Akteneinsicht in Kronzeugenanträge - Pfleiderer Reloaded?
Gespeichert von Dr. Rolf Hempel am
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Ob Geschädigte eines Kartells Einsicht in die bei den Kartellbehörden geführten Kartellverfahrensakten und insbesondere in Kronzeugenanträge von Kartellanten erlangen können, ist eine der aktuellsten Fragen, die landauf und landab in der Europäischen Union diskutiert werden. Nach seiner ersten Befassung in der Sache Pfleiderer hat der Europäische Gerichtshof jetzt wieder die Möglichkeit, sich dieses Themas anzunehmen. Er hat über das Vorabentscheidungsersuchen des Oberlandesgerichts Wien in dem Verfahren Bundeswettbewerbsbehörde / Donau Chemie AG u.a. zu entscheiden (Rs. C-536/11).
- Zur Erinnerung: In der Rechtssache Pfleiderer / Bundeskartellamt hatte das Amtsgericht Bonn das Bundeskartellamt angewiesen, dem Antragssteller Pfleiderer Zugang zu den Kartellverfahrensakten in der Sache Decorpapierkartell zu gewähren. Es hatte dann aber auf Antrag des Bundeskartellamts das Verfahren ausgesetzt und sich hilfesuchend an den Europäischen Gerichtshof gewandt - mit der Frage, ob die Gewährung des Zugangs zu Kronzeugenanträgen dem Gemeinschaftsrecht zuwiderlaufen würde (Rs. C-360/09 - Pfleiderer AG / Bundeskartellamt). In seiner Entscheidung vom 14.06.2011 entschied der Gerichtshof, dass die Mitgliedstaaten die effektive Durchsetzung des EU-Wettbewerbsrechts nicht gefährden dürften, dass andererseits aber jedermann einen Anspruch auf kartellrechtlichen Schadensersatz habe. Der Gerichtshof spielte den Ball also zurück zu den mitgliedstaatlichen Gerichten und gab ihnen mit auf den Weg, dass sie eine Abwägung zwischen den für und gegen die Offenlegung des Kronzeugenantrags sprechenden Interessen im Einzelfall auf der Grundlage ihres mitgliedstaatlichen Rechts durchführen müssten. Das Amtsgericht Bonn ließ sich noch ein halbes Jahr Zeit und verweigerte sodann den Zugang zu dem Kronzeugenantrag. Das ist die praktizierte aktuelle Rechtslage in Deutschland.
- Die Rechtslage in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union ist uneinheitlich. Wir haben dies im Rahmen eines internen Projekts unserer Praxisgruppe Kartellrecht im internationalen CMS-Verbund Anfang des Jahres einmal gründlicher erkundet. Aus Österreich kam damals schon der Hinweis auf das vorliegend behandelte Vorabentscheidungsverfahren.
- In dem fraglichen Verfahren will das Oberlandesgericht Wien vom Europäischen Gerichtshof wissen, ob die österreichische Rechtslage, nach der die Einsichtnahme Dritter in Kronzeugenanträge von der Zustimmung aller Parteien abhängig ist (und damit faktisch ausgeschlossen ist), mit dem Gemeinschaftsrecht im Einklang steht. Die österreichischen Rechtsvorschriften erlauben dem Richter keine Interessenabwägung.
- In dieser Sache hat am 04.10.2012 nun die mündliche Verhandlung vor der 1. Kammer des Europäischen Gerichtshofs stattgefunden. Im Sitzungsbericht ist dokumentiert, welche Antwort des Gerichtshofs sich die Verfahrensbeteiligten wünschen. Die Rechtsauffassungen des Antragstellers im Ausgangsverfahren, eines Verbandes möglicher Schadensersatzkläger, und der Antragsgegnerinnen, der Kartellanten, ist offensichtlich. Erstere sehen in der österreichischen Regelung einen Verstoß gegen das Unionsrecht, letztere sehen die Regelung als vom Unionsrecht gedeckt an. Von Interesse sind die Auffassungen der übrigen Beteiligten: Die Republik Österreich stellt sich erwartungsgemäß hinter ihre Regelung. Die Königreiche Belgien und Spanien sekundieren ihr. Die Bundesrepublik hat verlauten lassen, dass sie die österreichische Regelung ebenfalls für EU-rechtskonform hält. Hilfsweise hat sie vorgeschlagen, die Frage im Sinne der aktuellen Rechtslage in Deutschland (s.o.) zu beantworten. Die Europäische Kommission steht erwartungsgemäß ebenfalls auf diesem Standpunkt. Die geäußerten Auffassungen überraschen im Ergebnis nicht. Die Kartellbehörden des ECN hatten in einem Beschluss vom 23.05.2012 ihren festen Entschluss bekräftigt, ihre Kronzeugenprogramme zu verteidigen und hatten die Auffassung geäußert, dass in Kronzeugenanträge keine Akteneinsicht gewährt werden solle.
Es bleibt abzuwarten, wie sich der Gerichtshof hierzu äußern wird.