Ertrotzte Kontinuität
Gespeichert von Hans-Otto Burschel am
Die 2003 geborene Tochter der Eheleute wurde hauptsächlich vom Vater betreut. Am 22. Oktober 2007 verließ die Mutter mit dem Kind ohne Wissen und Zustimmung des Vaters die eheliche Wohnung und verzog zu ihrer Mutter.
Mit einer einstweiligen Anordnung vom 27. Dezember 2007 übertrug das Amtsgericht der Mutter vorläufig das Aufenthaltsbestimmungsrecht für das Kind. Zur Begründung führte es aus, im Hinblick auf die Erziehungseignung bestünden keine offenkundigen Unterschiede zwischen den Eltern. Ausschlaggebend sei letztlich der Gesichtspunkt einer "vorläufigen Kontinuität". Die Tochter sei nunmehr seit zwei Monaten im Haushalt der Mutter, im Erleben einer Vierjährigen kein nur ganz kurzer Zeitraum. Wenn auch das Gericht das eigenmächtige Handeln der Mutter nicht billige, so sollte es zum Wohl des Kindes vermieden werden, dass die Tochter den Lebensmittelpunkt öfter als nötig wechsele.
Die Beschwerde zum OLG blieb erfolglos.
Das BVerfG hat mit Beschluß vom 27.06.2008 (1 BVR 1265/08; FamRZ 2009, 189 ff) die Verfassungsbeschwerde nicht angenommen, da der Beschluß des Amtsgerichts durch die Entscheidung des OLG "überholt" sei.
Als "Mahnung" für das Amtsgericht führt es aber aus:
Das Amtsgericht hat nicht erwogen, dass für den Beschwerdeführer, der bis zum Auszug der Mutter die Hauptbetreuungsperson des Kindes war, der Kontinuitätsgrundsatz streitet, der die Einheitlichkeit und Gleichmäßigkeit des Erziehungsverhältnisses umfasst (vgl. BVerfGE 61, 358 367). Es hat sich daher nicht damit auseinandergesetzt, welches Gewicht dieser in der einvernehmlichen Rollenverteilung der Eltern angelegten Kontinuität im Vergleich zu der von der Mutter eigenmächtig hergestellten - sogenannten ertrotzten - Kontinuität unter Kindeswohl-aspekten zukommt. Hierzu hat das Amtsgericht nur ausgeführt, dass es das Verhalten der Mutter nicht billige, ohne aber darauf einzugehen, dass ein solches Verhalten eines Elternteils, der plötzlich den Aufenthalt eines Kindes dauerhaft und ohne vorherige Absprache mit dem anderen, mitsorgeberechtigten Elternteil verändert, ein gewichtiger Aspekt im Rahmen der Beurteilung der Erziehungseignung eines Elternteils ist, die das Gericht auch schon im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes mit den ihm in der zwangsläufigen Kürze der Zeit zur Verfügung stehenden Erkenntnismöglichkeiten vorläufig beurteilen muss, zumal wenn - wie hier - der das Kind eigenmächtig verbringende Elternteil dem zurückgelassenen Elternteil zunächst keinen Umgang mit dem Kind gewährt, was auf mangelnde Bindungstoleranz hinweisen kann.Vor diesem Hintergrund hätte die Annahme des Amtsgerichts, im Hinblick auf die Erziehungseignung der Eltern bestünden "keine offenkundigen Unterschiede", näherer Darlegung bedurft. Dies gilt umso mehr, als - bei im Übrigen gleichwertigen äußeren Erziehungsumständen und Bindungen des Kindes - eine bessere Erziehungseignung auch dann den Ausschlag geben kann, wenn diese nicht offenkundig ist. Wenn und weil sich vorläufige Sorgerechtsentscheidungen regelmäßig faktisch zugunsten des Elternteils auswirken, der das Kind anlässlich der Trennung eigenmächtig mitnimmt, darf der Umstand, dass diese Kontinuität ertrotzt wurde, nicht erst in der Hauptsacheentscheidung, sondern muss schon im Eilverfahren angemessen berücksichtigt und insbesondere auch zu den Auswirkungen eines erneuten Wechsels des Kindes ins Verhältnis gesetzt werden. Gerade wenn das Kind - wie hier - plötzlich aus der Obhut seines bislang hauptsächlich betreuenden Elternteils entrissen und aus seinem bisherigen örtlichen und sozialen Umfeld entfernt wird, entspricht eine rasche Rückkehr des Kindes an den Ort seines gewöhnlichen Aufenthalts regelmäßig dem Kindeswohl. Dies gilt umso mehr, wenn das Kind - wie vorliegend - einer Rückkehr gegenüber offen eingestellt ist - das Kind hat erklärt, den Vater wieder sehen und in den alten Kindergarten gehen zu wollen - und die vom Amtsgericht angenommene "vorläufige Kontinuität" gerade einmal zwei Monate angedauert hat.
Konsequenz für die Familiengerichte sollte sein, dass - gleiche Eignung der Eltern im übrigen vorausgesetzt - eigenmächtiges Handeln eines Elternteils nicht durch den Richter abgesegnet wird.