Paukenschlag aus Erfurt: Arbeitszeiterfassung ist verpflichtend
Gespeichert von Prof. Dr. Markus Stoffels am
Im sog. Stechuhr-Urteil hatte der EuGH (14.5.2019 – C-55/18, NZA 2019, 683 - CCOO) vor gut zwei Jahren aus der Arbeitszeit-Richtlinie 2003/88 und aus dem in Art. 31 II GRCh verankerten Grundrecht abgeleitet, dass die Mitgliedstaaten die Arbeitgeber verpflichten müssten, ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzuführen, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann. Über die Konsequenzen für das deutsche Arbeitsrecht ist seitdem intensiv diskutiert worden. Nach § 16 Abs. 2 ArbZG ist der Arbeitgeber lediglich verpflichtet, die über die werktägliche Arbeitszeit des § 3 S. 1 hinausgehende Arbeitszeit des Arbeitnehmers aufzuzeichnen. Von daher steht zu erwarten, dass der deutsche Gesetzgeber seiner Umsetzungsverpflichtung alsbald nachkommt. Der Koalitionsvertrag deutet dies auch an. Nunmehr ist das BAG (Beschluss vom 13. September 2022 – 1 ABR 22/21, PM 35/22) vorgeprescht und hat mit einer überraschenden Begründung eine bereits jetzt bestehende Verpflichtung der Arbeitgeber zur umfassenden Arbeitszeiterfassung bejaht. Der Ausgangsfall – betriebsverfassungsrechtlich eingekleidet - lag wie folgt:
Der antragstellende Betriebsrat und die Arbeitgeberinnen, die eine vollstationäre Wohneinrichtung als gemeinsamen Betrieb unterhalten, schlossen im Jahr 2018 eine Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeit. Zeitgleich verhandelten sie über eine Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeiterfassung. Eine Einigung hierüber kam nicht zustande. Auf Antrag des Betriebsrats setzte das Arbeitsgericht eine Einigungsstelle zum Thema „Abschluss einer Betriebsvereinbarung zur Einführung und Anwendung einer elektronischen Zeiterfassung“ ein. Nachdem die Arbeitgeberinnen deren Zuständigkeit gerügt hatten, leitete der Betriebsrat ein Beschlussverfahren ein. Er hat die Feststellung begehrt, dass ihm ein Initiativrecht zur Einführung eines elektronischen Zeiterfassungssystems zusteht.
Das BAG gibt der Arbeitgeberseite recht und weist zunächst darauf hin, dass der Betriebsrat hat nach § 87 Abs. 1 Eingangssatz BetrVG in sozialen Angelegenheiten nur mitzubestimmen, soweit eine gesetzliche oder tarifliche Regelung nicht besteht. Bei unionsrechtskonformer Auslegung von § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG sei der Arbeitgeber gesetzlich verpflichtet, die Arbeitszeiten der Arbeitnehmer zu erfassen. Dies schließe ein – ggfs. mithilfe der Einigungsstelle durchsetzbares – Initiativrecht des Betriebsrats zur Einführung eines Systems der Arbeitszeiterfassung aus.
§ 3 ArbSchG lautet auszugsweise wie folgt:
„§ 3 Grundpflichten des Arbeitgebers
(1) Der Arbeitgeber ist verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes unter Berücksichtigung der Umstände zu treffen, die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten bei der Arbeit beeinflussen. Er hat die Maßnahmen auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen und erforderlichenfalls sich ändernden Gegebenheiten anzupassen. …
(2) Zur Planung und Durchführung der Maßnahmen nach Absatz 1 hat der Arbeitgeber unter Berücksichtigung der Art der Tätigkeiten und der Zahl der Beschäftigten
1. für eine geeignete Organisation zu sorgen und die erforderlichen Mittel bereitzustellen …
Ob diese Vorschrift tatsächlich eine tragfähige Grundlage für eine richtlinienkonforme Auslegung darstellt, wird man bezweifeln können. Jedenfalls sollte sich der Gesetzgeber nunmehr möglichst bald der Sache annehmen und insbesondere die näheren Modalitäten und Ausnahmen der Arbeitszeiterfassung näher regeln.
Der Beschluss ist zweifellos von großer Tragweite. Arbeitszeiterfassung ist nunmehr eine Pflicht der Arbeitgeber. Das BAG formuliert in der Pressemitteilung ganz klar: „Der Arbeitgeber ist nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG verpflichtet, ein System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann.“