ergänzend:

Link zur großen Dokumentationsseite im Netz:

Loveparade2010Doku

speziell: Illustrierter Zeitstrahl

Link zur Seite von Lothar Evers: DocuNews Loveparade Duisburg 2010

Link zur Prezi-Präsentation von Jolie van der Klis (engl.)

Weitere Links:

Große Anfrage der FDP-Fraktion im Landtag NRW

Kurzgutachten von Keith Still (engl. Original)

Kurzgutachten von Keith Still (deutsch übersetzt)

Analyse von Dirk Helbing und Pratik Mukerji (engl. Original)

Loveparade Selbsthilfe

Multiperspektiven-Video von Jolie / Juli 2012 (youtube)

Multiperspektiven-Video von Jolie / September 2014 (youtube)

Interview (Januar 2013) mit Julius Reiter, dem Rechtsanwalt, der eine ganze Reihe von Opfern vertritt.

Rechtswissenschaftlicher Aufsatz von Thomas Grosse-Wilde: Verloren im Dickicht von Kausalität und Erfolgszurechnung. Über "Alleinursachen", "Mitursachen", "Hinwegdenken", "Hinzudenken", "Risikorealisierungen" und "Unumkehrbarkeitszeitpunkte" im Love Parade-Verfahren, in: ZIS 2017, 638 - 661.

Der Anklagesatz

Blog von Thomas Feltes zur Hauptverhandlung

Blog des WDR zur Hauptverhandlung (Berichte über jeden Prozesstag)

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69 Kommentare

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Ich bin ausgesprochen unglücklich über die vordergründige und schnelllebige Berichterstattung in den Medien. Aber die gravierenden juristischen Probleme sind einem breiteren Publikum wohl auch nicht vermittelbar.

Wenn der Prozess -was vorhersehbar ist- durch Einstellung wegen Verjährung endet, wird die Enttäuschung bei vielen riesig sein (was die Nichteröffnung, wäre es bei ihr geblieben, verhindert hätte). Das Gericht muss sich überlegen, ob es die Zeit bis dahin für irgendetwas nutzen kann, was für die Angehörigen der Opfer befriedigend ist.

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Sehr geehrter Herr Schulze,

Sie schreiben:

Wenn der Prozess -was vorhersehbar ist- durch Einstellung wegen Verjährung endet, wird die Enttäuschung bei vielen riesig sein (was die Nichteröffnung, wäre es bei ihr geblieben, verhindert hätte). Das Gericht muss sich überlegen, ob es die Zeit bis dahin für irgendetwas nutzen kann, was für die Angehörigen der Opfer befriedigend ist.

Ich verstehe nicht, wieso Sie eine (rechtlich falsche) Nichteröffnung als Vermeidung der größeren Enttäuschung der Einstellung ansehen (und rechtfertigen?). Gerade die Nichteröffnung hat doch zu der Verzögerung geführt, die jetzt eine Verjährung befürchten lässt. Und natürlich hätte (und hat) die Nichteröffnung eine mindestens ebenso große Enttäuschung mit sich gebracht.

Zudem ist die Durchführung der Hauptverhandlung bis Sommer 2020 natürlich bei so einem großen Verfahren eine Herausforderung und erfordert auf Seiten des Gerichts größte Konzentration. Auch die Nebenkläger und ihre Vertreter müssen sich wohl disziplinieren, damit das Ziel - ein Urteil - bis zum Sommer 2020 doch noch erreicht werden kann.

Ich glaube aber nicht, dass die Einstellung wegen Verjährung, wenn sie denn trotz aller Bemühungen erfolgen muss, eine so große Enttäuschung bewirkt. Die Betroffenen sind in diesem Verfahren schon einiges gewöhnt und sind derzeit wohl leidlich zufrieden, dass es überhaupt zu einer Hauptverhandlung kommt. Die Gefahr der Verjährung ist sicher allen bewusst.

Besten Gruß

Henning Ernst müller

 

 

Henning Ernst Müller schrieb:

Auch die Nebenkläger und ihre Vertreter müssen sich wohl disziplinieren, damit das Ziel - ein Urteil - bis zum Sommer 2020 doch noch erreicht werden kann.

Die haben wenigstens ein Interesse daran, daß noch ein Urteil gesprochen wird, die Verteidigungen aber nicht, also ist deren Marschrichtung vollkommen klar und vom NSU-Prozeß ableitbar. Dafür braucht ich keine Glaskugel.

Und wenn Sie nun auf diesen Aspekt sich auch noch einlassen, dann stehen Sie doch klar im Widerspruch zu Ihrer Haltung beim NSU-Prozeß, oder wollen Sie nun jetzt etwa die Verteidigungen "disziplinieren"?

Und was die Presse immer auch da jetzt am Anfang - oder später - dazu schreibt, auch das wäre mir wieder nicht so wichtig gewesen.

GR

Sehr geehrter Herr Professor Müller,

wir haben leider zu viele Prozesse, die einen irrwitzigen Aufwand verursachen, und zwar in der Regel auf Steuerzahlers Kosten. Die Ressourcen der praktisch immer unterfinanzierten Justiz, die nichts kosten soll, aber alles können und Wunder bewirken soll, sind sehr begrenzt und werden immer begrenzter. Daran kommt die Justiz nicht vorbei. Ich vermag nicht zu erkennen, was an der Nichteröffnung falsch gewesen sein soll. Sinnvoll war sie auf jeden Fall. Und was nützt ein Prozess den Angehörigen? Justiz ist nichts, was zur Aufarbeitung von Vergangenheit, was zur Abarbeitung von Trauer dient. Das muss man den Menschen ganz klar sagen. Die Justiz ist weder Theater noch Kirche noch psychologische Betreuung.

Beste Grüße

Schulze

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Danke für den Hinweis. Ich habe  einige Angaben zu den Äußerlichkeiten des Prozesses oben in den Beitrag eingefügt.

Was sagt denn eigentlich die Rechtsprechung auch noch zur Länge von Schlußworten der Angeklagten, neben den Plädoyers der Verteidigungen, wieviele hundert Stunden sind da noch zulässig?

GR

Vielleicht kann man ja das heutige deutsche Rechtsstaatswesen durch Erfahrungen aus sog. demokratischen Vorbildern ergänzen oder "bereichern": die menschenfreundliche Untersuchung wie durch Rote Garden Chinas, die in der Rechtsfolge straffe Regelung der Pariser Revolutionsgerichte um 1794, und die breite Bürgerbeteiligung wie im Urbild der Demokratie, dem Ostrakismus in Athen. Näherungsweise haben wir das bereits mit der breiten Einbindung der sogenannten "Vierten Gewalt". Organisatorisch können dabei die elektrischen Vorteile der Jetztzeit fruchtbar geamcht werden. Warum denn nur eine Halle anmieten? Ins Stadion, jede Person der "interessierten Öfentlichkeit" bekommt einen elektrischen Stimmabgabeapparat ja/nein, ein "Journalist" stellt, vor allem formuliert  die Frage, Abstimmung der "interessierten Öffentlichkeit", und je nach Antwort bedient der Journalist das Knöpfchen der auf Rädern herbeigeholten Mobilguillotine.

Den Verteidigern und den Angeklagten mache ich auch gleich mal einen Vorschlag für das Plädoyer und / oder auch noch das Schlußwort, was ein Herr Daimagüler beim NSU-Prozeß als Vertreter der NK darf, das wird man Ihnen ja wohl auch nicht verwehren können.

Die Gesellschaft, den Staat und die Justiz und natürlich auch die Ermittlungsbehörden nun ebenfalls politisch anzugreifen mit Vorträgen bspw. zu: "Institutioneller Nihilismus" bei ihnen, aufbauend auf den neuen Beweisen zum  Behördenversagen, besonders in Berlin, beim Fall des Anis Amri (siehe https://www.zdf.de/politik/frontal-21/die-akte-anis-amri-vom-5-dezember-...) und aufbauend auf dem Buch des Vorsitzenden des Deutschen Richterbunds Jens Gnisa "Das Ende der Gerechtigkeit" (siehe https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/jens-gnisa-buch-ende-der-gerech...).

Hunderte an Stunden kann man da dann doch leicht jeweils vortragen, kein Problem, und zweierlei Maß bei den Prozessen in München oder Düsseldorf darf dann ja wohl auch nicht gelten. Ein Urteil ist dann voraussichtlich in Düsseldorf nur noch möglich beim  sog. "Jüngsten Gericht".

Gewußt wie, wie halt immer im Leben.

Mit Gruß an den Moderator beider Threads

GR

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Hunderte an Stunden kann man da dann doch leicht jeweils vortragen, kein Problem, und zweierlei Maß bei den Prozessen in München oder Düsseldorf darf dann ja wohl auch nicht gelten.

Zwar keine "Hunderte an Stunden", aber immerhin am längsten hat nach meiner Kenntnis in München bisher die Bundesanwaltschaft plädiert. Und das soll nach meiner Kenntnis durchaus konzentriert, detailliert und zielgerichtet geschehen sein. Bisher sind Sie wohl der Erste, der den Bundesanwälten in München in der Sache Prozessverschleppung vorwirft, und das wirklich völlig zu Unrecht. Besser und sachgerechter, als es die Bundesanwaltschaft in München über mehrere Tage hinweg plädiert hat, konnte man das wohl gar nicht machen.

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Gast schrieb:

Bisher sind Sie wohl der Erste, der den Bundesanwälten in München in der Sache Prozessverschleppung vorwirft, und das wirklich völlig zu Unrecht.

Sie verdrehen da doch meinen Kommentar, denn nirgends habe ich die Länge der Plädoyers der Bundesanwaltschaft bemängelt!

Außerdem kommt bei Mord eine Verjährung nicht vor!

Sie müssen nur lesen, was jemand wie ich über viele Kommentare bisher schreibt und logisch denken, und nicht Ihren eigenen Unfug hineininterpretieren!

Besser und sachgerechter, als es die Bundesanwaltschaft in München über mehrere Tage hinweg plädiert hat, konnte man das wohl gar nicht machen.

Zustimmung!

GR

Sehr geehrter Herr Rudolphi bzw. "GR",

es geht keineswegs um "Hunderte von Stunden", sondern  (im NSU-Prozess) um erstens ein Schlusswort der Nebenklage, das die Verteidigung inhaltlich kritisierte (und eben nicht der Länge wegen) und dass durch mehrfache Unterbrechungen erheblich verzögert wurde, und zweitens steht die Antwort auf Ihre Frage in meinem dortigen Beitrag: Die Grenze ist der Rechtsmissbrauch, der bei "Hunderten von Stunden" abseits des Prozessgegenstands wohl erreicht sein dürfte.

Mit freundlichen Grüßen

Henning Ernst Müller

 

Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Müller, Sie können also eine Grenze nicht angeben und darauf kam es mir nämlich an.

Was in einem konkreten Fall dann "wohl erreicht sein dürfte", das wäre doch dann Gegenstand weiterer Rechtsstreitigkeiten und das Zeitfenster bis zu einem Urteil in Düsseldorf könnte dann doch logischer Weise überschritten werden.

MfG

GR

Henning Ernst Müller schrieb:

..... sondern  (im NSU-Prozess) um erstens ein Schlusswort der Nebenklage, das die Verteidigung inhaltlich kritisierte (und eben nicht der Länge wegen) und dass durch mehrfache Unterbrechungen zu erheblich verzögert wurde .....

Mit freundlichen Grüßen

Henning Ernst Müller

 

Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Müller,

damit hätte die NK, vertreten durch Herrn Daimagüler, doch allen Verteidigungen, auch denen der anderen Angeklagten noch neben Frau Zschäpe, die naturgemäß doch alle kein Interesse an Verurteilungen haben, in die Hände gespielt.

Ich würde das als Eigentor bezeichnen, denn auch die Nebenkläger selber als Hinterbliebene wollen doch vermutlich mal ein Ende dieses Prozesses noch erleben.

Politische Theorievorträge zur eigenen Profilierung eines RA aber helfen da m.E. nicht wirklich dabei.

MfG

GR

"Besetzungsrügen müssen gleich am ersten Tag, ebenso müssen bestimmte Ablehnungsgründe von der Verteidigung sofort geltend gemacht werden.".

Beide Aussagen vermag ich nicht nachzuvollziehen. "Sofort" - wo findet sich das? Wenn überhaupt, kann es um Unverzüglichkeit gehen, § 25 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO, die Norm ist hier aber nicht einschlägig.

Besetzungsrügen müssen bis zur Einlassung des ersten Angeklagten zur Sache vorgebracht werden, § 222b Abs.1 Satz 1 StPO. Wenn für den ersten Tag nur die Verlesung der Anklage geplant ist, kann man sich das einfach anhören, es sei denn, es geht um Krawall und prozessrechtswidriges Geschrei, das die Verlesung der Anklage verhindern soll. 

Für Ablehnungen stellt § 25 Abs. 1 Satz 1 StPO auf denselben Zeitpunkt ab.

Es gibt in der ganzen StPO keine Norm, die erlaubt oder gar verlangt, dass Verteidiger die Verlesung der Anklage am ersten Prozesstag verhindern müssen, um ihre prozessualen Rechte -bzw die der Angeklagten- zu wahren. Zumindest scheint das ganze hier ja nicht gelungen.

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Sie haben Recht, es gibt keine Norm, die verlangt, dass die Verteidigung die Verlesung der Anklageschrift durch Stellung von Anträgen verhindern müsste (habe ich auch nicht behauptet). Im Übrigen ist es aber durchaus angezeigt, Einwände gegen die Besetzung, die spätestens bis zum in § 222b Abs.1 S.1 StPO genannten Präklusionszeitpunkt vorgebracht werden müssen, zu Beginn der Hauptverhandlung, also auch vor diesem Spätestens-Zeitpunkt zu stellen. Dazu muss es auch Gelegenheit geben. Daher hat sich die (von anderen) so empfundene "Antragsflut" zu Beginn von Großverfahren eingebürgert. Es ist dann Sache des Gerichts, dies zu steuern. Was ja auch geschehen ist.

"Im Übrigen ist es aber durchaus angezeigt, Einwände gegen die Besetzung, die spätestens bis zum in § 222b Abs.1 S.1 StPO genannten Präklusionszeitpunkt vorgebracht werden müssen, zu Beginn der Hauptverhandlung, also auch vor diesem Spätestens-Zeitpunkt zu stellen. Dazu muss es auch Gelegenheit geben."

Aus welcher Norm der StPO, des GVG oder sonstwo ergibt sich dieser von Ihnen aufgestellte Rechtssatz? Ich halte das schlicht für falsch. Realität ist doch, dass Verteidiger regelmäßig versuchen -und nach Medienberichten so auch im Loveparade-Verfahren- die Verlesung der Anklage mit dieser von Ihnen hier nochmals aufgestellten Behauptung zu sabotieren. Und zwar oft um des Sabotierens willen. Gefasst wird das dann meist unter "Lufthoheit im Saal" oder ähnliche markige Sprüche. Und eben dieses Recht der Verteidigung gibt es nicht. 

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Sehr geehrter Jens,

wie Sie aus meinen übrigen Beiträgen entnehmen können, stehe ich (im Fall Loveparade) inhaltlich eher auf der Seite der Anklage/Nebenklage und habe Argumente der Verteidigung stets sehr kritisch kommentiert. Dennoch: "Sabotieren um des Sabotierens Willen"  kann ich hier nicht erkennen. Die Besetzungsrügen waren durchaus nicht völlig aus der Luft gegriffen und die Frage der Verlesung der "richtigen" Anklage ist ebenfalls nicht völlig von der Hand zu weisen. Inwiefern ein Antrag, der zu Beginn der Hauptverhandlung zu stellen ist (§ 222 b StPO), dann ein "Sabotieren" (gängiger ist der Begriff des Rechtsmissbrauchs)  darstellen soll, wenn er eben noch einen Verhandlungstag früher gestellt wird, ist mir ebenfalls nicht nachvollziehbar. Offenbar ist es doch Anliegen der Prozessordnung, dass solche Anträge, die die Besetzung betreffen möglichst früh gestellt werden. Und im Rahmen der Prozessordnung darf die Verteidigung durchaus taktieren, ohne sich gleich dem Vorwurf der Sabotage ausgesetzt zu sehen. Die bisherigen Verzögerungen des Loveparade-Verfahrens sind meines Wissen nicht maßgeblich durch Aktionen der Verteidigung entstanden.

Soweit Sie behaupten, Verteidiger versuchten sogar regelmäßig die Verlesung der Anklageschrift zu sabotieren, kann ich dem nur widersprechen. Ich glaube, dafür gibt es (betrachtet man alle Verfahren mit verteidigten Angeklagten) keinerlei Anhaltspunkte.

Besten Gruß

Henning Ernst Müller

 

Sehr geehrter Herr Prof. Müller,

vorweggeschickt: Dass Sie sich die Zeit nehmen, im Blog regelmäßig zu antworten, finde ich sehr beachtenswert. Von vernünftiger Auseinandersetzung lebt die Debatte, es erstaunt mich, wie langmütig Sie dies tun. Dafür meine Anerkennung.

In der Sache: Ja, da habe ich mich schief ausgedrückt. Gemeint war nicht, dass in hunderten von Verfahren in deutschen Gerichtssälen täglich versucht wird, die Anklageverlesung zu verhindern. Von mir gemeint war, dass in Fällen, in denen versucht wird, zu sabotieren, sich die Verteidiger, die die "Lufthoheit" erringen wollen (der Ausdruck ist auf einschlägigen Lehrgängen, auf denen der effektive Krawall eingeübt wird, ja gebräuchlich) sich die Verteidiger stets hinter dem "ich muss sofort"-Argument verstecken. Und das ist schlicht falsch und durch nichts gerechtgertigt.

Am LG Duisburg waren wir offenbar beide nicht dabei, in der SZ heißt es:

"Ein anderer Verteidiger stellt einen Befangenheitsantrag gegen zwei Ergänzungsschöffen, deren Töchter die Loveparade besucht, aber bereits vor der Katastrophe wieder verlassen hatten. Der Verteidiger fürchtet wie auch einige seiner Kollegen vor ihm, dass die beiden womöglich nicht zwischen ihrer schützenden Vaterrolle und der neutralen Richterrolle unterscheiden können. Ein Nebenkläger unterstellt der Verteidigung eine Verzögerungstaktik. Auch der Vorsitzende Richter will nun endlich die Anklage verlesen lassen, da kündigen weitere Verteidiger eine Besetzungsrüge gegen das Gericht an. "Es kann nicht sein, dass wir hier mit einem Gericht sitzen, dass möglicherweise fehlerhaft besetzt ist", sagt einer der Anwälte. Die Verhandlung wird daraufhin erneut unterbrochen."

Beste Grüße

Jens

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Sehr geehrter Jens,

hier noch der Bericht von Frank Bräutigam (Prozessbeobachter für die Tagesschau). Darin heißt es:

"In einem so großen Prozess folgt nach den Formalia selten sofort die Verlesung der Anklage. Meistens hat die Verteidigung verschiedene Anträge zum Verfahren vorbereitet. Das ist ihr gutes Recht. Als ein Anwalt der Nebenklage von "Rechtsmissbrauch" spricht, ist die Stimmung kurzzeitig angespannt. Die Frage nach den Anträgen ist dann stets: Wird der Prozess unterbrochen, ohne dass am ersten Tag die Anklage verlesen wird? Erkennbar ist heute: Der Vorsitzende Richter drückt durchaus aufs Tempo. Einen Befangenheitsantrag gegen zwei Ersatzschöffen lässt er zwar verlesen. Aber: die Entscheidung darüber stellt er zurück. Für einen weiteren Antrag erteilt er das Wort erst gar nicht. Der könne laut Gesetz ja noch später gestellt werden, nach der Anklage. Vorrang habe zunächst das "Informationsinteresse der Öffentlichkeit und der Schöffen"."

Klingt für mich nicht nach Sabotageversuch, überhaupt nicht.

Beste Grüße

Henning Ernst Müller

Lassen Sie uns alle hoffen, dass die folgende Ermahnung Gehör findet:

"Auch die Nebenkläger und ihre Vertreter müssen sich wohl disziplinieren, damit das Ziel - ein Urteil - bis zum Sommer 2020 doch noch erreicht werden kann."

In diesem Prozess wird die Nebenklage ihrer Sache m. E. am besten gerecht, wenn sie über das Verfahren wacht, aber still wacht. Das wird zwar den beteiligten Kollegen und Kolleginnen die Gelegenheit nehmen, im Gerichtssaal Aufmerksamkeit zu erzeugen, aber dafür eine Verurteilung vor Verjährungseintritt wahrscheinlicher machen. Gegenüber Medien und Betroffenen mag man sich alle Zeit der Welt nehmen. Aber im Gerichtssaal dürfte jedes Wort der Nebenklage letztlich den Angeklagten dienen.

Würde der Prozess wegen Verjährung ohne Urteil, ohne Aussage über Schuld und Unschuld, ohne Schuld- oder Freispruch enden, wäre das m. E. schlecht für den Rechtsstaat. Denn es würde den Eindruck erzeugen, er sei mit sich selbst überfordert - oder unsere Behörden und Gerichte mit der Umsetzung des Rechts. Und wenn der Staat sein Recht nicht durchsetzt, suchen mindestens einige sich Gerechtigkeit auf anderem Wege.

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Ich habe es an anderer Stelle schon mal gesagt, und ich sage es hier gerne nochmal (wohlgemerkt, Stand erster Hauptverhandlungstag):

Hier wird so viel über Konfliktverteidigung und Missbrauch gesprochen. Interessant könnte hier aber mal die andere Seite werden. Nach § 78b Abs. 3 StGB bringt jedes erstinstanzliche Urteil die Verjährung zum Ruhen, und zwar quasi für immer bis zum rechtskräftigen Abschluss. Dafür reicht eines, über dem "Im Namen des Volkes" steht und welches eine Entscheidung ausspricht. Ich wüßte, was ich als Gericht kurz vor dem Eintritt der Verjährung tun würde...

Vielleicht überrascht uns das LG Duisburg ja in 2020?

Wie  darf man die Erwägung verstehen? Rechtsbeugung durch Entscheidung in sachlich nicht entscheidungsreifer Lage?

Ich rede nicht von Rechtsmißbrauch. Wann Entscheidungsreife eingetreten ist, entscheidet das Gericht. Und bei der Entscheidung, welche Beweisanträge man nur noch im Urteil abhandelt, herrscht Ermessen. 

Und schon rein optisch wäre es nicht per se ermessensfehlerhaft, nach 3 Jahren Beweisaufnahme Entscheidungsreife zu erreichen, auch wenn das Verfahren aufwändig ist.

Interessanter Ansatz!

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Sie schreiben:

"Interessant könnte hier aber mal die andere Seite werden. Nach § 78b Abs. 3 StGB bringt jedes erstinstanzliche Urteil die Verjährung zum Ruhen, und zwar quasi für immer bis zum rechtskräftigen Abschluss. Dafür reicht eines, über dem "Im Namen des Volkes" steht und welches eine Entscheidung ausspricht. Ich wüßte, was ich als Gericht kurz vor dem Eintritt der Verjährung tun würde..."

Ich auch

Während alles, was Sie sonst gerne in die Nähe von Rechtsbeugung rücken, wahrlich nicht annähernd auch nur einen Hauch damit zu tun hat, gäbe ein Urteil, das nur zum Austricksen der gesetzlichen Regelungen gedacht ist, tatsächlich mal Anlass zum Nachdenken, ob das Rechtsbeugung sein könnte (wobei ich dazu noch keine Meinung habe).

Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, dass das Gericht sich zu so etwas hinreißen lässt. Der Zeitablauf ist halt so wie er ist. Die Nichteröffnung war der richtige Weg, der falsche Weg führt voraussichtlich zum im Effekt gleichen Ergebnis, nur mit viel größerem Aufwand und vermutlich viel größeren Enttäuschungen.

 

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Wie kann denn wirklich und auch gemäß der StPO wirksam verhindert werden, sehr geehrte Damen und Herren aus der Justiz, wenn in den letzten Verhandlungstagen von Verteidigern in ihren Plädoyers, oder dann von Angeklagten in ihren letzten Worten nur noch auf Zeit gespielt wird, um das Schlußdatum der absoluten Verjährung gewollt zu überschreiten?

Ein ausgebuffter Schachspieler macht das dann m.E. auch erst so spät, daß er das Überraschungsmoment noch voll auf seiner Seite hätte und die Gegenseite damit auf dem "falschen Bein" überrascht, worauf sie dann nur noch "in die Röhre guckt" wg. Zeitüberschreitung.

So jedenfalls würde ich das machen, aber ich bin eben kein Jurist.

Beste Grüße aber an diese

GR

Sehr geehrter Herr Rudolphi,

Ihr Szenario ist nicht wirklichkeitsnah. Aber wenn es so kommen sollte (also Schlussvorträge, die absichtlich in die Länge gezogen werden, um den Verjährungszeitpunkt zu erreichen bzw. zu überschreiten) , dann hat das Gericht die Möglichkeit, einen Schlussvortrag wegen Rechtsmissbrauchs abzubrechen und das Urteil zu sprechen. Ob das Gericht den Schlussvortrag rechtsfehlerhaft abgebrochen hat, ist in der Revision zu klären.

Mit bestem Gruß

Henning Ernst Müller

Sehr geehrter Herr Professor Müller,

"einen Schlussvortrag wegen Rechtsmissbrauchs abzubrechen", dazu müsste wohl ein Anlass bestehen, der dies begründen könnte. Allein der Umstand, dass der Schlussvortrag Zeit kostet, dürfte da wohl kaum reichen. Allenfalls dann, wenn es ins Filibustern übergeht, käme es wohl in Betracht.

Beste Grüße

Schulze

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Sehr geehrter Herr Schulze,

genau das habe ich doch (in anderen Worten) geschrieben:

"Schlussvorträge, die absichtlich in die Länge gezogen werden, um den Verjährungszeitpunkt zu erreichen bzw. zu überschreiten".  Und wann dies vorliegt, darüber hat in der Hauptverhandlung zunächst das Tatgericht die Definitionshoheit, nicht die Verteidigung. Und dies ist eben die Antwort an Herrn Rudolphi, der wohl meinte, der Rechtsstaat könne gar nicht verhindern, dass die Anwälte den Verjährungszeitpunkt "überraschend" ausnutzen.

Besten Gruß

Henning Ernst Müller

Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Müller,

genau so sollte mein Szenario auch sein, "nicht wirklichkeitsnah", und damit auch überraschend! Der Eklat und die Revision sind damit ja garantiert, evtl. kämen einige Angeklagte samt Verteidigern sogar nicht mehr zu ihren eigenen Ausführungen und Schlußworten, wenn das Gericht sich so viel Zeit läßt wie in München, auch eine vorherige Absprache auf Seiten der Angeklagten dazu hielte ich für möglich.

Und einen dann folgenden Presserummel mit weiteren, auch grundsätzlichen Debatten (siehe zum "institutionellem Rassismus" nach eigenen "Definitionen") danach lieben auch m.E. einige Protagonisten, nicht nur solche aus der Justiz oder Politik, was sich auch oft noch dabei überdeckt, wie in München.

Mit bestem Gruß

Günter Rudolphi

Nur ungern verweise ich aber noch auf Honorare, die solange anfallen, solange es Verhandlungs-Termine (in München) gibt, aber auszuschließen sind ja auch noch pekuniäre Erwägungen niemals, dazu war ich zu oft in Gerichtssälen.

Und gerade von RAs kenne ich doch die Frage: "Können Sie es ausschließen ....."

"Nein", wäre da meine Antwort.

Schlage vor, das Problem auch im Strafverfahren mit der Hemmung der Verjährung für die Dauer einer Hauptverhandlung zu lösen.

Im Zivilrecht gibt es dies ja auch.

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Wie ist eigentlich zu verfahren, wenn die Verjährung eintritt?

Darf das Gericht dann nur noch (ggf. auf Antrag der Verteidigung) den Prozess abbrechen?

Dürfte es ein Urteil schreiben, in dem sinngemäß drinsteht: "Nach Überzeugung des Gerichts haben die Angeklagten die Tat begangen, weil ... . Eine Verurteilung kommt aber wegen Verjährung nicht in Betracht."

Wäre gegen so ein Urteil dann ein Rechtsmittel der Angeklagten zulässig (denn es enthält ja keine Verurteilung, die angegriffen werden kann)?

§ 260 Abs. 3 iVm.§ 206a StPO: Einstellung des Verfahrens bei Verfahrenshindernis

Das Verfahren ist durch Urteil zu beenden. Das Urteil muss mindestens die verjährungsbegründenden Umstände schildern (BGHSt 56, 6, 8 f.). Es ist mit den normalen Rechtsmitteln anfechtbar (Berufung, Revision). Denkbar sind Konstellationen, in denen auch der Angeklagte durch das Einstellungsurteil beschwert ist, weil ein Freispruch vorrangig wäre (vgl. KK-StPO/Ott StPO § 260 Rn. 51).

Auch wenn ich von den Verteidigern bislang nicht sooo viel halte, mit dem Einwand zur Besetzung der Anklagebank haben sie wohl durchaus recht. Hilft nur nichts. Denn die Konsequenz des Satzes "es gibt keine Gleichbehandlung im Unrecht" ist zwar für den Einzelnen seit jeher schwer verdaulich, aber nun mal einer der großen Grundsätze des Rechtsstaates.

Sehr geehrter cage_and_fish,

Sie haben völlig Recht, dass die Verteidiger hier einen wichtigen/richtigen Punkt benennen: Polizei und Feuerwehr waren nicht erst am Tag der Loveparade aktiv, sondern sie waren in den Planungsprozess frühzeitig einbezogen. Das ist auch so vorgesehen, denn schließlich ist das "Einvernehmen" dieser Behörden mit dem Sicherheitskonzept erforderlich. Gut ist, dass dieser Blog nichts vergisst (allerdings ist das Auffinden schwierig, ich werde den Link also nachholen): Soweit ich mich erinnere war nämlich diese Frage des "Einvernehmens" schon vor einigen Jahren in unserer Blog-Diskussion ein Thema. Ein Diskussionsteilnehmer, der sich als Polizeibeamter ausgab (und offenbar auch einen höheren polizeilichen Hintergrund hatte) hat sich hier in die Bresche geworfen, es habe nie ein Einvernehmen gegeben, die Loveparade sei also (wie auch in einer frühen staatsanwaltlichen Stellungnahme geäußert) von Anfang an rechtswidrig genehmigt/durchgeführt worden. Ich habe dem widersprochen, da ein solches Einvernehmen - nach meiner auch von öffentlich-rechtlichen Kollegen gestützten Auffassung eben keine schriftliche Erklärung verlangt. Es genügt vielmehr, wenn Vertreter dieser Behörden in den Planungsprozess einbezogen werden und am Ende keine Einwände mehr erheben. Und genau so war es hier: Polizei und Feuerwehr haben Einvernehmen signalisiert.

Entscheidende Frage JETZT ist allerdings, ob und inwieweit diese Angelegenheit bzw. dieser Einwand den verteidigten Mandanten nützt. Es ist klar, dass nur die eigenen Pflichtverstöße der Angeklagten zu beurteilen sind und diese sich nicht darauf berufen können, dass auch andere gegen Pflichten verstoßen haben. Wenn der Genehmigungsprozess mehrere Verantwortlichkeiten vorsieht, dient dies ja nicht dazu, dass sich hinterher alle immer auf Pflichtverstöße der anderen herausreden können.

Es kommt also darauf an, ob die Baubehörde der Stadt Duisburg eine eigene Prüfungspflicht auch hinsichtlich der Ein- und Ausgangsbedingungen / Sicherheit hatte oder ob es nur darauf ankam, ein Einvernehmen der Polizei/Feuerwehr festzustellen.

Beste Grüße

Henning Ernst Müller

 

Ich kann mich an die lebhafte Diskussion noch gut erinnern. Und ich fand es bemerkenswert, dass in der hiesigen Diskussion nahezu alle Beteiligten mit Fachverstand die Verantwortlichkeiten anders (nämlich viel breiter) verteilt haben als die Staatsanwaltschaft, die es hingenommen hat, dass die Vorwürfe gegen einzelne Beteiligte verjährt sind, bevor überhaupt eine Anklage fertig war.

Und ich habe auch den Aufsatz von Thomas Grosse-Wilde mit Bewunderung ob seiner Klarheit gelesen. Den kann die Kammer als rechtliche Würdigung im Urteil quasi abschreiben.

Aber für die Beurteilung der Prüfungspflicht der Baubehörde der Stadt Duisburg bin ich vielleicht schon zu lange in Strafsachen unterwegs, um das Problem zu verstehen. Mir würde es ausreichen festzustellen, dass die Durchführung der Veranstaltung von der Genehmigung durch die Baubehörde abhing, und die angeklagten Mitarbeiter das auch erkannt haben. Ob dahinein auch Prüfungspflichten fielen, für die die Mitarbeiter eigentlich nicht qualifiziert waren, wäre mir für die Zurechnung egal. Wenn die Angeklagten sich nicht für qualifiziert genug hielten, hätten sie eben nicht genehmigen dürfen oder externe Unterstützung beschaffen müssen.

Als Verteidigungsstrategie wäre mir das "die anderen haben auch Fehler gemacht" jedenfalls viel zu dünn...

Ich zitiere mal meinen Beitrag vom 12. Juli 2011 zu dieser Frage; damals war eine staatsanwaltliche erste Bewertung vom Januar 2011 bekannt geworden:

"Der staatsanwaltliche Vermerk von Januar bietet in der Gesamtschau für diejenigen, die sich seit Ende Juli 2010 mit der Thematik beschäftigen, wenig Überraschendes. Diejenigen Ursachenzusammenhänge, die die Staatsanwaltschaft nach ihren sehr aufwändigen Ermittlungen für relevant hält, wurden auch hier (und auf anderen Internet-Plattformen) schon  identifiziert: Die schon von der Kapazität her unzureichende, deshalb gefährliche Planung der Ein- und Ausgangssituation im Sicherheitskonzept des Veranstalters, die Nichteinhaltung von Auflagen der Genehmigung (fehlende Lautsprecher, Barrierefreiheit der Rampe, fehlende Ordner), die unzureichende, ja in Teilen chaotische Reaktionsweise am Veranstaltungstag. (...)
Dennoch sind einige Abweichungen in der tatsächlichen und rechtlichen Bewertung schon bemerkenswert. Und diese können hier auch unter Beachtung der oben genannten Einschränkungen diskutiert werden:

Z. B. zur Frage der formellen Rechtswidrigkeit der Genehmigung – speziell, ob ein Einvernehmen mit den Sicherheitsbehörden, v.a. der Polizei, hergestellt wurde

Z. B. zur Frage der materiellen Rechtswidrigkeit der Genehmigung – speziell, ob die untere Baubehörde das Sicherheitskonzept eigenständig hätte prüfen müssen und ob diese Prüfung fehlerhaft erfolgte bzw. rechtswidrig unterblieb.

(...).

Und meinen Kommentar vom nächsten Tag (13. Juli 2011):

"Die rechtliche Bewertung der Staatsanwaltschaft ist in diesem Punkt (Rechtmäßigkeit der Genehmigung)  - wenig überraschend  glatt entgegengesetzt zu derjenigen, die die von der Stadt Duisburg beauftragten Anwälte in ihrem Abschlussbericht zur Rechtslage darlegten.

Ganz knapp gesagt:

Das Gutachten der RAe Dr. Jasper/Bersterman kommt zu dem Ergebnis, es sei im Verlauf der Planungen und Vorbereitungen zur LoPA 2010 Einvernehmen mit den in § 43 SBauVO NRW vorgesehenen Behörden mit dem Sicherheitskonzept hergestellt worden. Eine eigene Prüfpflicht der Baubehörde betr. das Sicherheitskonzept habe darüber hinaus nicht bestanden. Deshalb sei die Genehmigung rechtmäßig ergangen.  (Abschlussbericht Rechtslage, S. 37 ff.).

Die Staatsanwaltschaft kommt in beiden Punkten zum gegenteiligen Ergebnis: Das Einvernehmen (insb. mit der Polizei) habe gefehlt. Außerdem habe die Baubehörde entgegen ihrer eigenständigen Prüfungspflicht die Genehmigung sorgfaltspflichtwidrig materiell rechtswidrig erteilt. Die Baugenehmigung sei also formell und materiell rechtswidrig.Ehrlich gesagt stehe ich beiden Bewertungen (der von den RAen und derjenigen der StA) mit etwas Skepsis gegenüber."

In einem weiteren Kommentar vom selben Tag habe ich meine Skepsis konkretisiert:

"An der rechtsanwaltlichen Einschätzung macht mich skeptisch, dass von vornherein keine Verpflichtung bestehen soll, das Sicherheitskonzept baubehördlich zu prüfen. An der staatsanwaltlichen macht mich skeptisch, dass schon die formelle Voraussetzung "Einvernehmen" abgelehnt wird, da dieses hier in der SBauVO NRW ganz andere Funktionen hat als in § 36 BauGB. Zudem beurteilt die StA nicht die Fahrlässigkeit der Behördenmitarbeiter gerade hinsichtlich dieser (angeblich fehlenden) Voraussetzung."

Es überrascht wenig, dass diese rechtlichen Fragen nun auch in der Hauptverhandlung akut werden. Wenn nämlich die Baubehörde (so wie die Rechtsanwälte der Stadt Duisburg in ihrem oben genannten Gutachten annehmen) gar keine eigene inhaltliche Prüfpflicht hatten, sondern nur das Einvernehmen von Polizei/Feuerwehr einholen mussten, dann fehlt es ja an der Grundlage für eine Sorgfaltspflichtverletzung, die wiederum Grundlage einer strafbaren Fahrlässigkeit gewesen sein könnte. Das ist alles andere als eine "dünne" Verteidigungsstrategie, sondern eine durchaus tragfähige, wenn man dieser Auffassung, die von mir allerdings nicht geteilt wird, folgt. Es ist namentlich zu berücksichtigen, dass das vorgelegte Konzept keineswegs so kompliziert war, dass man als Nichtfachmensch nicht dessen Unzulänglichkeit hätte erkennen können, etwa den Widerspruch zwischen der (angenommenen) Besucherzahl und dem maximalen "Durchfluss" des Tunnels in beiden Richtungen.

Zudem ist zu berücksichtigen, dass die (von der Polizei deutlich so gesehene) Aufteilung in Verantwortlichkeit für den Weg BIS zu den Vereinzelungsanlagen und Verantwortlichkeit für das Gelände HINTER diesen Anlagen  möglicherweise der erste Schritt zur gefährlichen Verantwortungsdiffusion war, die m.E. die Baubehörde hätte verhindern müssen bzw. dazu hätte führen müssen, dass die Baubehörde sich die Sicherheit HINTER den Vereinzelungsanlagen (Tunnel/Rampe) zur eigenen Angelegenheit hätte machen müssen. Die Polizei vertrat jedenfalls möglicherweise die Auffassung, sie sei für die Sicherheit der geschlossenen Veranstaltung ab Eingang zum Tunnel nicht zuständig. Das würde der Verteidigungsstrategie der Angeklagten i.S.v. "die Polizei hat doch zugestimmt, mehr konnten und mussten wir nicht prüfen" zuwider laufen (Vgl. Diskussion im Anschluss an meine oben zitierten Beiträge).

 

 

Auf dem Lothar Evers Blog gibt es ja den lesenswerten Aufsatz eines Meisters für Veranstaltungstechnik. Der Titel: "Loveparade - eine illegale Veranstaltung". Der schreibt dort recht deutlich, dass die Baubehörde klarerweise zuständig ist und es auch regelmässig mit Veranstaltungsarealen zu tun hat. Demzufolge war die Loveparade sicher ein grosses Ereignis, aber keines, dass etwas völlig anderes gewesen wäre als etwa ein Bundesligaspiel.

http://docunews.org/loveparade/analyse/loveparade-eine-illegale-veransta...

Vor allem der Abschnitt "Prüfung des Bauantrages sowie Bauabnahme" schein mir relevant.

 
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Inzwischen sind ja die Eröffnungsstatements der Verteidigung gehalten worden.
Für die MitarbeiterInnen der Bauverwaltung wird dargelegt, man habe ja lediglich eine Nutzungsänderung genehmigt, keineswegs eine Erlaubnis für die Veranstaltung erteilt. Mit der inhaltlichen Prüfung von Sicherheitskonzepten seien die "Ingenieure und Achitekten" überfordert gewesen.
Wichtig noch zu erwähnen, das alle Angeklagten sich vorläufig nicht zur Sache äußern wollen.

Mittlerweile haben Zeugenvernehmungen begonnen, zusammenfassende Berichte findet man in der Tagespresse, aber auch gut auf dem Blog des WDR.

Ich hielte es übrigens nicht für eine sinnvolle Verteidigungstaktik, sich auf Zeugen, die sich schlecht oder falsch erinnern bzw. ihren früheren schriftlich dokumentierten Aussagen widersprechen, "zu stürzen" (sollte dies so geschehen sein wie im WDR-Blog geschildert). Warum? Die Geschehnisse am Tag der Loveparade, die Umstände, unter denen die Zeugen verletzt wurden bzw. unter denen sie die Verletzung oder Tötung von anderen Menschen beobachtet haben, stehen weitgehend fest und können auch gar nicht insgesamt bestritten werden. Dass einzelne Zeugenaussagen Erinnerungslücken und Widersprüche aufweisen, ist typisch  für den Zeugenbeweis nach so vielen Jahren und unter den traumatisierenden Umständen, in denen die Wahrnehmung gemacht wurde. Unter diesen Umständen Zeugen "vorzuführen", bringt m.E. der Verteidigung keine Vorteile. 

Dass einzelne Zeugenaussagen Erinnerungslücken und Widersprüche aufweisen,
ist typisch für den Zeugenbeweis nach so vielen Jahren und unter den
traumatisierenden Umständen, in denen die Wahrnehmung gemacht wurde.

Das ist ein Satz, den Sie in nahezu jedem guten Strafurteil wiederfinden, wenn um Zeugenaussagen geht. Mit den vermeintichen Widersprüchen können die Verteidiger höchstens noch Ihre Mandanten und die Presse beeindrucken, aber das auch nur kurzzeitig. Keinesfalls aber das Gericht. Ich habe diese Strategien noch nie verstanden.

Henning Ernst Müller schrieb:

Die Geschehnisse am Tag der Loveparade, die Umstände, unter denen die Zeugen verletzt wurden bzw. unter denen sie die Verletzung oder Tötung von anderen Menschen beobachtet haben, stehen weitgehend fest und können auch gar nicht insgesamt bestritten werden. Dass einzelne Zeugenaussagen Erinnerungslücken und Widersprüche aufweisen, ist typisch  für den Zeugenbeweis nach so vielen Jahren und unter den traumatisierenden Umständen, in denen die Wahrnehmung gemacht wurde.

Nach meiner Meinung ist es nicht unbedingt eine "Vorführung".
Insbesonder bei nebenklägrInnen die sich erst kurz vor der Hauptverhandlung zur Nebenklage entschieden haben hinterfragen einige Verteidiger die Motive dazu und zweifeln an den Wahrnehmungen.

Mein persönlicher Eindruck:
je disperater und unerklärlicher die Ereignisse auf die Geschädigten einprasselten, um so stärker die Traumatisierung und heute die Lücken in der Erinnerung.
Die klarsten Zeugen sind die, die früh erkannten:
hier geschieht (mir) unrecht.
Sie dokumentierten die Katastrophe per Video. Setzten sich, unmittelbar nachdem sie in Sicherheit waren, in Kleingruppen zusammen und fertigten Gedächtnisprotokolle. Damit erstatteten sie kurz danach Anzeige.

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