Untersuchungshaft-Anordnung im europäischen Vergleich – eine schwierige Sache
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Der österreichische Jura-Blogger Oliver Scheiber verlinkte heute auf Twitter einen Artikel von Walter Hammerschick vom Wiener IRKS im Journal für Strafrecht (2019, S. 221 ff.), der sich mit der Empirie zur Anordnung der Untersuchungshaft in mehreren europäischen Ländern befasst.
Gegenstand der Twitter-Diskussion über diesen Artikel war die Aussage, wonach die Genehmigungs- bzw. Anordnungsrate der U-Haft nach entsprechendem Antrag der Staatsanwälte in Österreich 85 bis 90 % betrage, in Irland hingegen nur rund 44 %. Die Angaben beruhten auf Schätzungen von Experten, die für die europäische Studie „Untersuchungshaft als Ultima Ratio“ befragt wurden.
Da die Zahl der Untersuchungshäftlinge in Deutschland berechnet auf 100.000 Einwohner mit 14 weit geringer ist als in Österreich (24), aber in etwa so hoch wie in Irland (13), könnte man auf den Gedanken kommen, deutsche und irische Richter seien bei Haftbefehlen genauer und kritischer als österreichische.
Indes, es ist wohl anders. Zunächst muss man einmal darauf hinweisen, dass statistische Daten für diese Frage hins. Deutschland kaum zu ermitteln sind, noch weniger ist dies im europäischen Vergleich möglich. Nach Angaben von Christine Morgenstern in ihrer 2018 erschienenen, sehr empfehlenswerten, Habilitationsschrift „Die Untersuchungshaft“ werden in Deutschland (wiederum geschätzt) unter 10 % der Haftbefehlsanträge von Gerichten abgelehnt (dort S. 499), also noch weniger als (geschätzt) in Österreich. Allerdings ist das gar nicht unbedingt ein Zeichen dafür, dass Gerichte in Österreich wie in Deutschland einfach größtenteils „abnicken“, was die Staatsanwälte ihnen vorlegen, während die irischen Richter kritischer sind.
Vielmehr könnten ganz verschiedene Gründe eine Rolle spielen:
Erstens könnte sich in dieser Zahl widerspiegeln, inwiefern die Staatsanwaltschaften sich schon selbst (quasi die gerichtliche Entscheidung antizipierend) in ihrer Antragstellung mehr oder weniger zurückhalten.
Zweitens kommt es darauf an, welche Haftgründe das jeweilige Gesetz überhaupt vorsieht bzw. welche praktisch werden: So ist aus dem Artikel von Hammerschick zu erfahren, dass in Österreich der Haftgrund „Wiederholungsgefahr“ praktisch weit im Vordergrund steht (90 %!), während dieser in Deutschland nach § 112a StPO nur subsidiär und bei Verdacht der Begehung schwerwiegenderer Straftaten in Betracht kommt. In Irland ist zwar auch Wiederholungsgefahr als Haftgrund vorgesehen, jedoch wird der Präventionsgedanke angesichts der Unschuldsvermutung traditionell von Staatsanwälten und Gerichten nur selten in Ansatz gebracht.
Drittens könnte den Hauptunterschied zwischen Kontinent und Irland das dortige „Bail“-System bilden, welches im Grundsatz für jeden Tatverdächtigen einen Anspruch beinhaltet, unter gewissen Bedingungen bis zum Prozess freizukommen. Bail kann nur aus bestimmten Gründen verneint werden, d.h. das Regel-/Ausnahmeprinzip ist hier umgekehrt wie in den kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen, und es setzt zunächst den Antrag voraus, auch wenn das Gericht voraussehbar Bail befürwortet. Das könnte den erstaunlichen Unterschied zwischen Deutschland und Irland in der Genehmigungsquote erklären. Die meisten Angeklagten werden aufgrund gerichtlichem Bail-Beschluss (meist mit Auflagen) bis zum Gerichtstermin auf freien Fuß gesetzt, während in Deutschland nur bei einem geringen Teil eine Haftverschonung (ggf. gegen Sicherheitsleistung) erfolgt. Wobei ich nicht nachvollziehbaren kann, ob die deutsche Haftverschonung in den o.a. Schätzungen der gerichtlichen Anordnungsquote überhaupt berücksichtigt wird. Hinzu kommt, dass in Deutschland und Österreich die U-Haft auch bei Einlegung von Rechtsmitteln weiter besteht, während dies in Irland nicht der Fall ist.
In den zu dieser Frage recherchierten Büchern, Artikeln und Statistiken sind mir noch viel mehr berichtenswerte Unterschiede zur Praxis der U-Haft aufgefallen und auch Ideen dazu, wie die U-Haft tatsächlich in Europa zur "ultima ratio" werden könnte.