Big Brother 2.0 oder 1984 reloaded – Anforderungen und Risiken der automatisierten öffentlichen Videoüberwachung
Gespeichert von Prof. Dr. Dennis-Kenji Kipker am
Seit Anfang August findet am Bahnhof Berlin-Südkreuz der Testlauf der Videoüberwachung mit automatisierter Gesichtserkennung statt, der gemeinsam vom Bundesinnenministerium, der Bundespolizei, dem Bundeskriminalamt sowie von der Deutschen Bahn durchgeführt wird. Der Pilotversuch ist zurzeit auf sechs Monate befristet und soll es den beteiligten Behörden ermöglichen, abzuschätzen, ob die eingesetzte Technik tatsächlich wie geplant funktioniert – das heißt vor allem, ob die Bilderkennung zuverlässig funktioniert und ob sich die Zahl der Fehlalarme in Grenzen hält. Hierzu wurden in etwa 200 Personen, die den Bahnhof regelmäßig frequentieren, vorab fotografiert und deren Fotos in einer Datenbank gespeichert, die für den Abgleich der im Bahnhof aufgenommenen Fotos mit einer fiktiven Fahndungsdatei zuständig ist. Die Probanden tragen zudem einen kleinen Funksender, um für die Überprüfung des Abgleichs zu erkennen, ob sich eine Person im Bahnhof aufgehalten hat. Damit es im Rahmen der Pilotierung möglich ist, sich den polizeilichen Videoaufnahmen gegebenenfalls zu entziehen, wurde der Bahnhof in zwei erkennbar markierte Bereiche aufgeteilt: Einen Bereich ohne Kameraüberwachung, und den so genannten „Erkennungsbereich“, der mit der automatisierten Videoüberwachung ausgestattet ist. So soll es den Betroffenen ermöglicht werden, der Videoüberwachung gezielt auszuweichen.
Sicherheit versus Datenschutz
Schon im Vorfeld der Pilotierung war die automatisierte Videoüberwachung einer erheblichen Kritik von Bürgerrechtlern und Datenschützern ausgesetzt. So argumentierte der Deutsche Anwaltverein bereits, dass es aktuell keine Rechtsgrundlage für die Durchführung einer derartigen Videoüberwachung gäbe. Dies würde zwangsläufig bedeuten, dass die zurzeit gegebenen Ermächtigungsgrundlagen zur Videoüberwachung auf öffentlichen Plätzen zu Zwecken der öffentlichen Sicherheit nicht geeignet wären, um auch eine automatisierte Erkennung von Personen durchzuführen. Von Datenschützern wird darüber hinaus auch die Effektivität der Maßnahme angezweifelt und auf die nicht wenigen Fälle videotechnisch dokumentierter Kriminalität gewesen, in denen die Überwachungskamera auch nicht als Abschreckungsmittel zur Begehung einer Straftat herangezogen werden konnte. Im Gegensatz dazu argumentierte der Bundesinnenminister, Thomas de Maizière, dass öffentliche Plätze sicher sein müssten. Nicht zuletzt komme es auch auf das Sicherheitsempfinden das Bürgers an, das durch eine sichtbare Videoüberwachung deutlich gestärkt werde. Nach Auffassung des Bundesinnenministeriums lässt sich die automatisierte Videoüberwachung in den Kanon des allgemeinen technischen Fortschritts einordnen, der auch bei der Unterstützung polizeilicher Kriminalitätsbekämpfung nicht halt machen dürfe.
Polizeiliche Videoüberwachung öffentlicher Plätze – grundsätzlich nichts Neues
Die Überwachung öffentlicher Plätze mit so genannten „optisch-elektronischen Einrichtungen“, also Videokameras, ist keineswegs neu. Schon seit Jahren existieren entsprechende Ermächtigungsgrundlagen in den jeweiligen Polizeigesetzen, die es ermöglichen, an besonders gefährdeten öffentlichen Orten Kameras zu installieren. Das Bremische Polizeigesetz beispielsweise enthält in einem eigenen Unterabschnitt Rechtsgrundlagen zur Informationsverarbeitung. Gem. § 29 Abs. 3 BremPolG dürfen öffentlich zugängliche Orte, an denen vermehrt Straftaten begangen werden oder bei denen aufgrund der örtlichen Verhältnisse die Begehung von Straftaten besonders zu erwarten ist, durch den Polizeivollzugsdienst offen und erkennbar mittels Videokameras überwacht werden, wenn dies zur Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit erforderlich ist. Die Abwehr von Gefahren umfasst dabei auch die Verhütung von Straftaten, § 1 Abs. 1 BremPolG.
Jede Videoüberwachung ist ein Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung
Mit jedem von staatlicher Seite aus angeordneten Kameraeinsatz ist zugleich ein Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung als Ausprägung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts gem. Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG der Aufgenommenen verbunden. Die Videoaufzeichnung beeinträchtigt das Recht am eigenen Bild und, sofern eine Tonaufzeichnung erfolgt, unter Umständen auch das gesprochene Wort. Dieser verfassungsrechtliche Prüfungsmaßstab ist unabhängig davon, ob die Maßnahme präventiven Zwecken, also solchen der polizeilichen Gefahrenabwehr, oder aber repressiven Zwecken dient und somit der Sicherstellung einer effektiven Strafverfolgung zugute kommen soll.
Die automatisierte Gesichtserkennung wiegt besonders schwer – gleichwohl dürfen auch staatliche Sicherheitsinteressen nicht völlig unberücksichtigt bleiben
Besonders im Hinblick auf die Eingriffstiefe wiegt eine Videoüberwachung, die mit einer automatisierten Gesichtserkennung verbunden ist, deutlich schwerer als eine Videoüberwachung ohne technische Auswertung des Datenmaterials, denn im erstgenannten Fall dürfte es erheblich schwieriger sein, sich der Identifizierung und damit der Individualisierung seiner Person zu entziehen. Dieses Argument wurde im Vorfeld des Berliner Pilotversuchs von Datenschützern ebenso vertreten. Auch ist es nicht ausgeschlossen, dass durch die automatisierte Gesichtserkennung das subjektive Gefühl des „Überwachtwerdens“ noch intensiver und der Einzelne im öffentlichen Raum so deutlich stärker als bisher gehemmt wird, von seinen grundrechtlichen Freiheiten Gebrauch zu machen. Nahezu jeder, der schon einmal in Großbritannien, dem europäischen Pionier der Videoüberwachung (CCTV), aufmerksam unterwegs gewesen ist, dürfte dieses Gefühl kennen. Dementsprechend sind an die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der automatisierten Gesichtserkennung hohe Maßstäbe anzulegen, was sich in einer strengen Anwendung des aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes darstellt. Gleichwohl muss aber auch dem staatlichen Interesse an der Aufrechterhaltung und Förderung der öffentlichen Sicherheit sowie der gestiegenen Bedrohungslage im öffentlichen Verkehrsraum Rechnung getragen werden. Dies führt dazu, dass die automatisierte Videoüberwachung von öffentlichen Plätzen nicht per se unzulässig sein kann, wie es auch streckenweise vertreten wird.
Grundrechtsschutz durch Verfahren – „Privacy by Design“
Ein zentraler Weg zur Gewährleistung eines effektiven Schutzes der informationellen Selbstbestimmung auch bei automatisiert agierenden staatlichen Überwachungsinstrumenten kann durch die Idee des „Grundrechtsschutzes durch Verfahren“ gesehen werden. Mittels dieses allgemeinen verfassungsrechtlichen Gedankens soll im Ergebnis die Tiefe der Grundrechtseingriffe relativiert werden, indem besondere gesetzliche Beschränkungen und Kontrollen vorzusehen sind. Auf das Datenschutzrecht bezogen kann hierzu auch der Grundsatz der „Privacy by Design“ gezählt werden, der nunmehr auch explizit Eingang in das europäische Datenschutzrecht gefunden hat, indem er in Art. 25 der neuen Datenschutz-Grundverordnung (EU DS-GVO) festgeschrieben wird. Ausgehend von der EU DS-GVO bedeutet „Privacy by Design“, dass die datenverarbeitende Stelle geeignete technische und organisatorische Maßnahmen (TOM) trifft, um den Datenschutzgrundsätzen nachzukommen, den gesetzlichen Anforderungen im Hinblick auf die Datenverarbeitung zu genügen und um die Betroffenenrechte wirksam zu schützen. Zu den TOM gehören auch Maßnahmen, welche die Zweckbindung im Umgang mit den einmal erhobenen Daten sicherstellen (dass Daten also grundsätzlich nur für den Zweck verarbeitet werden dürfen, zu welchem sie ursprünglich erhoben worden sind), die verarbeitete Datenmenge auf das absolut notwendige Maß begrenzen (Datenvermeidung und Datensparsamkeit) sowie die Speicherfrist und die Zugänglichkeit zu den personenbezogenen Daten beschränken. Im Ergebnis bedeutet „Privacy by Design“ folglich, dass Datenschutz und Privatsphäre bereits bei der Technikgestaltung berücksichtigt werden und den Betroffenen bei jeder Datenverarbeitung immer noch ein bestimmtes Maß an Transparenz und Kontrolle über die eigenen Informationen eingeräumt wird.
Einzelfragen für den Datenschutz bei der automatisierten Gesichtserkennung und eine absolute Grenze
Bezogen auf die Pilotierung der automatisierten Gesichtserkennung am Bahnhof Berlin-Südkreuz stellen sich damit verschiedene, zurzeit noch offene Einzelfragen, die in einer zeitlich begrenzten Einsatzphase datenschutzrechtlich vielleicht noch zulässig sein mögen, mittelfristig aber einer unbedingten Klärung bedürfen. So stellt sich unter dem Gesichtspunkt des Zweckbindungsgrundsatzes die Frage, was mit den einmal erhobenen Daten geschieht. Zwar ist zurzeit vorgesehen, die erhobenen Datenbestände nur für den Videoabgleich der erfassten Personen mit einer Bild- bzw. Fahndungsdatenbank vorzunehmen, jedoch hat die Vergangenheit gezeigt, dass einmal zu bestimmten Zwecken der staatlichen Sicherheit erhobene Daten auch für andere Gefahrenabwehr- oder Ermittlungszwecke zugänglich gemacht werden können. Auch sind in der jüngsten Vergangenheit immer wieder erneute sicherheitspolitische Forderungen laut geworden, behördliche Datenbanken noch weiter miteinander zu vernetzen. Damit verbunden stellt sich zugleich auch eine der wesentlichsten Fragen der neuen Technik: Bleibt der automatisierte Gesichtsabgleich ein schwerwiegender und rechtfertigungsbedürftiger Einzelfall, der nur an besonders gefährdeten öffentlichen Orten eingesetzt wird oder aber entwickelt sich die computergestützte Gesichtserkennung zunehmend zu einer polizeilichen Standardmaßnahme, um öffentliche Orte allgemein abzusichern? Für letzteren Fall würde eine schleichende Entwertung der informationellen Grundrechte zugunsten der öffentlichen Sicherheit drohen, verbunden mit dem Risiko einer Dauerüberwachung des Bürgers im öffentlichen Raum, insbesondere dann, wenn der Abgleich auch mit biometrischen Daten, beispielsweise aus dem Personalausweis- oder aus dem Passwesen, stattfindet.
Schwellenwerte, Betroffenenrechte und Kontrolle
Eine weitere, ebenso schon mit der Pilotierung verbundene Fragestellung, betrifft die Schwellenwerte, ab wann eine Person beispielsweise als polizeilicher Gefährder bzw. Störer eingestuft wird. Nicht zuletzt soll die Videoüberwachung auch dabei helfen, gefahrenträchtige Situationen zu antizipieren und es den Sicherheitskräften ermöglichen, proaktiv einzugreifen. Die Grenze zur Diskriminierung von Betroffenen im Rahmen einer derart erfolgenden automatisierten Einordnung und Bewertung von Personen(gruppen) ist grundsätzlich eng zu ziehen. Wie auch schon für den Einsatz der polizeilichen Body-Cams ist darüber hinaus zu diskutieren, wie und wo der durch die stationäre Videoüberwachung Betroffene seine ihm gesetzlich zustehenden Datenschutzrechte geltend machen kann. Hiermit verbunden ist auch die Frage, wann und unter welchen Bedingungen die erhobenen personenbezogenen Daten wieder gelöscht werden. Nicht zuletzt muss die gesamte, mit der automatisierten Videoüberwachung verbundene Datenverarbeitung unter einer lückenlosen Kontrolle der Datenschutzbehörden sowie der Gerichte stehen. Ob und inwieweit dies gewährleistet werden kann, ist zum jetzigen Zeitpunkt auch noch nicht in ausreichendem Maße geklärt.
Fazit und Ausblick
Im Ergebnis verhält es sich auch mit der automatisierten Videoüberwachung ähnlich wie bereits für eine Vielzahl von Überwachungsmaßnahmen, die in der Vergangenheit neu eingeführt wurden: Versprochen sind erhebliche Auswirkungen auf die Förderung der öffentlichen Sicherheit; der Nachweis jedoch, dass die Maßnahme tatsächlich auch das hält, was sie verspricht, wird nie wirklich geführt. Zwar ist verfassungsrechtlich keine „absolute Geeignetheit“ für staatliche Maßnahmen zu Zwecken der öffentlichen Sicherheit zu fordern, jedoch haben verschiedene Fälle in der jüngeren Vergangenheit gezeigt, dass auch die Videoüberwachung nicht in der Lage ist, jegliche Straftat im öffentlichen Raum zu verhindern. Auch ist fraglich, ob in Bruchteilen von Sekunden oder nur wenigen Minuten ausreichend Zeit verbleibt, um eine gefahrbringende Situation zu antizipieren und entsprechende Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Im Hinblick auf die in den vergangenen Jahren jedoch nachweislich gestiegene Bedrohungslage im öffentlichen Raum bleibt aber zumindest zu hoffen, dass die automatische Gesichts- und Gefährdungserkennung wenigstens ansatzweise in der Lage sein wird, ihr rechtspolitisches Versprechen einzulösen – wenn denn schon durch sie in die informationellen Grundrechte eingegriffen wird. Und ganz gleich, wie man zur Videoüberwachung im öffentlichen Raum stehen mag: In jedem Falle sind flankierende Schutz- und Verfahrensregelungen vorzusehen, um eine schrittweise Aushöhlung der informationellen Selbstbestimmung tunlichst zu verhindern. Die oft gepredigte Maxime „Sicherheit oder Freiheit“ gewinnt im Kontext einer dystopisch allgegenwärtigen, vernetzten und automatisierten Gesichtserkennung eines jeden Bürgers in der Öffentlichkeit eine gänzlich neue Dimension.