Erforderliche Umkleidezeiten sind vergütungspflichtig
Gespeichert von Prof. Dr. Christian Rolfs am
1. Das Umkleiden ist Teil der vom Arbeitnehmer geschuldeten und ihm zu vergütenden Arbeitszeit, wenn der Arbeitgeber das Tragen einer bestimmten Kleidung vorschreibt, die im Betrieb an- und abgelegt werden muss.
2. Steht fest (§ 286 ZPO), dass Umkleide- und Wegezeiten auf Veranlassung des Arbeitgebers entstanden sind, kann aber der Arbeitnehmer seiner Darlegungs- oder Beweislast für den zeitlichen Umfang, in dem diese erforderlich waren, nicht in jeder Hinsicht genügen, darf das Gericht die erforderlichen Umkleide- und damit verbundenen Wegezeiten nach § 287 Abs. 2 iVm. Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 ZPO schätzen.
Das hat das BAG entschieden.
Der Kläger ist bei der Beklagten in der Lebensmittelproduktion beschäftigt. Im Arbeitsvertrag haben die Parteien u.a. vereinbart, dass er aufgrund der bei der Produktion von Lebensmitteln geltenden Hygieneverordnung verpflichtet ist, den Dienst täglich mit sauberer und vollständiger Dienstkleidung anzutreten und zu erfüllen. Die Bedienung der Zeiterfassungsanlage, d.h. das An- und Abstempeln, hat vertraglich ausschließlich persönlich und immer in einwandfreier Dienstkleidung zu erfolgen. Die Wegezeiten zu bzw. von den Stempeluhren oder Pausenräumen sollen „leistungsentgeltfrei“ sein.
Der Kläger verlangt die Vergütung der Umkleide- und damit verbundenen Wegezeiten. Das Arbeitsgericht hat vor Ort Beweis erhoben: Die Kammer ist mit den Parteien die erforderlichen Wege abgeschritten, die Kammervorsitzende hat sich umgezogen und die dafür erforderlichen Zeiten ermittelt. Aufgrund dessen hat sie dem Kläger arbeitstäglich Vergütung für weitere 27 Minuten zuerkannt. Berufung und Revision der Beklagten blieben ohne Erfolg.
Vergütungspflichtig ist die Zeit, die für das An- und Ablegen der Arbeitskleidung und das Zurücklegen der damit verbundenen innerbetrieblichen Wege erforderlich ist (vgl. BAG 19. März 2014 -5 AZR 954/12 - Rn. 26). Zur Ermittlung der Zeitspanne ist ein modifizierter subjektiver Maßstab anzulegen, denn der Arbeitnehmer darf seine Leistungspflicht nicht frei selbst bestimmen, sondern muss unter angemessener Ausschöpfung seiner persönlichen Leistungsfähigkeit arbeiten. „Erforderlich“ ist nur die Zeit, die der einzelne Arbeitnehmer für das Umkleiden und den Weg zur und von der Umkleidestelle im Rahmen der objektiven Gegebenheiten unter Ausschöpfung seiner persönlichen Leistungsfähigkeit benötigt (BAG 19. September 2012 – 5 AZR 678/11 – Rn. 24, BAGE 143, 107; 12. November 2013 – 1 ABR 59/12 – Rn. 48, BAGE 146, 271; 19. März 2014 – 5 AZR 954/12 – Rn. 47). Bei Ermittlung der erforderlichen Zeit gilt es, die Variablen des Umkleidevorgangs zu berücksichtigen. Hierzu gehören ua. die Fragen, welche Privatkleidung je nach Jahreszeit der Arbeitnehmer zuvor getragen hat und welche Wartezeiten (auf die Ausgabe der Kleidung, auf Aufzüge etc.) notwendigerweise entstehen.
Im Arbeitsvertrag waren Umkleidezeiten nur als "leistungsentgeltfrei" bezeichnet, beansprucht wurde aber ein zeitbezogener Stundenlohn
Die arbeitsvertragliche Vereinbarung, die Wegezeiten seien „leistungsentgeltfrei“, stehe dem Anspruch schon deshalb nicht entgegen, weil der Kläger für die Wegezeiten kein leistungsbezogenes Entgelt (z.B. Akkordlohn), sondern ein zeitbezogenes Entgelt (Stundenlohn) beanspruche.
BAG, Urt. vom 26.10.2016 – 5 AZR 168/16, BeckRS 2016, 114241