Der Freispruch, das unbekannte Wesen
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Bevor dies im „Sommerloch“ verschwindet, möchte ich hier einige Ergebnisse einer kriminologischen Untersuchung zum Freispruch weitergeben, die meine Tübinger Kollegen Jörg Kinzig und Wolfgang Stelly in der neuen Ausgabe des Strafverteidiger (Strafverteidiger 2017, 610 ff.) veröffentlicht haben. Der Artikel ist lesenswert.
In den fünf näher untersuchten Jahren (2011 bis 2015) seien jeweils 3 % der strafrechtlich Abgeurteilten und damit immerhin ca. 27000 Personen pro Jahr freigesprochen worden, allerdings regional mit unterschiedlicher Häufigkeit (z.B. weniger in Hessen und Bremen, mehr in Sachsen und Hamburg).
Erwartungsgemäß sind Freisprüche über die angeklagten Deliktsarten hinweg nicht gleichverteilt: Geringere Freispruchchancen hat statistisch gesehen, wer wegen BtM-Delikten, Diebstahls od. Unterschlagung, Betrugs od. Untreue angeklagt ist (2 – 2,5 %), während Gewaltdelikte (Körperverletzung, Tötungsdelikte, Raub- und Erpressung) eine deutlich höhere Freispruchquote aufweisen (6 – 10 %). Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung weisen die relativ höchste Freispruchquote auf. Beim innerhalb dieser Deliktsgruppe schwersten Tatvorwurf (Vergewaltigung/sexuelle Nötigung) werden sogar ca. ein Viertel der Angeklagten freigesprochen. Die Autoren der Studie machen dafür (hypothetisch formuliert) vor allem die Beweiskonstellation „Aussage-gegen-Aussage“ verantwortlich. Das erscheint plausibel: In der genannten Deliktsgruppe liegen seltener Sachbeweise vor, die eine Verurteilung nach Anklageerhebung besser vorhersehbar erscheinen lassen. Bei Aussage-gegen-Aussage hängt das Prozessergebnis daher viel stärker vom Aussageverhalten in der Hauptverhandlung und der Einschätzung der Glaubhaftigkeit durch das Gericht ab, und diese Einschätzung kann sich auch erheblich von der der Staatsanwaltschaft unterscheiden, die ja ohnehin mit der Anklage nur eine Verurteilungs-„wahrscheinlichkeit“ prognostizieren muss. Dass das neue Sexualstrafrecht die Freispruchquote verringert, wird von Kinzig/Stelly bezweifelt. Welche "Muster" bzw. "Fehlerquellen" zu dieser hohen Freispruchquote führen, soll noch durch eine eingehende Aktenanalyse ermittelt werden.
Nicht erwähnt wird in der Untersuchung die vergleichsweise sehr hohe Freispruchquote bei "Körperverletzung im Amt" (Angeklagt sind meist Polizeivollzugsbeamte); hier liegt die Freispruchquote ebenfalls über 20 % der Abgeurteilten (hierzu mein früherer Beitrag).
Zu berücksichtigen sei, dass ein Freispruch erst am Ende des gesamten stufenweisen Selektionsprozesses im Strafverfahren in Betracht kommt: Immerhin münden überhaupt nur 20% der Ermittlungsverfahren in Strafbefehl oder Anklage (mit seit Jahrzehnten sinkender Tendenz). Demgegenüber überrascht es, dass die Freispruchquoten relativ stabil geblieben sind, nämlich nur leicht abgenommen haben. Im Bundesländervergleich zeigte sich, dass eine höhere Anklagequote nicht mit einer höheren Freispruchquote korrespondiert. Offenbar gibt es hier komplexere Zusammenhänge, die sich nicht allein aus der Statistik nachvollziehen lassen.
Die Autoren haben zudem näher betrachtet, inwieweit vorherige Untersuchungshaft die Freispruchwahrscheinlichkeit verändert: Wenig überraschend sinkt die Freispruchwahrscheinlichkeit insgesamt (auf nur noch 1,2 bis 1,6 % der Abgeurteilten), wenn der Angeklagte zuvor in Haft war. Das lässt sich damit erklären, dass der dringende Tatverdacht ja zuvor schon gerichtlich geprüft wird. Immerhin wird aber durch Untersuchungshaft der Freispruch nicht völlig ausgeschlossen.
Der Strafverteidiger sollte seinem Mandanten aber nicht zu viel versprechen: Ein Freispruch bleibt ein relativ seltenes Prozessergebnis. Aus der statistischen Perspektive ist es aussichtsreicher, schon die Anklage zu vermeiden.
Am Ende muss beachtet werden: Ein Freispruch mag zwar oberflächlich als ein "Sieg der Gerechtigkeit" erscheinen, doch er hat auch zwei nachteilige Seiten: Der zu Unrecht Beschuldigte erleidet oft Nachteile, die durch das StREG nur unzureichend kompensiert werden (können), selbst wenn keine Untersuchungshaft vorausging. Und wenn ein tatsächlich stattgefundenes Delikt letztlich unaufgeklärt bleibt, kann dies für Opfer einer Straftat gleichfalls einen schweren Schlag bedeuten.