Wikileaks - Grenzen der Neutralität
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Wikileaks hat in den vergangenen Wochen viel öffentliches Lob bekommen. Auch ich habe hier das von wikileaks veröffentlichte Video aus den Apache-Hubschraubern über Bagdad verlinkt und zur Diskussion gestellt. Insgesamt scheint eine Einrichtung sinnvoll, in der aus unterschiedlichen Gründen geheim gehaltene Dokumente veröffentlicht werden, um die Transparenz zu erhöhen und auch zu ermöglichen, sonst unter den Teppich gekehrte Skandale aufzuklären. Ein vorbildliches Instrument der Demokratie, oder?
In der taz erschien gestern ein Interview mit Daniel Schmitt, einem der Editoren von Wikileaks ("Wir brauchen die Obskurität noch"). Für die kritischen Fragen muss man den Interviewern (Wolf Schmidt und Daniel Schulz) danken. Denn hier sind zum Teil erstaunliche Antworten zu lesen, bei denen man doch ins Nachdenken gerät. So führt Schmitt aus, Wikileaks prüfe Dokumente nur auf Echtheit, eine inhaltliche (redaktionelle/moralische Kontrolle) erfolge nicht:
"Wir veröffentlichen alles, was nicht von irgendwem selbst verfasst wurde und ein echtes Dokument ist, egal ob es von links oder von rechts kommt. Uns kümmert auch nicht, was eine Quelle motiviert. Ob sie jemanden in die Pfanne hauen oder ob sie die Welt verbessern will - wir veröffentlichen. Viel neutraler geht es nicht."
In diesem Zusammenhang:
"Frage: Sie hatten auch die Mitgliederliste der rechtsextremen BNP in England publiziert, mit Namen und Adressen. Würden Sie das auch bei einer linken Gewerkschaft in einem Staat machen, in dem sie extrem angefeindet wird, in Mittelamerika etwa? Antwort: Das wäre ein sehr schwieriger Fall. Aber aufgrund unserer Kriterien müssten wir das wohl." Auf den Einwand, wikileaks könne nicht neutral sein, wenn die Quelle, die bei wikileaks veröffentlicht, nicht neutral ist, antwortet Schmitt, die Gegenseite könne ja "zurückleaken" und letztlich werde die Öffentlichkeit den Streit entscheiden. Wikileaks will demnächst auch ein System installieren, nach dem die Quelle mit daraüber entscheidet, welches Medium den ersten (exklusiven) Zugriff auf ein Dokument bekommt, bevor es dem Rest der Welt bekannt gemacht wird. Darf man sich das kombiniert mit dem obigen Beispiel so vorstellen: Die Liste mit Adressen einer linken Gewerkschaft bekommt erstmal die Zeitung der Rechtsextremen exklusiv zur Verwertung? Ist das wirklich durchdacht, wikileaks? Kann man sich von der Verantwortung für die Folgen einer Veröffentlichung mit dem Hinweis distanzieren, man sei "neutral"? Daniel Schmitt (der echte Nachname ist jedenfalls auf wikileaks noch nicht geleakt) spricht heute auf der re.publica in Berlin (link) Hinweis. ich sehe mich in dieser Sache überhaupt nicht als "Experte" - es ist ja auch keine primär strafrechtliche Fragestellung. Mich würde einfach interessieren, welche Auffassungen hier im Blog dazu vertreten werden.