Die nächste Watschn aus Strassburg - diesmal dank Herrn Schneider aus Fulda
Gespeichert von Hans-Otto Burschel am
Herr Schneider aus Fulda unterhielt ein Beziehung mit einer verheirateten Frau.
Die Frau wurde schwanger. Herr Schneider begleitete sie zu Schwangerschaftsuntersuchungen. Die Kindesmutter stellte den Beschwerdeführer gegenüber Dritten als Vater des Kindes vor.
Kurz vor der Geburt verließ die Frau Herrn Schneider und kehrte zu ihrem Ehemann zurück, mit dem sie bereits zwei eheliche Kinder hatte.
Den Wunsch des Herrn Schneider, Umgang mit dem (seinem?) Kind zu haben wiesen das AG Fulda und das OLG Frankfurt mit dem rein formalen Argument zurück, rechtlicher Vater des Kindes sei der Ehemann und nur dem rechtlichen Vater stehe ein Umgangsrecht nach § 1684 BGB zu. Eine Kindeswohlprüfung wurde nicht durchgeführt.
Das BVerfG teilte diese Auffassung und nahm eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an (Beschluss vom 20.09.2006 - 1 BvR 1337/06).
Herr Schneider gab nicht auf und zog vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) – und errang dort heute zumindest einen Teilerfolg (Text der Entscheidung - auf englisch).
Die rein auf die fehlende rechtliche Vaterschaft gestützte Verweigerung des Umgangs verletze Herrn Schneiders Recht auf Achtung seines Privatlebens, das in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankert ist. Die Familiengerichte müssten anhand eines jeden Einzelfalls genau prüfen, ob regelmäßiger Kontakt zwischen dem mutmaßlichen biologischen Vater und seinem Kind im Interesse des Nachwuchses liege oder nicht, urteilten die Straßburger Richter. Angesichts der Vielzahl möglicher Familienkonstellationen könne man nicht anhand allgemeingültiger, gesetzlich festgelegter Vermutungen darüber entscheiden, ob ein Kontakt im Kindswohl liege oder nicht.
Having regard to the realities of family life in the 21stcentury, (…), the Court is not convinced that the best interest of children living with their legal father but having a different biological father can be truly determined by a general legal assumption. Consideration of what lies in the best interest of the child concerned is, however, of paramount importance in every case of this kind (…). Having regard to the great variety of family situations possibly concerned, the Court therefore considers that a fair balancing of the rights of all persons involved necessitates an examination of the particular circumstances of the case.
Max Steinbeis meint dazu in seinem Verfassungsblog:
Das ist konsequent: Dem EGMR geht es nicht darum, die Frage der Vaterschaft biologistisch zu entscheiden und Männern, die mit anderer Leute Ehefrauen schlafen, zu dem Recht zu verhelfen, deren Familien kaputtzumachen.
Vielmehr geht es ... um das Versäumnis der deutschen Gerichte, sich mit den konkreten Umstände des Falls zu befassen – vor allem mit den Belangen des Kindes. Vielleicht ist es zu dessen Schaden, wenn sich ein fremder Mann ihm nähert und behauptet, er sei sein Vater. Vielleicht aber auch nicht. Ein Familienrecht, das das Verhältnis von biologischem Vater und Ehemann abstrakt-generell als eine Frage von Vorrang des einen vor dem anderen behandelt, bekommt diese Frage gar nicht erst in den Blick – und das ist es, was der EGMR als Verstoß gegen Art. 8 EMRK brandmarkt:
Diese EGMR-Rechtsprechung finde ich auch über die konkrete familienrechtliche Frage hinaus spannend: Abstrakt-generelle Fallgruppenpriorisierung als Menschenrechtsverstoß – was heißt das eigentlich genau? Wie genau wird mein Menschenrecht verletzt, wenn sich der Gesetzgeber gegen eine kasuistische Interessenabwägung entscheidet? Was passiert genau mit mir und meinen Rechten, wenn ein Gericht verabsäumt, die Interessen eines Dritten (des Kindes ) in Betracht zu ziehen? Wie verhält sich diese Art von Menschenrechtsverstoß zu den Verfahrensgrundrechten, wie zum Gleichheitssatz?
Jemand auf der Suche nach einem Dissertationsthema? Das wäre doch was…
Für den Praktiker ist die Frage interessanter, welche Konsequenzen der Gesetzgeber aus dieser Entscheidung (gegen die noch die Berufung möglich ist) ziehen wird.