Erst Amok, dann Terror - zur kriminologischen Bewertung von Anschlägen
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Vor gut zwei Jahren schrieb ich hier im Beck-Bog einen Beitrag, der sich mit der kriminologischen Bewertung von Anschlägen befasste. Unmittelbarer Anlass war, dass der Anschlag im Olympiazentrum München (neun Todesopfer) von der Polizei offiziell als im Wesentlichen unpolitische Einzeltat eines psychisch Kranken eingestuft worden war, dieser Einschätzung aber von drei Gutachtern widersprochen wurde, die eher die (rechts-)terroristische Motivlage hervorhoben.
Ich habe mich von der Forderung nach einer klaren Einstufung distanziert und habe versucht herauszustellen, dass es seit einiger Zeit durchaus politisch motivierte Anschläge von zugleich auch psychisch gestörten Einzeltätern gegeben hat, die man durchaus als (Einzel-)"Terror" und "Amok" zugleich (Kunstwort "Termok") einstufen könnte und sollte. In diesem früheren Beitrag habe ich auch näher erläutert warum solche Klassifizierungen überhaupt wichtig sind.
Nun hat das Bayerische LKA den Münchener Anschlag von 2016 zu einer politisch motivierten Gewalttat umklassifiziert: Hier ein Auszug aus der Erklärung des LKA; im ersten Absatz sind die Gründe für die bisherige Einstufung, in den dann folgenden Absätzen die Gründe für die Neueinstufung zu erkennen:
Die Ermittlungen haben ergeben, dass die Rache für das erlittene Mobbing durch Mitschüler mit deutscher, deutsch-türkischer, polnischer, serbischer und bosnisch-herzegowinischer Nationalität nach Bewertung aller Umstände maßgeblich zu der Tat geführt hat. Neben das Rachemotiv treten weitere Faktoren, wie insbesondere die psychische Erkrankung, mangelnde soziale Kontakte, exzessives Spielen von Ego-Shootern, die Identifizierung mit Amoktätern und die rassistische Gesinnung. Insbesondere der Hass des David Ali S. auf die Herkunftsländer seiner Mitschüler kommt dabei zum Ausdruck. Die verschiedenen festgestellten Faktoren stehen untereinander in Wechselwirkung und bedingen sich gegenseitig.
Allerdings gibt es auch Anhaltspunkte, dass David Ali S. seine Opfer auch auf Grund ihrer Volkszugehörigkeit und Herkunft ausgesucht hat. Auch in seinem Manifest äußerte er seine Ablehnung gegen ausländische Menschen eines Münchner Stadtviertels.
Weitere Anhaltspunkte für seine rechtsextremistische Orientierung zeigen sich in anderen massiven ausländer- und menschenfeindlichen Abwertungen und durch sein Interesse an dem rechtsmotivierten Attentäter Breivik. Die langwierigen Überprüfungen verschiedener Online-Plattformen ergaben weitere Hinweise auf rechtes Gedankengut. Auf diesen Plattformen werden vielfach menschenverachtende Kommentare, teils mit rechtsradikal motivierten rassistischen Elementen abgegeben. David Ali S. war auch Mitglied in derartigen Gruppen dieser Plattformen und gab dort Kommentare ab, die nahezu das gesamte Motivbündel widerspiegeln.
Die Tat wird daher vor dem Hintergrund des Motivationsbündels, welches sowohl Anhaltspunkte für das tatleitende Motiv der Rache als auch einer rechten Orientierung u.a. enthält, als Politisch motivierte Gewaltkriminalität -rechts- eingestuft und im Kriminalpolizeilichen Meldedienst in Fällen Politisch motivierter Kriminalität ausgewiesen.
Aber ganz unabhängig von der Klassifizierung als politisch oder unpolitisch motivierte Gewalttat: Erkennbar ist auch in diesem Fall - ähnlich wie schon in Halle vor wenigen Wochen - welche kriminologisch bedeutsame Rolle Anschläge wie die in Norwegen 2011 haben können, weit über deren schon grausame unmittelbare Wirkung hinaus: Mit solchen Anschlägen ist eine (negative) Heldengeschichte verbunden, die dazu bereite (ggf. extremistisch motivierte) Personen - auch noch nach Jahren - zu Nachahmungstaten motivieren kann. Deshalb gilt auch bei politischen Gewalttaten jeglicher Couleur nach wie vor, dass sich die Presse bei der Namensnennung zurückhalten sollte, vgl. meinen Beitrag hier. Nach dem Anschlag von Halle wurde diese gute Absicht schon nach wenigen Stunden aufgegeben.