Prüfungsrecht: Chancengleichheit, Nachteilsausgleich und immer wieder Dauerleiden

von Sibylle Schwarz, veröffentlicht am 13.12.2019
Rechtsgebiete: Bildungsrecht|8020 Aufrufe

Ein nach Hirnblutung an Sprachstörung (Aphasie) leidender Prüfling begehrt von der beklagten (örtlichen) Industrie- und Handelskammer die Gewährung eines Nachteilsausgleichs (persönliche Assistenz für einfache Sprache) im Rahmen seines Prüfungsverfahrens zur Ausbildung zum Verkäufer. Das Verwaltungsgericht Gießen hat die Klage abgewiesen (8 K 3432/17.GI).

 

Zweck der Prüfung

Um den Zweck der Prüfung zu erklären, eignen sich die Worte des Bundesverwaltungsgerichts:

„Das Gebot der Chancengleichheit soll sicherstellen, dass alle Prüflinge möglichst gleiche Chancen haben, die Leistungsanforderungen zu erfüllen. Zu diesem Zweck sollen die Bedingungen, unter denen die Prüfung abgelegt wird, für alle Prüflinge möglichst gleich sein. Es müssen grundsätzlich einheitliche Regeln für Form und Verlauf der Prüfungen gelten; die tatsächlichen Verhältnisse während der Prüfung müssen gleichartig sein (stRspr; vgl. nur BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 1990 - 7 C 17.90 - BVerwGE 87, 258 <261 f.>).

 

Allerdings sind einheitliche Prüfungsbedingungen geeignet, die Chancengleichheit derjenigen Prüflinge zu verletzen, deren Fähigkeit, ihr vorhandenes Leistungsvermögen darzustellen, erheblich beeinträchtigt ist. Daher steht diesen Prüflingen ein Anspruch auf Änderung der einheitlichen Prüfungsbedingungen im jeweiligen Einzelfall unmittelbar aufgrund des Gebots der Chancengleichheit nach Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 12 Abs. 1 GG zu. Den Schwierigkeiten des Prüflings, seine vorhandenen Kenntnisse und Fähigkeiten unter Geltung der einheitlichen Bedingungen darzustellen, muss durch geeignete Ausgleichsmaßnahmen Rechnung getragen werden. Dieser Nachteilsausgleich ist erforderlich, um chancengleiche äußere Bedingungen für die Erfüllung der Leistungsanforderungen herzustellen. Aus diesem Grund muss die Ausgleichsmaßnahme im Einzelfall nach Art und Umfang so bemessen sein, dass der Nachteil nicht „überkompensiert“ wird. Die typische Ausgleichsmaßnahme in schriftlichen Prüfungen ist die Verlängerung der Bearbeitungszeit; in Betracht kommt auch die Benutzung technischer Hilfsmittel.“

BVerwG, Urteil vom 29. Juli 2015 – 6 C 35/14 –, BVerwGE 152, 330-346

 

Oder etwas knapper formuliert:

„Denn wenn der Prüfling während der Prüfung einer außergewöhnlichen, erheblichen Beeinträchtigung seines Leistungsvermögens ausgesetzt war, so stellt das Prüfungsergebnis kein zutreffendes Bild seiner Leistungsfähigkeit dar.“

BVerwG, Urteil vom 07. Oktober 1988 – 7 C 8/88 –

 

Welche Beeinträchtigungen des Leistungsvermögens sind gemeint, so dass sich kein zutreffendes Bild der Leistungsfähigkeit des Prüflings ergeben kann?

Es bedarf nicht vieler Worte, dass, wer sich mit erhöhter Temperatur, Hustenreiz und laufender Schnupfennase in eine Prüfung setze, seine vorhandenen Kenntnisse und Fähigkeiten nicht wird zeigen können - krankheitsbedingte Leistungsminderung. Die Erkältung ist meist nach zwei Wochen vorüber.

 

Hingegen ist eine Erkrankung, die trotz Therapie und/oder Medikamenteneinnahme über Jahre andauere oder sich sogar verschlimmere, anders zu sehen. Hier ist die Rede von Dauerleiden.

„Dauerleiden prägen als persönlichkeitsbedingte Eigenschaften die Leistungsfähigkeit des Prüflings. Ihre Folgen bestimmen deshalb im Gegensatz zu sonstigen krankheitsbedingten Leistungsminderungen das normale Leistungsbild des Prüflings. Sie sind mithin zur Beurteilung der Befähigung bedeutsam, die durch die Prüfung festzustellen ist. Der in Art. 3 Abs. 1 GG verankerte prüfungsrechtliche Grundsatz der Chancengleichheit läßt es daher - wie das Oberverwaltungsgericht zutreffend erkannt hat - nicht zu, eine von den Auswirkungen eines Dauerleidens betroffene Prüfungsleistung unberücksichtigt zu lassen (vgl. auch Haas in VBlBW 1985, 161 (167) sowie Niehues, Schul- und Prüfungsrecht, 2. Aufl. 1983, RdNr. 388).“

BVerwG, Beschluss vom 13. Dezember 1985 – 7 B 210/85 –

 

„Allerdings begründet nicht jedes Dauerleiden einen Anspruch auf Nachteilsausgleich im Prüfungsverfahren. Insofern muss unterschieden werden zwischen Dauerleiden, die nicht die aktuell geprüfte Befähigung betreffen, sondern nur den Nachweis der vorhandenen Befähigung erschweren, und Dauerleiden, die als persönlichkeitsbedingte Eigenschaften die Leistungsfähigkeit des Kandidaten in Prüfungen prägen. Diese bestimmen – im Gegensatz zu sonstigen krankheitsbedingten Leistungsminderungen – das normale Leistungsbild des Prüflings und stellen keine irregulären Leistungsbeeinträchtigungen dar. Ein Nachteilsausgleich kann für diese Leistungseinschränkungen nicht gewährt werden, da sie gerade zur Beurteilung der durch die Prüfung festzustellenden Befähigung bedeutsam sind“

OVG Bautzen, Beschluss vom 12. Februar 2018 – 5 B 352/17 –

 

Zum Fall vor dem Verwaltungsgericht Gießen

Das Verwaltungsgericht Gießen hat in einem am 19. November verkündeten Urteil (8 K 3432/17.GI), das nunmehr mit der schriftlichen Begründung vorliegt, die Klage eines schwerbehinderten Prüflings abgewiesen.

Der Kläger begehrt einen Nachteilsausgleich bei den Prüfungen im Rahmen der Abschlussprüfung im Ausbildungsberuf Verkäufer dahingehend, dass er in seinen Prüfungen eine persönliche Assistenz erhält, die die Aufgabe hat, Prüfungsfragen in die „Einfache Sprache“ zu übertragen. Nach einer schweren Hirnblutung im Jahr 2009 leidet er an den Folgeschäden einer Gesichtsfeldeinschränkung und einer Sprachstörung (Aphasie).

 

Sachverhalt (Sehr verkürzt geschildert)

Die (örtliche) Industrie- und Handelskammer als Beklagte gewährte dem Kläger für die Abschlussprüfung Sommer 2015 einen Nachteilsausgleich für den schriftlichen Teil in Form einer Prüfungszeitverlängerung in Höhe von 30 %. Die Abschlussprüfung Sommer 2015 bestand der Kläger insgesamt nicht. Er bestand weder die schriftlichen Prüfungen in den Fächern „Verkauf und Marketing“ sowie „Warenwirtschaft und Rechnungswesen“ noch die mündliche Prüfung („Fallbezogenes Fachgespräch“). Lediglich die schriftliche Prüfung im Fach „Wirtschafts- und Sozialkunde“ absolvierte er mit Erfolg.

Für den nächsten Versuch Abschlussprüfung Winter 2015 beantragte der Kläger neben der erneuten Gewährung eines Nachteilsausgleichs in Form einer Zeitverlängerung um ein Drittel der normalen Prüfungszeit noch eine Unterstützung durch eine neutrale Person bei inhaltlichen Verständnisfragen.

In der Folgezeit kam es zum Rücktritt von der Prüfung, zu nicht bestandenen Prüfungen.

Für die noch ausstehenden Prüfungen, insbesondere für die mündliche Prüfung im Januar 2017, beantragte der Kläger wiederum einen Nachteilsausgleich in der Form persönliche Assistenz, die die Aufgabe hat, Prüfungsfragen in sogenannte einfache Sprache zu übertragen und dem Kläger Unterstützung bei der Formulierung seiner Antworten auf diese Fragen zu geben.

Im Anschluss an den Termin zur Erörterung der Sach- und Rechtslage gewährte die Beklagte, dass dem Kläger für alle noch ausstehenden Prüfungsversuche im „Fallbezogenen Fachgespräch“ ein Nachteilsausgleich dahingehend gewährt wird, dass die Vorbereitungszeit von 15 Minuten auf 22,5 Minuten und das Prüfungsgespräch von 20 Minuten auf höchstens 30 Minuten verlängert wird, und für alle ausstehenden Prüfungsversuche in den schriftlichen Prüfungsbereichen eine Zeitverlängerung von jeweils 50 % pro Prüfungsbereich gewährt wird.

Der Kläger meldete sich für die Abschlussprüfungen Sommer 2018, Winter 2018 und Sommer 2019 an, trat aber ebenfalls jeweils krankheitsbedingt zurück. Der Kläger ist derzeit für die Abschlussprüfung Winter 2019, welche im Januar stattfinden soll, angemeldet.

 

Entscheidung

Der Kläger hat keinen Anspruch gegen die Beklagte darauf, dass ihm bei seinen noch ausstehenden Abschlussprüfungen im Ausbildungsberuf Verkäufer über den von der Beklagten bereits gewährten Nachteilsausgleich hinaus ein Nachteilsausgleich dahingehend gewährt wird, dass er eine persönliche Assistenz erhält, die die Aufgabe hat, Prüfungsfragen in sogenannte einfache Sprache zu übertragen und ihm Unterstützung bei der Formulierung seiner Antworten auf diese Fragen zu geben.

- Diese Ausführungen bestätigen jedoch nur, dass es zu den Einzelheiten der einfachen Sprache keine verbindlichen Regeln gibt. Dieser Umstand aber ließe befürchten, dass im Fall einer stattgebenden Entscheidung zwischen den Beteiligten nicht hinreichend klar wäre, welche Übersetzungsleistungen der persönlichen Assistenz zulässig wären und welche nicht.

- Bezüglich der Prüfungsbehinderung ist zwischen akuten – gegebenenfalls zum Rücktritt von der Prüfung berechtigenden – Beeinträchtigungen des Gesundheitszustandes, die vorübergehen und somit den Urzustand der vorhandenen Befähigung des Prüflings nicht in Frage stellen, und den sogenannten Dauerleiden zu unterscheiden. Unter einem Dauerleiden versteht man eine erhebliche Beeinträchtigung des Gesundheitszustandes, die die Einschränkung der Leistungsfähigkeit trotz ärztlicher Hilfe bzw. des Einsatzes medizinisch-technischer Hilfsmittel prognostisch nicht nur vorübergehend, sondern dauerhaft oder doch auf unbestimmte Zeit ohne sichere Heilungschance bedingt. Erfasst werden auch Erkrankungen, die schubweise auftreten und in deren Verlauf es zu Phasen höherer und niedrigerer Leistungsfähigkeit kommt (vgl. Jeremias, in: Niehues/Fischer/Jeremias, Prüfungsrecht, 7. Aufl. 2018, Rn. 258 m.w.N. aus der Rechtsprechung).

Die Gewährung eines Nachteilsausgleichs für eine bestimmte Prüfung oder für einen abtrennbaren Prüfungsteil wegen eines Dauerleidens scheidet jedoch aus, wenn dieses inhaltlich prüfungsrelevant ist. Dies ist der Fall, wenn das Dauerleiden eine in der Person des Prüflings auf unbestimmte Zeit begründete generelle Einschränkung seiner durch die Prüfung festzustellenden Leistungsfähigkeit darstellt. …

Die Gewährung eines Nachteilsausgleichs scheidet mithin aus, wenn die Einschränkungen, denen der Kläger aufgrund des Dauerleidens unterworfen ist, in den Kernbereich dessen führen, was mit der jeweiligen Prüfung festgestellt werden soll …

Handelt es sich dagegen um Behinderungen, die nicht die aktuell geprüften Befähigungen betreffen, sondern nur den Nachweis der vorhandenen Befähigung erschweren, und die in der Prüfung sowie – und das ist das Entscheidende – in dem angestrebten Beruf durch Hilfsmittel ausgeglichen werden können, ist dies in der Prüfung in der Regel in Form eines Nachteilsausgleichs angemessen zu berücksichtigen.

 

Hieran gemessen hat der Kläger keinen Anspruch auf die Gewährung des von ihm begehrten Nachteilsausgleichs.

… Hinsichtlich Spontansprache und Kommunikationsverhalten lägen einige sprachliche Beeinträchtigungen vor. … Der Kläger bitte teilweise um eine Reformulierung gestellter Fragen … Der Kläger antworte überwiegend in kurzen Sätzen oder elliptisch, … es lägen starke Wortfindungsstörungen vor. …

... Ausweislich des Ausbildungsrahmenplans soll den Auszubildenden beispielsweise vermittelt werden, Kunden über das betriebliche Warensortiment Orientierung zu geben, … Kunden über Werbeaktionen zu informieren … auf Kundenverhalten situationsgerecht zu reagieren, die Wünsche von Kunden in Informations-, Beratungs- und Verkaufsgesprächen unter Einsatz von Frage- und Gesprächsführungstechnik zu ermitteln, …

… Hieraus wird deutlich, dass eine Vielzahl der im Ausbildungsrahmenplan genannten Fertigkeiten, Kenntnisse und Fähigkeiten sich auf sprachliche Aktivitäten beziehen und diese mithin zum Kernbereich dessen zählen, was durch die einzelnen Prüfungen der Abschlussprüfung festgestellt werden soll. Die sprachlichen Einschränkungen, unter denen der Kläger leidet, betreffen mithin diesen Kernbereich und sind damit ebenso inhaltlich prüfungsrelevant und das Leistungsbild des Klägers prägend wie dessen kognitiven Beeinträchtigungen in Form von Aufmerksamkeits-, Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen.

Die Kammer hat die Berufung zugelassen.

 

„Andere Leiden“ Legasthenie

„Nach dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand handelt es sich bei der Legasthenie um eine dauerhafte Lese- und Schreibstörung aufgrund einer neurobiologischen, entwicklungsbiologisch und zentralnervös begründeten Störung der Hirnfunktion. Davon zu unterscheiden sind Lese- und Rechtschreibschwächen, die andere Ursachen haben und erfolgversprechend behandelt werden können. Legasthenie lässt Begabung und Intelligenz unberührt; die intellektuelle Erfassung von Sachverhalten ist nicht beeinträchtigt. Jedoch ist die Lese- und Schreibgeschwindigkeit verringert; Legastheniker benötigen überdurchschnittlich viel Zeit, um schriftliche Texte aufzunehmen und zu verarbeiten und um ihre Gedanken aufzuschreiben. Aufgrund dessen sind sie beeinträchtigt, ihre als solche nicht eingeschränkte intellektuelle Befähigung darzustellen, d.h. ihre tatsächlich vorhandenen Kenntnisse und Fähigkeiten in schriftlichen Prüfungen nachzuweisen. Hinzu kommt eine Rechtschreibschwäche; die Rechtschreibung von Legasthenikern ist überdurchschnittlich fehlerbehaftet (zum Ganzen: Langenfeld, RdJB 2007, 211 <212 f.>; Ennuschat, Rechtsgutachten für den Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie, 2008, S. 4 f.).

Dementsprechend können Prüflinge, die an Legasthenie leiden, zur Herstellung der Chancengleichheit in schriftlichen Prüfungen Maßnahmen des Nachteilsausgleichs, insbesondere die angemessene Verlängerung der Bearbeitungszeit, beanspruchen, sofern die Feststellung der Rechtschreibung nicht Prüfungszweck ist. …

Dies gilt insbesondere dann, wenn der Schulabschluss Voraussetzung für die Aufnahme eines Berufs oder einer beruflichen Ausbildung ist, in denen die Behinderung nicht erschwerend ins Gewicht fällt. So ist es möglich, eine Vielzahl von Berufen trotz einer Rechtschreibstörung ungehindert auszuüben (Langenfeld, RdJB 2007, 211 <223 f.>; Cremer/Kolok, DVBl 2014, 333 <339 f.>).“

BVerwG, Urteil vom 29. Juli 2015 – 6 C 35/14 –,

 

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