Lebenswelten junger Muslime in Deutschland: Innenminister gibt Ergebnisse der eigenen Studie verzerrt wieder (mit Updates)
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Will man ein Muster dafür haben, wie wissenschaftliche Studienergebnisse durch Politik und Medien missbraucht werden und in fast bösartiger Weise gegen ihre Intention wiedergegeben werden, dann gibt es jetzt erneut ein treffendes Beispiel. Die Studie "Lebenswelten junger Muslime in Deutschland" (von W. Frindte, K. Boehnke, H. Kreikenbom, W. Wagner - um es gleich zu sagen, ich kenne keinen der Autoren persönlich, bin auch mit keinem wissenschaftlcih verbandelt) wurde heute auf dem Internetportal des BMI veröffentlicht. Sie ist über 700 Seiten stark und sehr detailliert. Die Forscher haben sich besonders bemüht, die vielfältigen interdisziplinären methodischen Zugangswege, die sie verfolgt haben, und die wesentlichen Ergebnisse ihrer Studie in mehreren Stufen kurzgefasst hervorzuheben, um auch Nichtexperten einen nachvollziehbaren Einblick in diese Forschungen und deren Ergebnisse zu bieten. Sie kommen in einem abschließenden Kapitel auch zu differenzierten Handlungsempfehlungen an Politik und Gesellschaft.
Nun kann man sicherlich an etlichen Stellen einhaken und über methodische Fragen streiten, an anderen Stellen Ergebnisse herausstellen, diese relativieren, kritisieren oder als banal rezensieren. Aber was Innnenminister Friedrich und was die Presse heute mit dieser Studie anstellen, das hat sie wirklich nicht verdient:
Der Innenminister missbraucht die von seinem eigenen Ministerium herausgegebene Studie dazu, seine offenbar nicht durch die Lektüre der Studie beeinflussten Vorurteile in der "Bild" zum Besten zu geben. Ein weiterer Unionspolitiker, Herr Uhl, tut das Gleiche in der NOZ.
Kein Wunder, dass andere Politiker dies wiederum zum Anlass nehmen, die Studie (wahrscheinlich ebenso ungelesen) gleich ganz als überflüssig zu verwerfen, so etwa ein Sprecher der FDP, wiederum in der NOZ.
Journalisten, wie nicht anders zu erwarten, schauen ebenfalls nicht in die Studie selbst, sondern entnehmen deren Inhalt hauptsächlich diesen Politiker-Worten - wieder mal ein Negativ-Beispiel ist die erste Berichterstattung auf Spiegel-Online (Update 17.45 Uhr, SPON bringt jetzt einen differenzierteren Artikel, Update 2.3. 13.00 Uhr: Aber Roland Reuß in der SZ hat sich bis heute nicht die Mühe gemacht, die Studie anzuschauen)
Man könnte fast verzweifeln über so viel Ignoranz.
Im Kern betreiben Friedrich und diese Presseorgane genau das, was die Forscher in ihrer Studie als eine Ursache einer möglichen Radikalisierung beschreiben - nämlich die von Muslimen als ungerecht empfundene pauschale Identifizierung des Islam mit Gewaltneigung und Terrorismus.
Um nur ein Missverständnis herauszustellen: Diese Studie ist keine kriminologische Studie zum Gewaltverhalten von Menschen, in ihr werden keine Handlungen erforscht. Sie ist vielmehr eine Studie zur Akkulturation/Integration, zu kulturellen und emotionalen Einstellungsunterschieden junger Muslime in Deutschland und zu ihrer Mediennnutzung. Sie verweist stark auf die komplexen und insbesondere miteinander interagierenden Ursachen und Wirkungen der festgestellten Einstellungsunterschiede zu Demokratie und Integration - die Kausalitäten verlaufen dabei zweiwegig, vom Islam zur nichtmuslimischen Umgebung und zugleich umgekehrt von der umgebenden Gesellschaft zu den Muslimen in dieser Gesellschaft.
In ihren Handlungsempfehlungen sprechen sich die Forscher für eine Gesellschaft aus, die den Muslimen positiv(er) als bisher begegnet und sie in ihrer weit überwiegenden Integrationsbereitschaft stärkt und fördert, statt, wie es nun wieder geschieht, mit dem Finger "erschreckt" auf diejenigen zu zeigen, die in der Studie sich als weniger integrationsbereit zeigten.
Update I 17.45 Uhr: Im Verlauf des heutigen Tages hat der Innenminister offenbar doch noch Zeit gefunden, Inhalte der Studie zu reflektieren. So wird er nun zitiert (Quelle):
"Die Muslime in Deutschland lehnen Terrorismus kategorisch ab", sagte er. Es liege in der Verantwortung der Medien, "nicht den Fokus auf eine kleine Minderheit, die Probleme macht", zu richten. Die Studie habe auch ergeben, dass sich viele junge Muslime ungerecht behandelt und unter Generalverdacht gestellt fühlten.
Update II vom 2.3., 17.00 Uhr:
Eine erste kritische Rezension der Studie auf wissenschaftlicher Basis findet sich hier (Naika Fouroutan, HU Berlin). Es werden darin eine Reihe von methodischen Fragen problematisiert und aufgrund dessen auch die Ergebnisse der Studie in Frage gestellt. Allerdings wird zutreffend hervorgehoben:
Studie positiver als die tendenziöse Zusammenfassung suggeriert
Als erster Eindruck aus der Querlektüre bleibt festzuhalten:
Die Autoren gehen selbst kritisch mit ihren Ergebnissen um und erheben nicht den Anspruch auf Hochrechnung der Meßwerte auf alle Muslime. Sie beschreiben wesentlich positiver die Bandbreite der Lebenswelten und die Zugehörigkeit zu Deutschland, als dies in den Zitaten der BILD-Zeitung und den ersten medialen Reaktionen erscheint
Ein Interview mit einem der Autoren der Studie (Wolfgang Frindte) findet sich jetzt in der SZ. Zitat:
Wenn ein Teil der jungen Muslime eine nur geringe Bereitschaft zeigt, sich mit der deutschen Kultur zu identifizieren, dann hängt das auch damit zusammen, dass sie sich als Gruppe diskriminiert fühlen. Das ist ein Wechselspiel zwischen Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft. Wir haben das während unserer Studie am Beispiel der Sarrazin-Debatte 2010 beobachten können: Muslime, die nach dem Erscheinen seines Buches interviewt wurden, legten viel mehr Vorurteile und eine größere Ablehnung gegenüber Deutschland und dem Westen an den Tag als jene, die wir zuvor befragt hatten. Da stellt sich die Frage, ob das mit dem Sarrazin-Hype zu tun hatte. Dass Thilo Sarrazin jetzt sagt, er sehe sich durch die Studie bestätigt, ist tragisch.