Nachhaltige GAP durch weitgehende kartellrechtliche Freistellung

von Prof. Dr. Jose Martinez, veröffentlicht am 02.01.2022

Das Gemeinwohlanliegen „freier Wettbewerb“ steht immer dann der Erreichung anderer Gemeinwohlanliegen wie Nachhaltigkeit und Tierwohl entgegen, wenn diese Ziele nicht durch staatliche Regulierungen oder Anreize, sondern durch brancheninterne Absprachen erreicht werden sollen. Das entspricht einer etatistische Grundvorstellung, wonach das Gemeinwohl vorrangig  staatlich definiert und verwaltet wird. Soweit der Markt damit betraut wird, bedarf er einer Überwachung und ggf. einer Regulierung.

Mit der VO 2021/2117 vom 2.12.2021[1], der sog. Änderungsverordnung zur GMO, entläßt die EU die Marktteilnehmer aus der staatlichen/europäischen Kartellüberwachung, soweit sie Vereinbarungen, Beschlüsse und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen betreffen, die geschlossen worden sind, um einen höheren Nachhaltigkeitsstandard anzuwenden, als er durch das Unionsrecht oder nationales Recht vorgeschrieben ist. Konkret wird in die GMO ein neuer  Art. 210a eingefügt, dessen Abs. 1 folgendes besagt:

Artikel 101 Absatz 1 AEUV findet keine Anwendung auf Vereinbarungen, Beschlüsse und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen von Erzeugern landwirtschaftlicher Erzeugnisse, die sich auf die Erzeugung landwirtschaftlicher Erzeugnisse oder den Handel damit beziehen und darauf abzielen, einen höheren Nachhaltigkeitsstandard anzuwenden, als er durch das Unionsrecht oder nationales Recht vorgeschrieben ist, vorausgesetzt, mit diesen Vereinbarungen, Beschlüssen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen werden lediglich Wettbewerbsbeschränkungen auferlegt, die für das Erreichen dieses Standards unerlässlich sind.

Die vollständige Freistellung von den kartellrechtlichen Grenzen erstreckt sich zunächst auf alle drei relevanten Varianten der Verhaltenskoordination (Vereinbarungen, Beschlüsse und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen), die kartellrechtlich als Absprachen bezeichnet werden. Der sachliche Anwendungsbereich umfasst nur landwirtschaftliche Erzeugnisse. Nach Art. 1 Abs. 1 VO 1308/2013 sind landwirtschaftliche Erzeugnisse alle Erzeugnisse, die in Anhang I der Verträge aufgeführt sind, ausgenommen Erzeugnisse der Fischerei und der Aquakultur im Sinne der Gesetzgebungsakte der Union über die gemeinsame Marktorganisation für Erzeugnisse der Fischerei und der Aquakultur.

Zum persönlichen Anwendungsbereich führt der neue  Art. 210a Abs. 2 aus:

Absatz 1 gilt für Vereinbarungen, Beschlüsse und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen von Erzeugern landwirtschaftlicher Erzeugnisse, die von mehreren Erzeugern oder von einem oder mehreren Erzeugern und einem oder mehreren Marktteilnehmern auf verschiedenen Stufen der Erzeugung, der Verarbeitung und des Handels der Lebensmittelversorgungskette, einschließlich des Vertriebs, geschlossen oder getroffen werden.

Damit erfasst die Freistellung zunächst Absprachen zwischen Erzeugern (horizontale Absprache). Zudem sind auch Absprachen zwischen einem oder mehreren Erzeugern mit einem oder mehreren Marktteilnehmern (Händler, Verarbeiter, etc.) erfaßt und damit auch die Lebensmittelversorgungskette im Sinne einer Branchenlösung. Unzulässig sind damit im Umkehrschluss Absprachen der Marktteilnehmer ohne Beteiligung zumindest eines Erzeugers. Der Hintergrund ist deutlich: Der europäische Gesetzgeber vertraut nicht darauf, dass der Handel ohne Mitwirkung der Erzeuger deren Interessen ausreichend berücksichtigt. Dies mögen Ökonomen möglicherweise bezweifeln. Normativ ist es indes richtig. Denn die Freistellung von den kartellrechtlichen Bestimmungen ist allein über die Klausel in Art. 42 AEUV gerechtfertigt, der einzig im EU-Primärrecht dem Agrar-Gesetzgeber eine (begrenzte) Freiheit einräumt, die Wettbewerbsregeln des AEUV auf die Gemeinsame Agrarpolitik für anwendbar zu erklären[2]. Diese Privilegierung erstreckt sich aber notwendigerweise auf die Bereiche, in denen die Urproduktion zumindest beteiligt ist.

Eine weitere Grenze findet Art. 210a darin, dass diese Absprachen notwendigerweise auf die Erreichung von Nachhaltigkeitsstandards abzielen müssen, die in Abs. 3 ausdrücklich definiert sind. Dazu gehören:

a)         Umweltziele, einschließlich Klimaschutz und Anpassung an den Klimawandel, nachhaltige Nutzung und Schutz von Landschaften, Wasser und Böden, den Übergang zu einer Kreislaufwirtschaft, einschließlich der Verringerung von Lebensmittelverschwendung, Vermeidung und Verminderung von Umweltverschmutzung sowie den Schutz und die Wiederherstellung der biologischen Vielfalt und der Ökosysteme;

b)         die Erzeugung von landwirtschaftlichen Erzeugnissen in einer Weise, durch die der Einsatz von Pestiziden verringert und die daraus entstehenden Risiken beherrscht oder die Gefahr einer Resistenz gegen antimikrobielle Wirkstoffe in der landwirtschaftlichen Erzeugung verringert werden, und

c)         Tiergesundheit und Tierwohl.

Derartige Absprachen sind jedoch nur zulässig, soweit sie Ziele über den gesetzlichen Standard hinaus erreichen wollen und erforderlich sind. Der gesetzliche Standard ist eine feste Grenze der wettbewerblichen Freistellung der GAP. Wir finden sie parallel ebenso auch im Hinblick auf die Freistellungen staatlicher Agrarbeihilfen. Sie ist erforderlich, um eine Anreizwirkung zu erreichen, die über die bloße Normbefolgung hinausgeht. Nur diese besondere Anreizwirkung kann die Privilegierung von den kartellrechtlichen Vorgaben rechtfertigen.

Mit dieser Grenze der Verhältnismäßigkeit unterstreicht der Gesetzgeber zum einen den Ausnahmecharakter dieser Freistellung, zum anderen wird er auch den Vorgaben des EuGH gerecht, die dieser zu den kartellrechtlichen Freistellungen im Endivienfall formuliert hat[3]. Dieses Grenze der Verhältnismäßigkeit ist umso beachtlicher, als die Kartellgrenze des Art. 101 AEUV grundsätzlich vollständig entfällt und damit sowohl Absprachen über Preise oder über quantitative bzw. räumliche Begrenzungen denkbar sind.

Besonders beachtenswert ist das von der Kommission vorgesehene Umsetzungsprocedere: Die Freistellung von den kartellrechtlichen Grenzen gilt ab dem Inkrafttreten der Verordnung am 7.12.2021. Die Kommission verzichtet jedoch im Sinne eines self-restraints bis zum 8.12.2023, also zwei Jahre lang, auf eine Vorgabe im Sinne von Leitlinien für die Anwendung der Verordnung. Bis zu diesem Zeitpunkt ist es den Mitgliedstaaten auch verwehrt, die Kommission zu ersuchen, zur Anwendung Auskünfte zu erteilen. Kurzum: Die Kommission überlässt es vollständig den Mitgliedstaaten, hier die Standards zu setzen und behält sich nur für den Fall einer erheblichen Wettbewerbsverzerrung Korrekturen vor. Damit wird dem Subsidiaritätsgedanken in besonderem Maße Rechnung getragen. Ob jedoch die statlichen Behörden, die seit Jahrzehnten konditioniert worden sind, auf die Leitlinien der Kommission zu warten, bevor sie EU-Recht anwenden, durch diese neue Freiheit nicht überfordert sind, wird sich zeigen.

Für Deutschland bietet sich nunmehr die Chance, die Vorbehalte gegen eine Transformation der Landwirtschaft, insbesondere der Nutztierhaltung, so wie sie in der Borchert-Kommission vorgeschlagen wird, fallen zu lassen und sich auf neue Governance-Wege einzulassen.

 

[1] Verordnung (EU) 2021/2117 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 2. Dezember 2021 zur Änderung der Verordnungen (EU) Nr. 1308/2013 über eine gemeinsame Marktorganisation für landwirtschaftliche Erzeugnisse, (EU) Nr. 1151/2012 über Qualitätsregelungen für Agrarerzeugnisse und Lebensmittel, (EU) Nr. 251/2014 über die Begriffsbestimmung, Beschreibung, Aufmachung und Etikettierung von aromatisierten Weinerzeugnissen sowie den Schutz geografischer Angaben für aromatisierte Weinerzeugnisse und (EU) Nr. 228/2013 über Sondermaßnahmen im Bereich der Landwirtschaft zugunsten der Regionen in äußerster Randlage der Union, ABl. EU L 435 vom 6.12.2021, S. 262–314.

[2] Calliess/Ruffert/Martinez, 6. Aufl. 2022, AEUV Art. 42 Rn. 3.

[3] EuGH, C-671/15, ECLI:EU:C:2017:860, Rn. 62 f. (APVE u. a.); Mögele/Sitar, AuR 2018, 362 (366); Calliess/Ruffert/Martinez, 6. Aufl. 2022, AEUV Art. 42 Rn. 19.

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