„Große BRAO-Reform“ und (kein) Legal Tech?
Gespeichert von Dr. Sylvia Kaufhold am
Gerade zurück vom Treffen unserer Arbeitsgruppe „Legal Tech“ beim Deutschen Anwaltverein (DAV) kam die Meldung (DAV-Depesche Nr. 11/19):
Interessenvertretung/Anwaltspraxis
DAV-Vorstand beschließt Gesetzentwurf zur großen BRAO-ReformAus dem „DAV-Diskussionsvorschlag von Martin Henssler zum anwaltlichen Gesellschaftsrecht“ hat der DAV-Vorstand nun den „DAV-Vorschlag zur großen BRAO-Reform“ gemacht. Würde der Gesetzentwurf zum Gesetz werden, wären viele Zweifelsfragen der Anwaltspraxis zur Berufsausübungsgesellschaft gelöst. Allein bei der Öffnung für Fremdkapital (genau Eigenkapital Dritter) folgt der DAV nicht Martin Henssler. Nach der kleinen BRAO-Reform von 2017 ist nun der Gesetzgeber am Zug. Alle Details zur DAV-Stellungnahme Nr. 8/19 hat das Anwaltsblatt.
Da ist er nun also, der „große (Ent-)Wurf“! Durchaus ungewöhnlich, dass ein Interessenverband bei einem Hochschulprofessor ganze Gesetzesentwürfe in Auftrag gibt. Aber warum nicht, wenn es nicht nur berufspolitischen Interessen dient, sondern auch, oder vielleicht sogar in erster Linie, der Gesetzesqualität und der Beseitigung erheblicher Rechtsunsicherheiten? Und dass dies hier der Fall ist, weil das geltende anwaltsspezifische Gesellschaftsrecht und Berufsrecht „antiquiert, in sich widersprüchlich, lückenhaft und zudem intransparent“ ist, erschließt sich schon auf den ersten Seiten des Diskussionsvorschlags von Henssler (Institut für Anwaltsrecht, Köln), den der DAV mit wenigen ergänzenden Anmerkungen vollständig in seine Stellungnahme Nr. 8/2019 integriert hat.
Wie aber verhält sich der Entwurf zum drängendsten und aktuell umstrittensten Zukunftsthema der deutschen und europäischen Anwaltschaft, dem Legal Tech (grundlegend: Hartung/Bues/Halbleib, Legal Tech; zur Zukunft der Juristen allgemein Kilian, NJW 2017, 3043)? Als Hauptgrund, warum Anwälte die verschiedenen Erscheinungsformen der (teil-)automatisierten Rechtsdienstleistung jedenfalls im Außenverhältnis gegenüber ihren Mandanten kaum nutzen (dürfen), gilt das generelle Verbot interprofessioneller Sozietäten, insbesondere mit BWLern und ITlern.
Nach der vom DAV favorisierten Neuregelung (§ 59b Abs. 1 Nr. 2 BRAO-E), die Henssler selbst nicht unkritisch sieht, soll die gemeinschaftliche Berufsausübung mit Angehörigen anderer Berufe künftig zulässig sein, „wenn diese Berufe mit dem Beruf des Rechtsanwalts, insbesondere seiner Stellung als unabhängiges Organ der Rechtspflege, vereinbar sind und die Verbindung die anwaltliche Unabhängigkeit, die Pflicht zur Verschwiegenheit und das Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen nicht gefährden kann.“ Schon weil die Regelung die Anforderungen an die sozietätsfähigen Berufe positiv formuliert, anstatt potentiell unvereinbare Berufe auszunehmen (so § 7 Nr. 8, § 14 Abs. 2 Nr. 8 BRAO), dürfte sich der Ansatz als zu restriktiv erweisen. Dies gilt umso mehr, als die anwaltlichen Pflichten gem. §§ 43, 43a BRAO, also auch die zur Verschwiegenheit und zur Vermeidung von Interessenkollisionen, für die Mitgesellschafter und die Gesellschaft ohnehin entsprechend gelten sollen (§§ 59c Abs. 1, 59j BRAO-E). Das Ganze erscheint daher etwas „doppelt gemoppelt“. Der Beispielskatalog der hiernach wohl ohne weiteres als vereinbar geltenden Berufe (außer den bisher schon anerkannten sind das Ärzte, Psychologen, Sozialarbeiter, Architekten und Ingenieure, Mediatoren, Volks-um Betriebswirte und Sachverständige) wiederum erfasst nur Freie Berufe i.S.v. § 1 Abs. 2 PartGG und § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG. Und man fragt sich sofort: Was ist denn mit den im Bereich Legal Tech so wichtigen Informatikern und Softwareentwicklern? Als privilegierte Ingenieure i.S.v. § 59b Abs. 1 Nr. 2 BRAO-E wird man sie jedenfalls nicht ansehen können. Überhaupt findet sich der Begriff „Legal Tech“ in der gesamten Gesetzesbegründung nur ein einziges Mal, und zwar im Zusammenhang mit der vorgeschlagenen Öffnung der Partnerschaftsgesellschaft für gemischte Geschäftsgegenstände in § 1 Abs. 1 S. 3 PartGG-E.
Allein praktikabel, zeitgemäß sowie verfassungs- und europarechtlich unbedenklich erscheint daher eine generelle Abschaffung des Sozietätsverbots unter dem Vorbehalt der Vereinbarkeit und der zumindest vertraglichen Erstreckung der Berufspflichten auf die Mitgesellschafter wie es bereits ein Gesetzesentwurf der Bundesregierung aus dem Jahr 2006 vorsah (vgl. Uwer, AnwBl Online 2019, 20). Die in § 59a Abs. 2 BRAO-E vorgesehene Klarstellung, dass gemischte Sozietäten Rechtsdienstleistungen i.S.v. § 2 RDG erbringen dürfen, wenn mindestens einer der Gesellschafter Rechtsanwalt ist, kann auf diese Weise ihr praktisches Potential entfalten. Wenn dann noch das antiquierte Verbot des Erfolgshonorars und das durch die Rechtsprechung ohnehin fast vollständig aufgeweichte Werbeverbot gestrichen werden, stehen innovative Geschäftsmodelle auch Rechtsanwälten offen und der schnell wachsende elektronische Rechtsberatungs- und durchsetzungsmarkt könnte wieder unter anwaltliche (Mit-)Kontrolle gebracht werden. Denn dann wäre mit wesentlich besseren Gründen als bisher vertretbar, dass nichtanwaltliche Legal-Tech-Dienstleister ihr umstrittenes Geschäftsmodell auch über die Inkassoerlaubnis nicht legitimieren können. Erst recht gäbe es keinerlei Bedarf für einen zusätzlichen registrierten Rechtsdienstleister, wie ihn Remmertz für „automatisierte Rechtsdienstleistungen“ ins Spiel gebracht hat und der aus berufspolitischer Sicht viel gefährlicher wäre als eine europarechtlich ohnehin gebotene Liberalisierung des anwaltlichen Berufsrechts i.e.S.
Allerdings könnte daran gedacht werden, Legal-Tech-Dienstleistern auf einer anderen Ebene des RDG entgegenzukommen. Bei allen Unsicherheiten im Detail ist doch unverkennbar, dass Legal Tech irgendwie jenen Tätigkeiten ähnelt, die der BGH als „rein schematische Rechtsanwendung“ vom Erfordernis der rechtlichen Einzelfallprüfung i.S.d. § 2 Abs. 1 RDG auszunehmen bereit ist (hierzu Fries, ZRP 2018, 161, 163). Selbst noch so hochwertige Online-Tools können immer nur auf standardisierter Grundlage, d.h. in Abhängigkeit vom abgefragten und als richtig unterstellten Sachverhalt, zuverlässige Ergebnisse produzieren und sind nicht geeignet, alle Individualitäten des Einzelfalls juristisch zutreffend zu bewerten. Dies gilt für Text- und Vertragsgeneratoren ebenso wie für die (vor-)gerichtliche Anspruchsprüfung und -durchsetzung durch flightright & Co, auf die sich die RDG-Diskussion derzeit konzentriert (zuletzt Henssler, NJW 2019, 545; Römermann/Günther, NJW 2019, 551) und die ihrerseits bald durch vollautomatisierte Entschädigungssysteme seitens des Anbieters abgelöst werden könnte (hierzu Fries, NJW 2019, 901). In beiden Varianten erfolgt eine gewisse juristische Prüfung des Einzelfalls, weil aber diese Prüfung automatisiert und schematisch ist, kann sie nur vorläufig und indikativ sein. Sie kann die erst noch erforderliche, vertiefte und rechtsverbindliche Einzelfallprüfung mittels natürlicher Intelligenz des Anwalts nicht ersetzen und will es in den meisten Fällen auch gar nicht. In der strukturellen Unverbindlichkeit von Legal Tech liegt daher m.E. der entscheidende Unterschied zur anwaltlichen Leistung, die immer verbindlich ist und für die der Anwalt je nach Mandatsinhalt auch dann haftet, wenn er selbst das Ergebnis eines Vertragsgenerators oder Anspruchs-Tools ungeprüft übernommen hat (vgl. Riechert, AnwBl 2019, 102, 103). Nur vor einer schematischen Prüfung, die dennoch als rechtsverbindlich verkauft wird, muss der Rechtsmarkt geschützt werden. Alles andere ist für Anwälte keine ernsthafte Konkurrenz. Allerdings kann auch eine unverbindliche Rechtsprüfung einen wirtschaftlichen Wert haben, denn sie ermöglicht immerhin eine erste Orientierung darüber, ob es sich lohnen kann, die Sache selbst oder mithilfe eines Rechtsanwalts weiterzuverfolgen.
Vor diesem Hintergrund könnten explizit als unverbindlich bezeichnete Tätigkeiten – unabhängig davon, ob sie automatisiert oder herkömmlich bzw. entgeltlich oder unentgeltlich erbracht werden – jedenfalls dann vom Anwendungsbereich des RDG ausgenommen werden, wenn zusätzlich noch auf das Erfordernis anwaltlicher Prüfung hingewiesen wird. Dieses offenbar in den USA verbreitete Informationsmodell ist die beste Werbung für den Anwalt. Schließlich ist es vielleicht auch gar nicht das enge Berufsrechtskorsett, das Anwälte weitgehend davon abhält, ihre außergerichtlichen Leistungen ausschließlich als standardisiertes Massengeschäft anzubieten wie die Legal-Tech-Dienstleister das tun – sondern ihr Selbstverständnis. Zu Recht.
Update vom 2.4.2019:
Der Kommentar von Jörn Erbguth bringt mich darauf, dass § 2 Abs. 1 RDG bereits de lege lata so zu lesen sein dürfte:
"Rechtsdienstleistung ist jede Tätigkeit in konkreten fremden Angelegenheiten, sobald sie eine rechtsverbindliche [nicht: rechtliche] Prüfung des Einzelfalls beinhaltet [nicht: erfordert]."
Die aktuelle Fassung unterliegt einem logischen Zirkelschluss, denn eine Tätigkeit kann keine Prüfung erfordern, sondern nur beinhalten. Allenfalls kann ein Tätigkeitsergebnis eine Prüfung erfordern bzw. eine Tätigkeit eine Überprüfung. Versteht man die Vorschrift aber so, wird die eigentliche anwaltliche Prüfung, die einer vorbereitenden Tätigkeit durch wen oder was auch immer nachfolgt, vom RDG ausgeschlossen, während die vorbereitende Tätigkeit erfasst wird. Also genau das Gegenteil vom gewollten und richtigen Ergebnis. Eine Klarstellung des Gesetzgebers wäre äußerst hilfreich und könnte auch ohne explizite Informationspflichten für LT-Dienstleister zu angemessenen Ergebnissen führen.