BVerfG: BGH-Rechtsprechung zur "Rügeverkümmerung" verfassungsgemäß - aber drei abweichende Voten!
Gespeichert von Prof. Dr. Bernd von Heintschel-Heinegg am
Die neue Rechtsprechung des BGH (BGH [GS] NJW 2007, 2419; BGH NJW 2006, 3582) zur "Rügeverkümmerung" im Strafverfahren wahrt nach dem Beschluss des BVerfG vom 15.1.2009 - 2 BvR 2044/77 - die verfassungsrechtlichen Grenzen der richterlichen Rechtsfindung und begegnet auch im Hinblick auf die Beschuldigtenrechte auf ein faires Verfahren und auf effektiven Rechtsschutz keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Nach den Sondervotum des Vizepräsidenten des BVerfG Voßkuhle, der Richterin Osterloh und des Richters Di Fabio verkenne die Entscheidung die verfassungsrechtlichen Grenzen richterlicher Rechtsfindung.
Zum Hintergrund
Der Beschwerdeführer war wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden. In der Revision machte er mit der Verfahrensrüge geltend, der Anklagesatz sei in der Hauptverhandlung nicht verlesen worden. Zum Beweis berief er sich auf das Sitzungsprotokoll, in dem die Verlesung des Anklagesatzes nicht beurkundet war. Der Vorsitzende der Strafkammer leitete daraufhin ein Protokollberichtigungsverfahren ein. Nachdem sämtliche Kammermitglieder, die Urkundsbeamtin und der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft erklärt hatten, dass der Anklagesatz tatsächlich verlesen worden sei, wurde das Protokoll entsprechend berichtigt.
Zum Verfahrensgang
Der für die Revision zuständige 1. Strafsenat des BGH hielt die Verfahrensrüge für unbegründet, weil er die Protokollberichtigung als beachtlich ansah. An der beabsichtigten Verwerfung der Revision sah der Senat sich indes durch die bis dahin praktizierte Rechtsprechung zum "Verbot der Rügeverkümmerung" gehindert. Nach dieser bereits durch das Reichsgericht begründeten Rechtsprechung war eine Berichtigung des Protokolls für das Revisionsgericht ausnahmsweise unbeachtlich, wenn durch die Protokollberichtigung einer bereits erhobenen Verfahrensrüge die Grundlage im Protokoll entzogen würde.
Der 1. Strafsenat legte daher dem Großen Senat für Strafsachen die Sache zur Entscheidung vor (Vorlagebeschluss NJW 2006, 3582). Diese rückte von der bisherigen Rechtsprechung zum Verbot der Rügeverkümmerung ab und erkannte, dass durch eine zulässige Protokollberichtigung auch zum Nachteil des Beschwerdeführers einer bereits erhobenen Verfahrensrüge die Tatsachengrundlage entzogen werden kann. Die Urkundspersonen hätten im Vorfeld einer Rügeverkümmerung dem Protokollberichtigung allerdings den Beschwerdeführer anzuhören und - wenn dieser der Protokollberichtigung substantiiert widerspreche - die Protokollberichtigungsentscheidung zu begründen. Die Beachtlichkeit der Protokollberichtigung unterliege im Rahmen der erhobenen Verfahrensrüge der Überprüfung durch das Revisionsgericht, wobei im Zweifel das Protokoll in der nicht berichtigte Fassung gelte (BGH [GS] NJW 2007, 2419).
Künftighin
Auch wenn der Schlossplatz die neue BGH-Rechtsprechung jetzt abgesegnet hat, wird die in Teilen kritisch wissenschaftliche Seite sich sicher jetzt nochmals zu Wort melden. Auch die weitere Diskussion der Frage wird interessant sein!