EuGH: Deutsche Kündigungsfristen verstoßen gegen Diskrimierungsverbot
Gespeichert von Prof. Dr. Markus Stoffels am
Die mit großer Spannung erwartete Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Kücükdeveci (Urteil vom 19.1.2010, C-555/07) liegt nunmehr vor. Die Luxemburger Richter halten die Regelung, dass Beschäftigungszeiten vor Vollendung des 25. Lebensjahres nicht in die Berechnung der verlängerten Kündigungsfrist eingehen, für diskriminierend.
In dem Ausgangsfall ging es um die Klage von Frau Kücükdeveci gegen eine ihr gegenüber ausgesprochene Kündigung. Frau Kücükdeveci war zum Zeitpunkt der Kündigung seit über 10 Jahren - und zwar seit ihrem 18. Lebensjahr - bei ihrem Arbeitgeber, einem Essener Unternehmen beschäftigt. Der Arbeitgeber berechnete die Kündigungsfrist gleichwohl unter Zugrundelegung einer Beschäftigungsdauer von 3 Jahren (ein Monat nach § 622 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 BGB). Frau Kücükdeveci stellte sich demgegenüber auf den Standpunkt, dass die in § 622 Abs. 2 S. 2 BGB vorgesehene Nichtberücksichtigung der vor Vollendung des 25. Lebensjahres liegenden Betriebszugehörigkeit nicht gemeinschaftskonform sei und daher von einer viermonatigen Kündigungsfrist nach § 622 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 BGB auszugehen sei. Das LAG Düsseldorf (Urteil vom 21.11.2007 BeckRS 2007, 48820)hat daraufhin den EuGH angerufen und ihn um eine Vorabentscheidung ersucht.
Der EuGH entschied - wie von vielen erwartet - gegen die deutsche Regelung. Den Prüfungsmaßstab bilde "der jede Diskriminierung wegen des Alters verbietende allgemeine Grundsatz des Unionsrechts, wie er in der Richtlinie 2000/78/EG konkretisiert ist". Der EuGH sieht in der Regelung des § 622 Abs. 2 S. 2 BGB eine Ungleichbehandlung, die auf dem Kriterium des Alters beruht. Eine Rechtfertigung dieser Ungleichbehandlung lehnen die EU-Richter ab. Der Aspekt der Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik rechtfertige eine Ungleichbehandlung nur, wenn die zur Erreichung eines solchen legitimen Ziels eingesetzten Mittel "angemessen und erforderlich" seien. Das vermag der EuGH jedoch nicht zu erkennen. Insbesondere weist er die Argumentation zurück, der Arbeitgeber sollen eine größere personalwirtschaftliche Flexibilität bekommen, weil jüngeren Arbeitnehmern eine größerere berufliche und persönliche Mobilität zugemutet werden könne. Dies sei nicht der Fall, weil die Nichtanrechnung der Betriebszugehörigkeit vor dem 25. Lebensjahr unabhängig vom Alter bei einer Entlassung gelte.
Noch bemerkenswerter - weil von grundsätzlicher Bedeutung - sind dann die Aussagen des EuGH zu den Rechtsfolgen des festgestellten Verstoßes. Der Generalanwalt hatte in seinen Schlußanträgen (Blog-Beitrag vom 9.7.2009) sehr weitreichende und problematische Vorschläge unterbreitet. So weit geht der EuGH nicht. Jedoch sucht er wieder den Anschluß an die umstrittene Mangold-Entscheidung (EuGH 22.11.2005, NJW 2005, 3695). Der EuGH stellt zunächst fest, dass eine Richtlinie nicht selbst Verpflichtungen für einen Einzelnen begründen kann, so dass ihm gegenüber eine Berufung auf die Richtlinie als solche nicht möglich ist. Insoweit sei jedoch zum einen zu beachten, dass der Grundsatz der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf in der Richtlinie 2000/78 nicht verankert sei, sondern dort nur konkretisiert werde, und zum anderen, dass das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts sei, da er eine spezifische Anwendung des allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatzes darstelle. Die Notwendigkeit, die volle Wirksamkeit des Verbots der Diskriminierung wegen des Alters in seiner Konkretisierung durch die Richtlinie 2000/78 zu gewährleisten, bedeute, dass das nationale Gericht eine in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallende nationale Bestimmung, die es für mit diesem Verbot unvereinbar hält und die einer unionsrechtskonformen Auslegung nicht zugänglich ist, unangewendet lassen muss, ohne dass es verpflichtet oder gehindert wäre, zuvor den Gerichtshof um Vorabentscheidung zu ersuchen.
Ist man der Ansicht, dass im Falle des § 622 Abs. 2 S. 2 BGB eine richtinienkonforme Auslegung ausscheidet, so müssen wohl nach der Entscheidung des EuGH die Kündigungsfristen ohne die Einschränkung des § 622 Abs. 2 S. 2 BGB berechnet werden. Der Gesetzgeber, der trotz der evidenten Europarechtswidrigkeit über Jahre untätig geblieben ist, sollte nun schleunigst eine Neufassung des § 622 Abs. 2 BG in Angriff nehmen.