Zum Freiburger Mordfall: Altersfeststellung und Anwendung des Jugendstrafrechts
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Nach dem (mutmaßlichen) Mord an einer Freiburger Studentin wurde ein Tatverdächtiger festgenommen, der angab, erst 17 Jahre alt zu sein. Nun hieß es gestern in vielen Medienberichten, ein Altersfeststellungsgutachten, in Auftrag gegeben von der Staatsanwaltschaft, habe ergeben, der Beschuldigte sei bereits 22 Jahre alt (z.B. FAZ , Mittelbayerische Zeitung).
Über die tatsächlichen Voraussetzungen und rechtlichen Folgen indes herrschten in manchen der Medienberichten gravierende Unterschiede. Während die einen berichteten, das Gutachten habe ergeben, der Verdächtige sei zur Tatzeit mindestens 22 Jahre alt gewesen und müsse nun als Erwachsener mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe wegen Mordes rechnen, konnte aus anderen Berichten herausgelesen werden, dass die Altersbestimmung keineswegs völlig eindeutig ausgefallen sei und eine Anklage beim Erwachsenengericht nur möglich sei, aber noch nicht sicher. Teilweise hieß es auch, die Staatsanwaltschaft stelle wegen des Alters noch weitere Untersuchungen an.
Um ein bisschen Licht ins Halbdunkel zu bringen, will ich kurz zu zwei Punkten Stellung nehmen, erstens zu den noch umstrittenen ethischen und empirischen Möglichkeiten der Altersbestimmung und zweitens zu den rechtlichen Folgen, die sich aus dem JGG daraus ergeben.
1. Ethische und empirische Fragen zur Altersfeststellung
Die medizinische Altersbestimmung wird mit verschiedenen Techniken und anhand verschiedener Körpermerkmale (z.B. per Röntgen, Knochenvermessung und Gebissentwicklungsstand) vorgenommen. Umstritten sind vor allem die ethischen Voraussetzungen einer Altersbestimmung, aber auch deren Präzision. Hier Auszüge aus einer Darstellung des ippnw, einer internationalen kritischen Ärzteorganisation :
„Altersfeststellung“ oder „Altersbestimmung“ ist nicht möglich. Diese oft verwendeten Begriffe täuschen vor, man könne, mit welchen Methoden auch immer, das nicht bekannte oder strittige Alter eines jungen Menschen exakt bestimmen. Ärztinnen und Ärzte müssen vielmehr ganz bescheiden von „Altersschätzung“ oder allenfalls von „Altersfestsetzung“ sprechen. Nichtmediziner, z. B. Mitarbeiter von Bundes-, Landes- und kommunalen Behörden, Polizeibeamte und Richter nehmen immer wieder an, Ärzte könnten bei entsprechendem Auftrag das Alter eines jungen Menschen genau definieren. Besonders wird dabei an die Feststellung des „Knochenalters“ mit Röntgenaufnahmen der Hand und der Brustbein Schlüsselbeingelenke sowie des „Zahnalters“ mit Hilfe des Orthopantomogramms („Panoramaaufnahme“ des Gebisses) gedacht. Leider gibt es Mediziner, vorwiegend in den Instituten für Rechtsmedizin, die derartige Auftrags-Untersuchungen vornehmen und damit bei Nichtmedizinern den Glauben an die Genauigkeit dieser Methoden bestärken.
Das Knochenalter kann nämlich vom chronologischen Alter um zwei bis drei Jahre nach unten und nach oben abweichen. Ein junger Mensch, bei dem beispielsweise ein Hand-Knochenalter von 18 Jahren bescheinigt wird, kann demnach zwischen 16 und 20 Jahre alt sein, im Extremfall sogar zwischen 15 und 21. Nur bei 25 % der Untersuchten stimmen Knochen- und tatsächliches Alter überein. Mit den Gebiss-Röntgenaufnahmen, mit denen man nach den 3. Molaren, den „Weisheitszähnen“ fahndet und gleichzeitig den Mineralisationsgrad der Zähne festzustellen versucht, gewinnt man auch nicht mehr Sicherheit. Die Weisheitszähne können im Alter von 16 bis 25 Jahren ausreifen, die Mineralisation zeigt ebenfalls eine große Schwankungsbreite. Der strahlenintensiven CT-Untersuchung der Schlüsselbeingelenke wird neuerdings, besonders seitens der Rechtsmediziner, die größte Bedeutung zugemessen. Aber auch diese Untersuchung mit vorgeblich klaren Stadieneinteilungen (Kellinghaus et al., 2009), die aber anhand zu kleiner Referenzkollektive definiert wurden und von „fließenden Übergängen“ gekennzeichnet sind , ist untauglich für eine exakte Altersschätzung. Die Mitglieder der „Arbeitsgemeinschaft für Forensische Altersdiagnostik“ (AGFAD) der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin werden in Strafverfahren seitens der Gerichte oft herangezogen, um das Alter eines jungen Straftäters zu schätzen. Dabei geht es um die Frage, ob der Betreffende noch nach dem Jugendstrafrecht zu behandeln ist."
Der Deutsche Ärztetag hat 2014 ausdrücklich eine Altersbestimmung mit Röntgen als unethisch bezeichnet.
Die Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer (ZEKO) hat sich jüngst gegen eine Altersbestimmung bei minderjährigen Flüchtlingen ausgesprochen, allerdings primär fokussiert auf das Verwaltungsverfahren, nicht auf das Strafverfahren.
Die angesprochene Organisation AGFAD sieht das natürlich anders. Nach ihren Empfehlungen für das Strafverfahren sind sowohl Aussagen zum wahrscheinlichsten Alter als auch zum „Mindestalter“ durchaus auf ethisch akzeptable Weise und mit hinreichender wissenschaftlicher Präzision möglich, Auszüge:
"Es besteht breiter Konsens über die derzeit am besten geeignete Methodik. Diese umfasst:
- die körperliche Untersuchung mit Erfassung anthropometrischer Maße (Körperhöhe und -gewicht, Körperbautyp), der sexuellen Reifezeichen sowie möglicher alterungsrelevanter Entwicklungsstörungen,
- die Röntgenuntersuchung der linken Hand,
- die zahnärztliche Untersuchung mit Erhebung des Zahnstatus und Röntgenuntersuchung des Gebisses,
- bei abgeschlossener Handskelettentwicklung eine zusätzliche Untersuchung der Schlüsselbeine, zurzeit bevorzugt mittels konventioneller Röntgendiagnostik bzw. Computertomographie (Kreitner et al. 1997, Schulz et al. 2008).
Zur Erhöhung der Aussagesicherheit und zur Erkennung altersrelevanter Entwicklungsstörungen sollten alle genannten Methoden eingesetzt werden. Forensische Kernaussage des Gutachtens ist je nach Untersuchungsauftrag die Angabe des wahrscheinlichsten Alters des Betroffenen und/ oder der Wahrscheinlichkeit dafür, dass das vom Betroffenen angegebene Alter tatsächlich zutrifft bzw. die jeweils strafrechtlich relevante Altersgrenze überschritten ist.
Die für die Altersdiagnose verwendeten Methoden und Referenzstudien sind im Gutachten aufzuführen. Für jedes untersuchte Merkmal ist neben dem wahrscheinlichsten Alter das Streuungsmaß der Referenzpopulation anzugeben (Rösing 2000). Zu beachten ist ferner, dass sich der Toleranzbereich durch einen empirischen Beobachterfehler erhöhen kann."
Im Freiburger Fall kommt es auf das Alter zur Tatzeit (Oktober 2016) an. Für die Anwendung des JGG entscheidend ist, ob der Beschuldigte zu diesem Zeitpunkt schon 18 bzw. schon 21 Jahre alt war oder nicht. Regelmäßig kann man mit einer für die gerichtliche Wertung notwendigen Sicherheit nur ein Altersintervall von mehreren Jahren bestimmen. Da das Gutachten selbst nicht bekannt ist, weiß ich nicht, was genau das Ergebnis dieses Gutachtens war. Hat der Sachverständige festgestellt, der Beschuldigte sei mit hoher Sicherheit zwischen 22 und 26 Jahren alt, aber jedenfalls „mindestens 22“, dann wäre dem Gericht der sichere Schluss möglich, dass er zur Tatzeit bereits erwachsen war. Ist 22 aber nur das wahrscheinlichste Alter innerhalb eines Altersintervalls (z.B. 20 bis 24), dann wäre zwar auszuschließen, dass der Beschuldigte noch Jugendlicher (also unter 18) war, es wäre aber gut möglich, dass er zur Tatzeit noch Heranwachsender (also unter 21) war.
2. Rechtliche Folgen
a) Ist nicht auszuschließen, dass der Beschuldigte zur Tatzeit noch Heranwachsender war, dann ist er als Heranwachsender vor dem Jugendgericht (Jugendkammer) anzuklagen, § 109 JGG. Dabei gilt, obwohl es sich um eine Verfahrensvorschrift handelt, wegen der materiellrechtlichen Auswirkungen der Grundsatz in dubio pro reo.
Das Jugendgericht hat dann nach Maßgabe des § 105 Abs.1 JGG zu entscheiden, ob auf den Beschuldigten noch materielles Jugendstrafrecht anzuwenden ist. Wird dies bejaht - wie statistisch in den meisten Fällen - , kommt als Höchststrafe bei einem Mord zehn Jahre, bei "besonderer Schuldschwere" 15 Jahre in Betracht (§ 105 Abs.3 JGG). Wird in diesem Fall von der Jugendkammer hingegen Erwachsenenstrafecht angewendet, dann ist die Höchststrafe des § 211 StGB (lebenslange Freiheitsstrafe) einschlägig, diese kann aber bei einem Heranwachsenden auf maximal 15 Jahre reduziert werden (§ 106 Abs.1 JGG).
b) Kann aber ausgeschlossen werden, dass der Beschuldigter zur Tatzeit Heranwachsender war, ist er also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bereits 21 oder 22 Jahre alt gewesen, dann kommt nur eine Anklage vor einem Erwachsenengericht (Strafkammer als Schwurgericht nach § 74 Abs.2 GVG) in Betracht. Die Kammer wird in diesem Fall allerdings im Zwischenverfahren die Bewertung der Staatsanwaltschaft hinsichtlcih der Zuständigkeit genau zu prüfen haben.
Bei Mord gilt bei einem zur Tatzeit Erwachsenen die absolute Strafe „lebenslang“ (§ 211 Abs.1 StGB).