Fall Al-Bakr: Suizid in Untersuchungshaft - war es zu verhindern?
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
1,5 Jahre nachdem hier im Beck-Blog Suizidprophylaxe in der Haft Thema war (Fall Middelhoff), wird praktisch mit umgekehrten Vorzeichen dasselbe Thema wieder bedeutsam. Gestern Abend gegen 19.30 Uhr hat sich der syrische Untersuchungshäftling, gegen den der dringende Tatverdacht der Vorbereitung eines terroristischen Sprengstoffanschlags bestand, in seiner Zelle erhängt. Laut Auskunft seines Anwalts galt er als suizidgefährdet und soll auch entsprechend unter Beobachtung gestanden haben.
Anlässlich des Falls Middelhoff, der sich nachträglich wegen der schlafstörenden Dauerüberwachung ("Folter") beschwert hatte, wurde über die gängige Praxis der Überwachung von suizidgefährdeten Gefangenen schon einmal diskutiert.
Das nordrhein-westfälische Justizministerium hat in seinem Bericht im vergangenen Jahr u.a. Folgendes ausgeführt:
Die Verhütung von Suiziden der ihm anvertrauten Gefangenen gehört zu den wichtigsten Aufgaben, die der Justizvollzug zu leisten hat. Die körperliche Unversehrtheit ist nicht nur zu wahren und zu respektieren, sondern auch aktiv zu schützen.
Zu dem Schutz der Gefangenen gehört es nicht nur, sie vor Übergriffen Mitgefangener zu schützen, sondern auch, sie davor zu bewahren, sich selbst und ihren Angehörigen Leid zuzufügen.
Unmittelbar nach der Aufnahme einer zu inhaftierenden Person in eine Justizvollzugsanstalt erfolgt ein strukturiertes Zugangsgespräch. Ziel ist es, eine suizidale Gefährdung zu erkennen. Das Erstgespräch wird von erfahrenen Bediensteten durchgeführt, die mit der besonderen Problematik vertraut sind.
Es gibt verschiedene Maßnahmen, die zum Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit ergriffen werden können.
Hierzu zählt zunächst die gemeinschaftliche Unterbringung mit hafterfahrenen Gefangenen, die zu einer Stabilisierung des Zustandes eines frisch eingelieferten, haftunerfahrenen Gefangenen beitragen können.
Ist ein Gefangener für eine Gemeinschaftsunterbringung nicht geeignet oder wünscht er diese nicht, bleibt nur die Beobachtung in unregelmäßigen Zeitabständen. Diese wird möglichst diskret durchgeführt, und zwar zumeist auf sogenannten Beobachtungshafträumen, aber auch auf normalen Hafträumen.
Auf Beobachtungshafträumen sind in den Justizvollzugsanstalten regelmäßig Nachtbeleuchtungen vorgesehen, die eine deutlich geringere Beleuchtungsstärke aufweisen als die zum Lesen oder Fernsehen erforderlich~ Normalbeleuchtung.
Bedienstete machen sich ein Bild von dem Zustand des Gefangenen, indem sie Einblick in den Haftraum nehmen. Dies geschieht bei neueren Anstalten durch eine Sichtklappe, in älteren Anstalten durch eine Glasscheibe in der Tür, die im Alltagsbetrieb von außen abgedeckt ist.
In einzelnen Anstalten erfolgt die Überwachung auch durch sogenannte "Sichtspione", d.h. Haftraumeinsichtsöffnungen.
Wird die Beobachtung auf einem normalen Haftraum durchgeführt, erfolgt sie ebenfalls durch einen solchen "Sichtspion".
(...)
Die im Vollzugsjargon "viertelstündliche Beobachtung" genannte geschilderte Sicherungsmaßnahme wird seit Jahrzehnten in Justizvollzugsanstalten der Bundesrepublik Deutschland praktiziert.
Nun ist es einerseits sehr schwierig, einen zum Suizid entschlossenen Menschen von seiner Tat abzuhalten, andererseits muss man zu Recht die Frage stellen, wie es dem Untersuchungsgefangenen gelingen konnte, sich auf diese Weise zu erhängen. Lt. Angaben in der Pressekonferenz ist die Beobachtungsfrequenz am Dienstagabend von zunächst 15 auf 30 Minuten erweitert worden. Anders als der Ermittlungsrichter hielt man ihn in der JVA nicht für akut suizidgefährdet, obwohl man mit ihm sprachlich nicht gut kommunizieren konnte. Die Zuziehung eines Dolmetschers in der Anstalt hielt man lt. StA nicht für erforderlich und dies sei bei 10 bis 20 Neuzugängen am Tag auch zu aufwändig.
War die Zelle geeignet zur Einzelunterbringung eines Suizidgefährdeten, wenn man sich dort mit Kleidung am "Vorgitter" erhängen kann? Aus der Pressekonferenz: Suizide habe es in den Vorjahren schon gegeben, Gefangene nutzen dazu die Fenstergitter. Wenn man wolle, könne man sich "in jedem Haftraum selbst töten" (zitiert nach Oliver Burwig, RP-Online.de) Diese Angabe ist nicht wirklich entlastend: Wenn man genau diese Suizidmöglichkeit in den Hafträumen schon kennt, ist die Suizidprophylaxe in der konkreten JVA offenbar nicht optimal. Suizidgefährdete, die nicht in Gemeinschaftszellen untergebracht werden können, müssen in einen Haftraum gesperrt werden, der nicht solche naheliegenden Möglichkeiten zum Suizid bietet. Alternativ müssen Kontrollen so häufig durchgeführt werden, dass keine Zeit zur Vorbereitung und Durchführung eines Suizids besteht.
"Wir müssen aus jedem Suizidversuch lernen", betont Jacob. (Anstaltsleiter). Anstaltsleiter Jacob sagt, dass es in Sachsen keine Videoüberwachung in Untersuchungshaft gebe. "Wir wollen lieber die unmittelbare Sitzwache." [zitiert nach RP-Online, s.o.]. Eine solche Sitzwache wurde aber bei Al Bakr offenbar nicht angeordnet bzw. durchgeführt.
Es verwundert schon etwas, dass bei dem (europaweit) derzeit wohl bekanntesten Untersuchungsgefangenen, dem die Vorbereitung schwerster Taten vorgeworfen wurde, keine besonderen Überwachungsmaßnahmen angeordnet wurden, zumindest so lange, bis man ihn trotz Sprachproblemen besser "kennt". Offenbar hat man ihn falsch eingeschätzt und auch nicht auf die Hinweise seines Verteidigers angemessen reagiert.
Lesenswertes Interview der SZ mit Bernd Maelicke, einem Wissenschaftlerkollegen, der sich seit Jahrzehnten mit Strafvollzug befasst.
Update September 2017:
Nun gibt es eine Recherche zu dem Suizid, deren Ergebnsise meine Kritik als noch harmlos erscheinen lassen. Offenbar wurden hier in der Anstalt noch gravierendere Fehler gemacht als zunächst bekannt wurde und auch die behördliche Aufklärung ließ zu wünschen übrig. Monitor-Sendung vom 24. August 2017:
http://www1.wdr.de/daserste/monitor/sendungen/jaber-albakr--100.html