Loveparade 2010 - die Hauptverhandlung beginnt
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Siebeneinhalb Jahre nach der Loveparade 2010 in Duisburg mit ihren furchtbaren Folgen beginnt nun heute in Düsseldorf die Hauptverhandlung gegen zehn Angeklagte aus der Duisburger Verwaltung und vom Veranstalter Lopavent. Angesichts der langen Vorgeschichte muss man schon begrüßen, dass es heute in Düsseldorf überhaupt zu einer Hauptverhandlung kommt. Viele hatten schon vor einiger Zeit dem Strafverfahren keine Chance mehr gegeben, insbesondere nachdem die Eröffnung zunächst abgelehnt wurde.
Nun findet die Hauptverhandlung im Düsseldorfer Congresscenter statt mit einem enormen zeitlichen, personellen und räumlichen Aufwand. Die LTO schreibt zur Gestaltung:
Am morgigen Freitag beginnt im Congresscenter Düsseldorf Ost mit dem Loveparade-Prozess einer der größten Prozesse der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte. Insgesamt 500 Plätze hat der Zuschauerbereich des Saals im ersten Stock, davon 85 allein für die Medienvertreter. Man wird sie brauchen, für die zehn Angeklagten, ihre 24 Verteidiger, die 64 Nebenkläger und ihre Vertreter. Simultandolmetscher werden in fünf Sprachen übersetzen.
(...)
Neben den drei Richtern und zwei Schöffen werden drei Ergänzungsrichter und fünf Ergänzungsschöffen das Verfahren begleiten, damit es nicht wegen eines Ausfalls auf der Richterbank platzt. Die zuständige 6. Große Strafkammer wurde von allen neu eingehenden Verfahren freigestellt. Sämtliche Verteidiger mussten Vorschläge für Pflichtverteidiger unterbreiten, die einspringen, wenn sie selbst an einem der Prozesstage verhindert sind. Das wird ziemlich sicher geschehen, zumal das Gericht angesichts des straffen Zeitplans schon jetzt mit drei Terminen pro Woche plant. Das ist selbst für größere Kanzleien mit vorhandenem Personal kaum zu leisten.
Die grundlegenden Kausalverläufe, die zur Massenturbulenzkatastrophe in Duisburg geführt haben, sind dabei seit Jahren geklärt, das lässt sich hier im Beck-Blog gut nachvollziehen (siehe die Links zu den früheren Beiträgen und Diskussionen am Ende des Beitrags) und sind erst durch eine fragwürdige Argumentation des LG Duisburg in dessen Nichteröffnungsbeschluss problematisiert worden. Wer sich für die (vom Gericht missverstandene) theoretischen Voraussetzungen interessiert, dem empfehle ich den im Oktober 2017 in ZIS erschienenen Aufsatz von Thomas Grosse-Wilde.
Von Anfang an war eine der eingeschlagenen Verteidigungsrichtungen, dass man auf die Schuld des jeweils anderen hinwies, um die eigene Verantwortlichkeit zu minimieren bzw. auszuschließen. Das ist als Verteidigungsstrategie durchaus legitim, aber in diesem Fall nicht durchschlagend. Denn wenn Fahrlässigkeiten mehrerer Personen bzw. Arbeitsebenen in einem „Erfolg“ (hier Tötung bzw. Körperverletzung in der Massenturbulenz) zusammentreffen, ist jeder einzelne Beteiligte als fahrlässiger Nebentäter für seine eigene Fahrlässigkeit verantwortlich und kann bestraft werden, wenn diese Fahrlässigkeit mit dem Erfolg kausal verknüpft ist und im Pflichtwidrigkeitszusammenhang steht. Dass andere ebenfalls fahrlässig mit zum Erfolg beigetragen haben, entlastet dann nicht.
Sicherlich werden auch in der Hauptverhandlung (wie von Anfang an) insbesondere die Angeklagten auf Veranstalterseite damit argumentieren, Polizeibeamte, die durch Bildung von Sperren an ungeeigneten Stellen letztendlich Ort und Zeit der Katastrophe entscheidend mitbestimmt haben, trügen (als letzte in der Verantwortungskette) die Hauptverantwortung. Und Polizeibeamte seien nicht einmal angeklagt worden.
Wie die regelmäßigen Leser des Blogs wissen, habe ich immer dafür plädiert, auch die Verantwortung der Polizei zu berücksichtigen, da polizeiliche Aktionen entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft eben doch wesentlicher Bestandteil der Ursachenkette gewesen sind. Jedoch ist gleichfalls festzuhalten, dass das Verhalten der Polizei keineswegs die Schuldfrage hinsichtlich der anderen Angeklagten entscheidet. Und es ist auch nicht so, dass auf diesem Wege praktisch die Schuld der (nicht angeklagten) Polizisten den anderen „aufgehalst“ wird. Nein, jeder haftet für eigene Fahrlässigkeit, selbst dann, wenn andere (später) ebenfalls fahrlässig handeln. Damit ich nicht wiederum einen meiner eigenen früheren Beiträge zitieren muss, hier eine zentrale Aussage von Grosse-Wilde, dem insofern vollständig zuzustimmen ist:
„Hierbei gilt für keinen der möglichen Nebentäter, dass die fremde Fahrlässigkeit des jeweils anderen ihm als „eigene Schuld“ zugerechnet wird, sondern lediglich, dass man das Verhalten der anderen Beteiligten als Kausalfaktor in den Verursachungsprozess des Erfolges einfügt, ebenso wie natürliche Ursachen. Über natürliche Ursachen, etwa die Windrichtung, hat der Brandstifter ebenso wenig Herrschaft wie über spätere Handlungen Dritter; trotzdem nimmt niemand Anstoß an einer Zurechnung von Brandschäden. Den Veranstaltern und der Genehmigungsbehörde wird nicht etwaiges Fehlverhalten der Polizei als eigenes zugerechnet, sondern lediglich, dass sie dieses Fehlverhalten durch eigene Fehler herausgefordert haben und damit mittelbar die Katastrophe mitverursacht haben.“ (Grosse-Wilde, in: ZIS 2017, 638 (655)) .
Auch wenn für mich nach allen Informationen, über die ich verfüge, die grundlegende Verantwortlichkeit des Veranstalters und der Genehmigungsbehörde ziemlich fest steht, so erfüllt natürlich trotzdem die Hauptverhandlung noch die wesentlichsten und wichtigsten Voraussetzungen für eine Beurteilung (und evtl. Verurteilung) einzelner Personen:
Es ist zu klären, welche von den angeklagten Personen genau welche Entscheidungen getroffen haben und mit welcher individueller Verantwortung sie daher belastet sind. Zudem hat die Hauptverhandlung auch für die Betroffenen und Angehörigen die wichtige Funktion, diese Aufklärung und den Nachweis öffentlich und transparent darzulegen: Hier hat sich keine unvermeidbare Naturkatstrophe abgespielt, in deren Risikobereich sich die jungen Leute selbst begeben haben (wie etwa bei einer Bergwanderung im Hochgebirge), sondern die Tötungen und Verletzungen hätten durch angemessene Planung und Durchführung (zur Not mit dem Bekenntnis, dass die Veranstaltung in Duisburg eben nicht durchführbar ist) vermieden werden können.
Schließlich: Irrtümer, Fehler und Leichtfertigkeit sind „menschlich“ und tragen keinesfalls dieselbe Schuld mit sich wie etwa das Begehen vorsätzlicher Gewaltstraftaten. Dennoch werden z.B. im Straßenverkehr regelmäßig diejenigen Fahrer, die einen (tödlichen) Unfall verursacht haben, selbst wenn es nur eine eigentlich verzeihlich erscheinende Nachlässigkeit oder ein Augenblicksversagen war, strafrechtlich verurteilt (meist zu Geldstrafen). Es ist hier nicht der Ort, über die Strafwürdigkeit fahrlässigen Verhaltens insgesamt zu streiten – für eine Entkriminalisierung leichter Fahrlässigkeit gibt es gute Argumente. Aber wenn selbst Augenblicksversagen im Straßenverkehr so geahndet werden kann und wird, dann wird man hier nicht gut mit „Zufall“, „Pech“ und „Unglück“ gegen eine Bestrafung argumentieren können. Personen, die eine solche Großveranstaltung monatelang geplant haben und auf die Risiken dieses Eingangskonzepts (Tunnelführung über mehrere hundert Meter) während des Planungsprozesses auch hingewiesen wurden, hätten hier die Gefahr einer tödlichen Massenturbulenz vorhersehen und im Vorfeld minimieren müssen. Das Gleiche gilt für diejenigen, die in der Behörde zur Prüfung des Sicherheitskonzepts einer solchen Veranstaltung berufen sind, bevor sie sie genehmigen.
Zur Verantwortung der politischen Leitung (Oberbürgermeister Sauerland) und des Chefs der Veranstaltungsfirma (Schaller), die jetzt wieder in Pressemeldungen hervorgehoben wird: Sofern die Leitungsebenen nicht in die konkreten Planungen involviert sind, sind sie zwar moralisch/politisch verantwortlich, können aber eben nicht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Strafbar ist nur die fahrlässige Verletzung einer konkreten Sorgfaltspflicht. Es ist aber kein Verstoß gegen eine Sorgfaltspflicht, die Planung und den Genehmigungsprozess für eine Großveranstaltung in Auftrag zu geben bzw. zu befördern. Es ist auch nicht sorgfaltspflichtwidrig, wichtige Aufgaben zu delegieren – sofern man geeignete Leute eingestellt hat, die diesen Plan bzw. dessen Prüfung umsetzen. Es gehört eben auch zur Verantwortung Untergebener in leitender Funktion, die Leitungsebenen über ihnen rechtzeitig darüber in Kenntnis zu setzen, dass grundlegende Sicherheitsbedenken nicht ausgeräumt werden können und deshalb eine Veranstaltung eben nicht stattfinden kann. Dass hier in der politischen Entscheidungsstruktur der Stadt Duisburg möglicherwiese etwas im Argen lag, wenn sich etwa niemand traut, dem Chef gegenüber ehrlich zu sein, soll dahingestellt bleiben, denn dies wäre strafrechtlich eben nicht relevant.
Ich werde, wann immer es angezeigt erscheint, den Prozess aus der Ferne kommentieren. Für die tägliche Information verweise ich zunächst auf den Blog des Kollegen Thomas Feltes, der am Prozess als Nebenklägervertreter beteiligt ist.
Update nach dem ersten Tag der Hauptverhandlung:
Spiegel Online schreibt, der erste Tag sei geprägt gewesen von Anträgen der Verteidigung, und lässt durchblicken, diese würden jetzt schon eine Verzögerungstaktik fahren:
Der erste Prozesstag ist davon geprägt, dass ihre Verteidiger Antrag auf Antrag einreichen. In einem geht es um eine mögliche Befangenheit zweier Ergänzungsschöffen. Dann möchte ein Strafverteidiger eine Besetzungsrüge einbringen. "Hier sitzen nicht die richtigen Richter, die über das Verfahren urteilen", sagt er. Ein Vorwurf, über den sich die Anwälte der Nebenkläger echauffieren, einer spricht von "rechtswidrigen Anträgen" und wirft der Verteidigung vor, die Verhandlung mit taktischen Manövern verzögern zu wollen.
Das ist m. E. eine Fehleinschätzung. Besetzungsrügen müssen gleich am ersten Tag, ebenso müssen bestimmte Ablehnungsgründe von der Verteidigung unverzüglich geltend gemacht werden (Korrektur: Vor dem in § 222b StPO genannten Zeitpunkt zu Beginn der Hauptverhandlung). Dies führt regelmäßig und notwendig gerade bei Großprozessen zu Verzögerungen am ersten Verhandlungstag, ist also nicht ungewöhnlich.
Erfrischend sachlich Thomas Feltes dazu (obwohl er ja als Nebenklägerverterter "auf der anderen Seite" steht):
Jedenfalls kann nicht von einer „Flut von Anträgen“ die Rede sein, wie dies eine überregionale Zeitung schrieb. Man muss den Verteidigern zubilligen, einen Befangenheitsantrag gegen zwei Ergänzungsschöffen zu stellen, deren Töchter bei der Loveparade waren, auch wenn die Töchter vor der Katastrophe gegangen waren. Aber dass dies den Eindruck der Befangenheit bei den Angeklagten wecken kann, zumal einer angab, dass er sich nicht mehr erinnern kann, ob er mit seiner Tochter über die Veranstaltung gesprochen hat, ist nachvollziehbar – und der Eindruck genügt für einen entsprechenden Antrag. Der zweite Antrag zur Besetzung des Gerichts war dann schon weniger klar, da er vor allem juristisch begründet wurde. Aber auch er erschien mir zumindest nicht offensichtlich unzulässig.
Ebenfalls interessant ist der Bericht von Frank Bräutigam (Prozessbeobachter für die tagesschau)
Update (Ergänzung am 10.12.2017):
Auf SPON wird der Staatsanwalt zitiert mit der Aussage:
"Die Gefahr lebensgefährlicher Drucksituationen war ihnen bewusst. Es musste zwangsläufig dazu kommen", sagte der Ankläger.
Diese Angabe der Zwangsläufigkeit (sie erscheint als wörtliches Zitat) erscheint mir sachlich unzutreffend und - wenn damit eine materiellrechtliche Begrenzung der Strafbarkeit auf Fälle der Zwangsläufigkeit impliziert sein sollte - sogar äußerst bedenklich. Es ist für die Verurteilung wegen eines Fahrlässigkeitsdelikts eben NICHT erforderlich, dass die Sorgfaltspflichtverletzung "zwangsläufig" zum Erfolg führen musste. Es genügt, dass der Erfolg vorhersehbar war und im KONKRETEN FALL durch die Pflichtverletzung VERURSACHT (oder mitverursacht) wurde.
Zur Erläuterung: Jährlich werden tausende von Autofahrern wegen fahrl. Tötung nach § 222 verurteilt, weil sie einen Fahrfehler begangen haben, z.B. vor dem Unfall zu schnell gefahren sind. Im Prozess muss nachgewiesen werden, dass (im konkreten Fall) die Geschwindigkeitsüberschreitung (Mit)-Ursache des Unfalls war. Dass eine Geschwindigkeitsüberschreitung nicht zwangsläufig, also immer, zu Unfällen führt, lässt sich an den hunderttausenden von täglichen Geschwindigkeitsverstößen erkennen, die ohne Unfallfolge bleiben.
Natürlich hätte die Loveparade auch gut ausgehen können trotz der riskanten Planung/Genehmigung. Aber es ist eben nicht gut ausgegangen. Und strafrechtlich muss jetzt (nur) nachgewiesen werden, dass sorgfaltspflichtwidrige Beiträge der Angeklagten bei Planung und Genehmigung des Eingangsablaufs mitursächlich für das konkret eingetretene Unglück waren.
Update (Ergänzung am 18.01.2018)
Mittlerweile haben Zeugenvernehmungen begonnen, zusammenfassende Berichte findet man in der Tagespresse, aber auch gut zusammengefasst auf dem Blog des WDR. Ich hielte es übrigens nicht für eine sinnvolle Verteidigungstaktik, sich auf Zeugen, die sich schlecht oder falsch erinnern bzw. ihren früheren schriftlich dokumnetierten Aussagen widersprechen, zu stürzen (sollte dies so geschehen sein wie im WDR-Blog geschildert). Warum? Die Geschehnisse am Tag der Loveparade, die Umstände, unter denen die Zeugen verletzt wurden bzw. unter denen sie die Verletzung oder Tötung von anderen Menschen beobachtet haben, stehen weitgehend bereits fest. Dass einzelne Zeugenaussagen Erinnerungslücken und Widersprüche aufweisen, ist typisch für den Zeugenbeweis nach so vielen Jahren und unter den traumatisierenden Umständen, in denen die Wahrnehmung gemacht wurde. Unter diesen Umständen Zeugen "vorzuführen", bringt m.E. für die Verteidigung keine Vorteile.
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Links zu früheren Beiträgen und Diskussioneen hier im Beck-Blog und weiteren wichtigen Informationen, die im Netz verfügbar sind:
Juli 2015: Fünf Jahre und kein Ende – die Strafverfolgung im Fall Loveparade 2010 (98 Kommentare, ca. 11000 Abrufe)
Februar 2015: Was wird aus dem Prozess? (72 Kommentare, ca. 8000 Aufrufe)
August 2014: Zweifel am Gutachten (50 Kommentare, ca. 9000 Abrufe)
Februar 2014: Anklageerhebung (50 Kommentare, ca. 16000 Abrufe)
Mai 2013: Gutachten aus England (130 Kommentare, ca. 16500 Abrufe)
Juli 2012: Ermittlungen dauern an (68 Kommentare, ca. 14000 Abrufe)
Dezember 2011: Kommt es 2012 zur Anklage? (169 Kommentare, ca. 30000 Abrufe)
Mai 2011: Neue Erkenntnisse? (1100 Kommentare, ca. 37000 Abrufe)
Dezember 2010: Fünf Monate danach (537 Kommentare, ca. 26500 Abrufe)
September 2010: Im Internet weitgehend aufgeklärt (788 Kommentare, ca. 43000 Abrufe)
Ergänzend:
Link zur großen Dokumentationsseite im Netz:
speziell: Illustrierter Zeitstrahl
Link zur Seite von Lothar Evers: DocuNews Loveparade Duisburg 2010
Link zur Prezi-Präsentation von Jolie van der Klis (engl.)
Weitere Links:
Große Anfrage der FDP-Fraktion im Landtag NRW
Kurzgutachten von Keith Still (engl. Original)
Kurzgutachten von Keith Still (deutsch übersetzt)
Analyse von Dirk Helbing und Pratik Mukerji (engl. Original)
Multiperspektiven-Video von Jolie / Juli 2012 (youtube)
Multiperspektiven-Video von Jolie / September 2014 (youtube)
Interview (Januar 2013) mit Julius Reiter, dem Rechtsanwalt, der eine ganze Reihe von Opfern vertritt.
Blog von Thomas Feltes zur Hauptverhandlung
Blog des WDR zur Hauptverhandlung (Berichte über jeden Prozesstag)