Ein Verständigungsversuch … Oder für Sie schreibe ich meine Meinung

von Peter Winslow, veröffentlicht am 25.01.2018

Vor jedem Übersetzungsauftrag wird, so wollen es regelmäßig alle Beteiligten, ein Vertrag geschlossen. Zu den Regelungen dieses Vertrags gehören zumindest die Sprachkombination(en), die Abrechnungsbasis und ein vereinbarter Liefertermin. Schließlich muss man wissen, was man als Kunde zu welchen Zahlungsbedingungen einkauft und was man als Dienstleister zu welchen Abrechnungsbedingungen machen sollte. Dabei ist der im Vertrag vorgeschriebene Inhalt genauso wichtig wie der im Vertrag nicht vorgeschriebene Inhalt. Das sollten vor allem diejenigen Leser und Leserinnen dieses Blogs schon wissen, die Angehörige der rechts- und steuerberatenden Berufe sind.

Dies gilt, auch wenn Übersetzungen ein Übel darstellen, das durch vorliegende Verhältnisse notwendig wird: Der Mandant kann nur Englisch, der Anwalt kann auf Englisch nichts Vernünftiges verfassen und muss daher alles auf Deutsch schreiben. Dieses Übel verneint aber keinen Vertrag, auch wenn im Nachhinein festgestellt wird, dass die Rechnung anders als erwartet ausfällt. Ganz abstrakt gilt: Keine »nachträglich festgestellte« Erwartung bestimmt die richtige Auslegung einer vertraglichen Regelung. Hier ein Beispiel:

Ein Rechtsanwalt gibt einen langen Rechtstext zur Übersetzung in Auftrag. Er weist nicht auf Besonderheiten des zu übersetzenden Texts hin. Die Abrechnung für diese Übersetzung wird dann zwischen ihm und dem Übersetzungsdienstleister vertraglich so vereinbart, dass die in der Übersetzung enthaltenen Wörter in Rechnung gestellt werden. Er erhält die Rechnung und stellt fest, dass auch das Inhaltsverzeichnis abgerechnet wurde, obwohl dieses sich automatisch generieren lässt. Das gefällt dem Rechtsanwalt aber nicht, weil die Zahlung automatisch generierter Inhalte nicht vereinbart wurde. Er ruft den Übersetzungsdienstleister an und meint: Das geht so nicht, das wurde nicht vereinbart. Er will, möchte man sagen, einen nachträglich glauben machen, dass er vorher etwas erwartet hätte: Seine nachträgliche, durch Feststellung eines seinerseits unerwarteten Mehrbetrags entstandene Erwartung, diesen Mehrbetrag nicht zahlen zu müssen, steht der Rechtfertigung dieses Betrags nicht entgegen. Die Nicht-Zahlung automatisch generierter Inhalte wurde nämlich auch nicht vereinbart. … Dies ist unter anderem dem Alltagsleben, der Praxis und der Berufserfahrung zu verdanken.

Juristische Fachübersetzer und -übersetzerinnen haben sämtliche Bestandteile des zu übersetzenden Texts wiederzugeben, soweit nichts anderes einvernehmlich vereinbart wird. Sie können nicht wissen, was ein Kunde erwartet, wenn er seine Erwartungen nicht vor der Leistungserbringung bekannt gibt. … Wenn der Kunde – wie beim obigen Beispiel – nicht für automatisch generierte Inhalte zahlen möchte, so wird der Übersetzungsdienstleister vielleicht versuchen, entweder eine Obergrenze für ggfs. anfallende Stunden zu vereinbaren oder sich etwas Arbeit zu ersparen: sprich, das Inhaltsverzeichnis nicht automatisch generieren zu lassen. Denn in aller Regel stellt der Übersetzer während der Übersetzung fest, dass der Verfasser des Rechtstexts mit Word nicht umgehen kann und die unüblichste Vorlageebene für die Überschriften (Ebene 4 für Ebene 1 etwa) eingesetzt oder die für das Inhaltsverzeichnis geltenden Einstellungen nicht richtig konfiguriert hat (nur Ebenen 1 und 2 werden zur automatischen Erstellung des Inhaltsverzeichnisses einbezogen, wenn Ebene 4 gewollt wird). Die automatische Erstellung des Inhaltsverzeichnisses kostet den Übersetzer – abzüglich der Zeit, in der er in den Bildschirm gestarrt und leise vor sich hin geschimpft hat – mindestens eine halbe Stunde.

Zusätzlich zu der Word-Problematik erfordert eine juristische Fachübersetzung regelmäßig etwas Recherche, die auch Zeit kostet. Hier sind lediglich sechs allgemeine Beispiele:

  1. Die EU-Gesetzgebung muss nachgeschlagen und deren offizieller Wortlaut eingesetzt werden,
  2. Bestehende Übersetzungen der deutschen Gesetzgebung müssen geprüft werden,
  3. Die streitgegenständliche Technologie muss recherchiert werden, weil diese dem Übersetzer nicht ganz vertraut ist und der Rechtsanwalt scheint, diese auch nicht so richtig zu verstehen: Zum Beispiel verwechselt der Rechtsanwalt Bestandteile der Technologie mit einander (oder Ähnliches),
  4. Andere Materialien (frühere Urteile, Gutachten, Verträge usw.) müssen gelesen und verstanden werden, um den zu übersetzenden Text richtig übersetzen zu können,
  5. Der Verfasser des Rechtstexts schreibt furchtbar (das kommt häufiger vor, als dass man glauben möchte) und der Übersetzer muss den Duden und Arbeitskollegen immer wieder zu Rate ziehen,
  6. Der Übersetzer kann Verzweiflungspausen benötigen, weil der Text von einem Richter stammt, der Dialekt und Hochdeutsch nicht auseinanderhalten kann (kommt wirklich vor).

Anstatt bei der Übersetzungsanfrage- und Angebotserstellungsphase über jede Eventualität zu verhandeln, haben die meisten Übersetzungsdienstleister ihre Preise – gleich ob diese Wort- oder Zeilenpreise sind – so gestaltet, dass sie jeweils einer durchschnittlichen Bearbeitungsdauer entsprechen. Diese durchschnittliche Bearbeitungsdauer berechnet sich normalerweise aufgrund langjähriger Erfahrung und es wird nur dann verhandelt, wenn die angefragte Dienstleistung voraussichtlich über die durchschnittliche Bearbeitungsdauer hinausgeht. Schließlich muss man ja auf seine Gemeinkosten kommen und etwas Gewinn erzielen.

Das alles heißt nur, dass man seine Erwartungen dem Übersetzungsdienstleister klar mitteilen muss, und zwar vor der Leistungserbringung. Für alle Beteiligten ist es ärgerlich, Gespräche über Modalitäten nachträglich führen zu müssen, die einerseits vor Vertragsschluss hätten kurz angesprochen werden können und die andererseits den anderen (ungewollt) als unehrlichen Geizhals erscheinen lassen. Freilich kann man zwar über nachträgliche Feststellungen nachträglich verhandeln, aber eine schöne Variante ist das nicht.

Eine andere Lösung wäre vielleicht, dass man Festpreise vereinbart. Auf diese Weise kommen weder »nachträglich festgestellte« Erwartungen noch beiderseitige, unerfreuliche Überraschungen auf, welche den Kunden ärgern oder die bottom line des Übersetzungsdienstleisters beeinträchtigen. Das erfordert zwar einen zeitaufwändigen Lernprozess sowohl für Kunden als auch für Übersetzungsdienstleister, aber es wäre die Zeit wert. Schließlich lernt man nie aus … und schließlich endet man am besten mit einer Plattitüde.

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2 Kommentare

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Lieber Herr Winslow,

eins vorweg: die Word-Gestaltung, die zeitaufwändige Recherche udgl. sind normalerweise einige der preisblidenden Faktoren, welche sich - wie Sie zutreffenderweise auch über die Bearbeitungsdauer aufgeführt haben - üblicherweise aufgrund langjähriger Übersetzererfahrung berechnen lassen und meiner Meinung nach grundsätzlich gar keiner vorvertraglichen Diskussion bedürfen, da sie vom Übersetzungsdienstleister selbst bei der Preisermittlung mit berücksichtigt werden dürften und nicht explizit vertraglich vereinbart zu werden brauchen. 
Hier war es auch nicht erforderlich, dass der Rechtsanwalt auf die Besonderheiten des zu übersetzenden Texts hinweist, denn das eventuelle Vorhandensein eines Inhaltsverzeichnisses und das eventuell notwendige Nachschlagen der jüngsten Gesetzgebung etc. sind, m.E., auch keine über das normale, jedem vernünftigen Übersetzer vertraute Maß hinausgehenden Besonderheiten.

Nun zu Ihrem Fall. Mir erschließt sich (noch) nicht, ob im Ausgangstext bereits ein Inhaltsverzeichnis vorhanden war. War das der Fall, so erübrigt sich, meiner Meinung nach, der Disput, da das Inhaltsverzeichnis als Teil des Auftrags mit übersetzt wurde. Ob und ggf. wie sich dieses dann generieren ließe, stünde auf einem anderen Blatt und hinge lediglich von den Fähigkeiten des Übersetzers ab, wie dieser nämlich mit Word umzugehen wüsste. War das nicht der Fall, so sieht die Sache naturgemäß anders aus.

Viele Grüße
Igor Plotkin
Fachdolmetscher für Russisch
Russischdolmetscher für Recht und Sport

www.fachdolmetscher-russisch.de
Twitter: @Fachdolmetscher
info@fachdolmetscher-russisch.de

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Lieber Herr Plotkin,

vielen Dank für Ihren Kommentar.

Sie haben Recht, dass das Inhaltsverzeichnis etc. keine speziellen Besonderheiten darstellen und dass diese keine besonderen vorvertraglichen Diskussion erfordern. Man muss, glaube ich, die Problematik so sehen:

Wenn ein Kunde sein Dokument nicht vernüftig formatiert hat (so viel ist in meinem Beispiel klar, glaube ich) und wenn der Kunde nachträglich erwartet, dass diese unvernüftige Formatierung einen Preisnachlass für ihn zur Folge haben sollte, weil der Übersetzer sich bei Word auskennt und bspw. das Inhaltsverzeichnis automatisch hinbekommen hat, so hat man eine Problematik, die nicht ohne Weiteres behoben werden kann. Abgemacht ist abgemacht. Aber der Kunde ist unglücklich, der Übersetzungsdienstleister ist verärgert und keiner kommt so wirklich weiter. ... Man kann immer nachträglich verhandeln. Darauf sollten sich Kunden und Übersetzungsdienstleister in vielen Fällen einlassen. Aber Unglück und Ärger bilden selten eine gute Grundlage für eine nachträgliche Verhandlung.

Daher der Ratschlag, dass klare und eindeutige Kommunikation vor Leistungserbringung die Norm sein sollte und dass man vielleicht über die bestehenden Preisstrukturen nachdenkt. Fixpreise haben den Vorteil, dass sie keine Überraschungen zulassen. Aber das sind nur Ideen ... und (wie ich mich kenne) wahrscheinlich keine guten.  

Mit besten Grüßen
Peter Winslow

PS: Ein Kollege meint, dass ich klarstellen sollte: Das Inhaltsverzeichnis dient lediglich als Beispiel für Formatierungsprobleme aller Art ... nicht dass ich täglich Kunden wegen Inhaltsverzeichnissen unglücklich mache und mich täglich darüber ärgere.

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