Der „erkennbare“ Wille nach dem neuen Sexualstrafrecht – erkennbar fehlerhaft
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Dieser Beitrag richtet sich nicht gegen die Regelung von "Nein heißt Nein" im neuen Sexualstrafrecht, die heute im Bundestag in einer gesonderten Abstimmung einstimmig (!) befürwortet wurde. Die Regelung schützt die sexuelle Selbstbestimmung von Frauen und Männern umfassend mit einem neuen Grundtatbestand, sie entspricht damit der Istanbul-Konvention und sie hat erstaunlich klaren demokratischen Rückhalt gefunden.
Kriminologischer Wermutstropfen: Der neue Tatbestand wird wahrscheinlich zu mehr Strafanzeigen führen, aber nicht zu wesentlich mehr Verurteilungen, da das Beweisproblem bei der neuen Regelung eher größer als kleiner ist.
Allerdings sei ein Wort erlaubt zur gesetzlichen Formulierung des neuen Tatbestands, der in Absatz 1 nun lauten soll:
(1) Wer gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person sexuelle Handlungen an dieser Person vornimmt oder von ihr vornehmen lässt oder diese Person zur Vornahme oder Duldung sexueller Handlungen an oder von einem Dritten bestimmt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.
Die Formulierung „gegen den erkennbaren Willen“ ist strafrechtsdogmatisch problematisch. Die „Erkennbarkeit“ taugt nicht als objektives Tatbestandsmerkmal eines Vorsatzdelikts. Das Merkmal „erkennbar“ führt in der Anwendung entweder dazu, dass der Schutz des Opfers geringer ist als er nach dem Willen des Gesetzgebers sein sollte, oder es führt in der praktischen Tendenz dazu, den Täter schon bei Fahrlässigkeit zu verurteilen.
Warum ist das so?
Vorsätzliches Handeln setzt voraus, dass der Täter den entgegenstehenden Willen des Opfers tatsächlich erkannt hat, also für ihn mehr als bloß erkennbar war. Hat der Täter aber den entgegenstehenden Willen erkannt und hat sich darüber hinweggesetzt, dann kann es darauf, ob dieser Wille (auch) aus objektiver Sicht „erkennbar“ war, nicht mehr ankommen. Damit verlangt der Tatbestand etwas vom Opfer, was man dem Täter gar nicht zum Vorwurf machen kann und ist insofern ungenau. Im Grunde wird damit fortgesetzt, was auch schon die Kritik an der bestehenden Gesetzeslage hervorgebracht hat: Dass das Opfer ein bestimmtes Verhalten „nachweisen“ müsse.
Hat ein Täter im umgekehrten Fall den objektiv zwar erkennbaren Willen subjektiv trotzdem nicht erkannt, dann darf ihm aus der bloßen Erkennbarkeit kein Vorwurf gemacht werden, denn die bloße Erkennbarkeit begründet nur Fahrlässigkeit, nicht Vorsatz.
Objektiver und subjektiver Tatbestand befinden sich demnach nicht in Übereinstimmung, eine straftatbestandliche Konstruktion die eigentlich unbedingt vermieden werden sollte.
Im Interview mit Christian Rath (taz) hat meine Kollegin Prof. Tatjana Hörnle, die diesen Wortlaut schon seit längerer Zeit in der Diskussion vertreten hat, diese Fehlkonstruktion in dieser Woche noch einmal ausdrücklich bestätigt:
Zitat (Quelle Taz vom 5. Juli 2016):
Rath: Der BGH-Richter und Kolumnist Thomas Fischer kritisiert, dass hier schon Fahrlässigkeit bestraft wird, wenn der Täter den erkennbaren Willen der Frau nicht erkennt und deshalb missachtet.
Hörnle: Das ist nicht richtig. „Erkennbar“ dient der Abgrenzung von „innerlich“. Den entgegenstehenden Willen des Opfers muss der Täter jedoch erkannt haben. Der sexuelle Übergriff ist kein Fahrlässigkeitsdelikt.
Rath: Es genügt für den Täter also zu sagen: „Ich habe das Kopfschütteln nicht gesehen“? Und schon fehlt dem Täter der Vorsatz und er bleibt straffrei?
Hörnle: Eine solche Aussage muss schon plausibel und glaubwürdig sein. Offensichtliche Schutzbehauptungen dürften in der Regel keinen Erfolg haben.
Hörnle liegt zwar richtig damit, dass wegen „erkennbar“ aus dem Tatbestand formal noch kein Fahrlässigkeitsdelikt wird, da weiterhin nach § 15 StGB Vorsatz erforderlich ist, jedoch ist zu befürchten, dass die Gerichte bei obj. Erkennbarkeit den Einwand des Angeklagten, er habe den entgegenstehenden Willen nicht erkannt, regelmäßig als unbeachtlich ansehen und deshalb faktisch durchaus eine Tendenz zum Fahrlässigkeitsdelikt entstehen kann.
Wenig durchdacht erscheint auch die Antwort Hörnles auf die folgende Frage Raths:
Rath: Ein weiteres Problem der neuen Rechtslage: Ein Paar liegt im Bett, sie will Sex. Er sagt, er sei zu müde. Sie gibt nicht auf und streichelt seinen Penis, bis er doch Lust hat. Ist das künftig strafbar, weil sie sein Nein ignoriert hat?
Hörnle: Das Verhalten der Frau mag zwar den Tatbestand des neuen Gesetzes erfüllen. Aber ich bitte Sie, welcher Mann zeigt seine Partnerin nach einer solchen Situation an?
Rath: Unmittelbar danach tut er das sicher nicht. Aber vielleicht geht sie einen Monat später fremd. Er trennt sich, ist verletzt und zeigt sie nun wegen ihrer mehrfachen sexuellen Übergriffe an. Was soll die Staatsanwaltschaft tun?
Hörnle: Im Lauf von Beziehungen gibt es viele Vergehen, etwa Beleidigungen. Und im Verlauf von Trennungen wird mit Blick auf bestimmte Gegenstände der Vorwurf der Unterschlagung erhoben. Das Strafrecht ist nicht dazu da, all solche Vergehen in Beziehungen aufzuarbeiten. Hier würde das Verfahren wegen „geringer Schuld“ eingestellt.
Das Ausweichen auf das Prozessrecht mag zwar praktisch oftmals nicht zu vermeiden sein, aber als valides Argument bei der Neugestaltung einer Norm zählt es m. E. nicht: Rath hat hier zutreffend eine Situation geschildert, die man schon durch deutlichere Fassung des Gesetzes materiellrechtlich ausscheiden sollte. Zumal die Verfahrenseinstellung (wegen der im Mindestmaß erhöhten Strafe) nach § 153 StPO im Gegensatz zur Lage bei Beleidigungen und Sachbeschädigungen auch noch der Zustimmung des Gerichts bedürfte.
Update 28.07.2016:
Im NJW-Editorial (Heft 31/2016) habe ich neben dem oben genannten auf zwei weitere Problematiken des neuen § 177 StGB hingewiesen:
Erstens, dass in § 177 Abs. 1 n. F. nicht nur die Vornahme von sexuellen Handlungen am Opfer gegen dessen Willen erfasst ist, sondern dass auch sex. Handlungen des Opfers am Täter und an Dritten auf Veranlassung des Täters tatbestandsmäßig sein sollen. Auch hier geht es allein um eine Veranlassung gegen den erkennbaren Willen (Nein heißt Nein) des Opfers, also ohne Nötigung und ohne Gewalt. Das wirft schwierige dogmatische Fragen auf: Normalerweise gibt es keine Handlung ohne Willenskomponente. Hier soll es nun sexuelle Handlungen des Opfers gegen seinen eigenen erkennbaren Willen geben. Handelt das Opfer überhaupt, wenn es (ungenötigt) sexuelle Akte vornimmt? Läuft es nicht der Erkennbarkeit dieses Willens diametral entgegen, wenn das Opfer selbst (ungenötigt und ohne Gewalt des Täters) handelt?
Zweitens, dass nach § 177 Abs.6 n.F. in der Regel eine Mindeststrafe von zwei Jahren eintreten soll, wenn es als Regelbeispiel eines besonders schweren Falls zum Beischlaf kommt. Gewalt oder Nötigung werden hierzu nicht vorausgesetzt. Diese Strafandrohung erscheint mir unverhältnismäßig hoch. Österreich sieht in § 205a ÖStGB zwei Jahre als Höchststrafe vor, was nach § 177 Abs.1 und 6 n. F. nun in Deutschland die Regel-Mindeststrafe sein soll.