Anarchie in Bussen und Bahnen? "Ich fahre schwarz!"
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Das Erschleichen von Leistungen, umgangssprachlich "Schwarzfahren", stellt mit weit über 200.000 Fällen jährlich einen erheblichen Anteil an allen statistisch erfassten Straftaten und bringt in der Praxis – bis hin zum Strafvollzug – als Bagatellstraftat einen unverhältnismäßig hohen Verfolgungsaufwand mit sich, siehe schon hier.
Die früher flächendeckend existierenden technischen oder personellen Zugangskontrollen an Bussen, Straßen- und U-Bahnen sind mittlerweile überall ersetzt worden durch betriebswirtschaftlich weitaus günstigere nachgelagerte Kontrollen. Der Abschreckungseffekt solcher Kontrollen wird durch die Strafandrohung verstärkt, denn schon zwei- oder dreimalige Auffälligkeit während eines Jahres kann zur Strafanzeige führen, so dass sich das ständige Schwarzfahren nicht "lohnt". So kann man durchaus folgern, ein Teil der Kontrollkosten wird von den Transportunternehmen an Polizei und Strafjustiz ausgelagert.
In der Strafrechtslehre wird seit Langem verbreitet vertreten, das bloße unauffällige Mitfahren in einem öffentlichen Nahverkehrsmittel stelle noch kein „Erschleichen“ dar und sei deshalb vom Tatbestand des § 265a StGB nicht erfasst. Die herrschende Ansicht in der Rechtsprechung hält allerdings, seit 2009 gestützt durch den BGH (4 StR 117/08), daran fest, dass auch ohne aktive Täuschungskomponente ein Erschleichen vorliegen könne.
Die jetzt entfachte neue Diskussion über das Schwarzfahren setzt an einem Verhalten an, das mit der Einsparung des Beförderungsentgelts kriminalpolitisch orientierten Protest verknüpft und dabei die Auffassung des BGH zugleich aufnimmt und konterkariert. Die Leistung wird nicht durch „unauffälliges“ Verhalten erschlichen, vielmehr wird mit auffälligen Schildern oder selbstgemachten „Umsonst-Fahrausweisen“ ganz offen bekundet, dass man kein Entgelt entrichtet habe und dies auch nicht zu tun gedenke (so berichtet in: Gießener Allgemeine; Süddeutsche Zeitung).
Natürlich wird die zivilrechtliche Entgeltpflicht und ggf. auch das erhöhte Beförderungsgeld davon nicht berührt, aber die Strafgerichte haben nun größte Mühe, unter Verweis auf Gesetzeswortlaut und BGH-Entscheidung noch eine strafrechtliche Verurteilung zu begründen. Das LG München II stellte jüngst ein Verfahren ein, nachdem noch das AG eine Geldstrafe verhängt hatte. 40 Euro an die Klinikclowns war der Preis für die Einstellung.
Nun mag man, wie Christian Rath in der taz, entgegnen, dieser offene Protest bringe politisch nichts:
„Was aber ist damit gewonnen? Selbst wer strafrechtlich freigesprochen wird, muss trotzdem für die Fahrt das „erhöhte Beförderungsentgelt“ von 40 bis 60 Euro zahlen. (…) Und selbst wenn einzelne Amtsgerichte den Aktivisten Recht geben, so kann das Urteil in der Berufung korrigiert werden. Und sollte am Ende sogar der Bundesgerichtshof eine strafrechtliche Lücke feststellen, wird der Bundestag sie eben alsbald schließen.“
Aber stimmt das? Meines Erachtens kann der Protest gegen die strafrechtliche Erfassung eines primär zivilrechtlichen Vertragsbruchs durchaus legitim sein – und zum erneuten Nachdenken über eine Entkriminalisierung des Schwarzfahrens ohne aktives Täuschungsmoment anregen, auch wenn dieser egoistisch daherkommende Protest kaum geeignet sein mag, die Einführung eines Nulltarifs zu beschleunigen. Aber wenn das offene und dreiste Schwarzfahren nicht strafbar ist, dann lässt sich auch die Strafbarkeit des unauffälligen passiven Schwarzfahrens kaum mehr rechtfertigen.
Und dass der Bundestag angesichts der Folgekosten für die Strafjustiz die Lücke so einfach schließen wird, steht auch nicht bereits vorab fest.
Was meinen Sie?