Häusliche Pflege: Mindestlohn für 21 Stunden pro Tag
Gespeichert von Prof. Dr. Christian Rolfs am
Den Gewerkschaften ist die häusliche 24-Stunden-Pflege durch osteuropäische Pflegekräfte schon lange ein Dorn im Auge, jetzt könnte ein Urteil des LAG Berlin-Brandenburg ihr Sargnagel sein: Das Gericht hat einer Pflegekraft den Mindestlohn von derzeit 9,35 Euro/Stunde für 21 Stunden pro Tag zugesprochen:
Die Klägerin, eine bulgarische Staatsangehörige, wurde auf Vermittlung einer deutschen Agentur, die mit dem Angebot „24 Stunden Pflege zu Hause“ wirbt, von ihrem in Bulgarien ansässigen Arbeitgeber nach Deutschland entsandt, um eine hilfsbedürftige 96-jährige Dame zu betreuen. In dem Arbeitsvertrag der Klägerin war eine Arbeitszeit von 30 Stunden wöchentlich vereinbart. In dem Betreuungsvertrag mit der zu versorgenden Dame war eine umfassende Betreuung mit Körperpflege, Hilfe beim Essen, Führung des Haushalts und Gesellschaftleisten und ein Betreuungsentgelt für 30 Stunden wöchentlich vereinbart. Die Klägerin war gehalten, in der Wohnung der zu betreuenden Dame zu wohnen und zu übernachten.
Mit ihrer Klage hat die Klägerin Vergütung von 24 Stunden täglich für mehrere Monate gefordert und zur Begründung ausgeführt, sie sei in dieser Zeit von 6.00 Uhr morgens bis etwa 22.00/23.00 Uhr im Einsatz gewesen und habe sich auch nachts bereithalten müssen, falls sie benötigt werde. Sie habe deshalb für die gesamte Zeit einen Anspruch auf den Mindestlohn. Der Arbeitgeber hat die behaupteten Arbeitszeiten bestritten und sich auf die arbeitsvertraglich vereinbarte Arbeitszeit berufen.
Das Landesarbeitsgericht hat der Klägerin den geforderten Mindestlohn ausgehend von einer täglichen Arbeitszeit von 21 Stunden zugesprochen. Zur Begründung hat das Landesarbeitsgericht ausgeführt, die Berufung des Arbeitgebers auf die vereinbarte Begrenzung der Arbeitszeit auf 30 Stunden sei treuwidrig, wenn eine umfassende Betreuung zugesagt sei und die Verantwortung sowohl für die Betreuung als auch die Einhaltung der Arbeitszeit der Klägerin übertragen werde. Es sei Aufgabe des Arbeitgebers, die Einhaltung von Arbeitszeiten zu organisieren, was hier nicht geschehen sei. Die angesetzte Zeit von 30 Stunden wöchentlich sei für das zugesagte Leistungsspektrum im vorliegenden Fall unrealistisch. Die zuerkannte vergütungspflichtige Zeit ergebe sich daraus, dass neben der geleisteten Arbeitszeit für die Nacht von vergütungspflichtigem Bereitschaftsdienst auszugehen sei. Da es der Klägerin jedoch zumutbar gewesen sei, sich in einem begrenzten Umfang von geschätzt drei Stunden täglich den Anforderungen zu entziehen, sei eine vergütungspflichtige Arbeitszeit von täglich 21 Stunden anzunehmen.
Bei einem Monat mit 30 Tagen gelangt man unter Zugrundelegung des derzeitigen Mindestlohns von 9,35 Euro/Stunde auf knapp 6.000 Euro brutto im Monat (9,35 Euro/Stunde x 21/Stunden/Tag x 30 Tage/Monat). Ob Sozialversicherungsbeiträge nach deutschem Recht zu entrichten sind, lässt sich der Pressemitteilung des LAG nicht entnehmen. Wenn dies der Fall wäre, müsste die Arbeitgeberin bis zur Verjährungsgrenze (vier Jahre, § 25 Abs. 1 SGB IV) nicht nur die Arbeitgeber-, sondern wegen § 28g Satz 3 SGB IV auch die Arbeitnehmeranteile auf der Basis des sog. "Entstehungsprinzips" nachentrichten, also rund 2.400 Euro pro Monat. Zu vermuten steht allerdings, dass die Klägerin von ihrer bulgarischen Arbeitgeberin mit einer sog. A1-Bescheinigung nach Deutschland entsandt worden ist und daher bulgarisches Sozialversicherungsrecht Anwendung findet.
Die Revision wurde zugelassen.
LAG Berlin-Brandenburg, Urt. vom 17.8.2020 - 21 Sa 1900/19, becklink 2017200