Gewaltsame Nötigung durch Sitzblockade - klares Jein des BVerfG?
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Die ganz große Zeit der Sitzblockaden - man erinnere sich an Heinrich Böll vor dem amerikanischen Atomwaffendepot in Mutlangen - ist wohl vorbei. Dennoch ist die Frage, ob mit solchen Blockaden "Gewalt" im Sinne des § 240 Abs. 1 StGB ausgeübt wird, aktuell geblieben und beschäftigt nach wie vor die höchsten Gerichtsinstanzen. Am 7. März gab es dazu erneut eine Entscheidung des BVerfG, deren Tenor in verschiedenen Blogs und Nachrichtenportalen aber durchaus unterschiedlich verstanden wurde.
Zunächst ein kurzer Rückblick: Die langjährige Entwicklung der "Vergeistigung" des Gewaltbegriffs durch den BGH, der entgegen der alltagssprachlichen Wortverwendung von "Gewalt" kaum noch eine Aktion des Täters, sondern weitestgehend nur noch die Verursachung einer gewissen Zwangswirkung beim Opfer verlangte, wurde durch das BVerfG mit der Entscheidung vom 10. Januar 1995 BVerfGE 92, 1 (14 ff.) = NJW 1995, 1141 gestoppt: Nunmehr gilt: Die reine Verursachung einer psychischen Zwangswirkung, also die "Nötigung" allein, genügt nicht. Es muss vielmehr ein Verhaltensaspekt hinzukommen, der als "Gewalt" zusätzlich zu subsumieren ist, denn schließlich verlangt § 240 beides: Nötigung DURCH Gewalt und nicht bloße Nötigung. Zitat:
Da die Ausübung von Zwang auf den Willen Dritter bereits im Begriff der Nötigung enthalten ist und die Benennung bestimmter Nötigungsmittel in § 240 StGB die Funktion hat, innerhalb der Gesamtheit denkbarer Nötigungen die strafwürdigen einzugrenzen, kann die Gewalt nicht mit dem Zwang zusammenfallen, sondern muß über diesen hinausgehen (BVerfG NJW 1995, 1141, 1142)
Damit war die bloße Verhinderung des Weiterfahrens durch "sich auf den Weg setzen" nicht mehr tatbestandsmäßig. Der BGH akzeptierte dies äußerlich, fand aber einen Weg, um dennoch die meisten Sitzblockaden im Straßenverkehr als strafbare gewaltsame Nötigung zu erfassen: Zwar sei das Erzwingen des Anhaltens der ersten Reihe von Fahrzeugen lediglich durch die körperliche Anwesenheit verursacht und die Fahrzeugführer der ersten Reihe würden deshalb auch nicht gewaltsam genötigt, jedoch würden die folgenden Fahrzeuge ab der zweiten Reihe mit mehr als der bloßen Anwesenheit der Blockierer genötigt, weil ihr Fahrweg ja durch die vordere Reihe blockiert sei. D.h. die Sitzblockierer benutzten die erste Reihe in mittelbarer Täterschaft zur gewaltsamen Blockade der zweiten bis x-ten Reihe von Fahrzeugen bzw. deren Fahrern. Durch diesen - von mir und anderen Wissenschaftlern als solchen wahrgenommenen "Trick" - gelang es dem BGH, dem "Sinn" der Entscheidung des BVerfG auszuweichen und letztlich, wie es Amelung (NStZ 1996, 230) formulierte in einem Akt des "kaum verhüllten Ungehorsams" das BVerfG "vorzuführen".
Nun hatte das BVerfG in der vorliegenden Entscheidung erneut Gelegenheit, zu dieser Sachlage aus verfassungsrechtlicher Sicht Stellung zu nehmen und den Ungehorsam des BGH zu vereiteln oder hinzunehmen. Herausgekommen ist ein klares "Jein".
Zum einen hat das BVerfG die "zweite Reihe"-Argumentation des BGH voll bestätigt. Das ist im Vergleich zur früheren Entscheidung ein teleologischer Rückzieher. Das BVerfG argumentiert so:
(Die) geforderte physische Zwangswirkung liegt in dieser Konstellation vor. Dies gilt zwar nicht für das Verhältnis von den Demonstranten zu dem ersten Fahrzeugführer, wohl aber für das Verhältnis von dem ersten Fahrzeugführer zu den nachfolgenden Fahrzeugführern. Indem der erste Fahrzeugführer aus Rücksicht auf die Rechtsgüter der Demonstranten abbremst, zwingt er den nachfolgenden Fahrzeugführer zur Vermeidung eines Aufpralls und damit zur Schonung eigener Rechtsgüter anzuhalten. Das erste Fahrzeug in der Reihe bedeutet für den nachfolgenden Fahrzeugführer ein unüberwindbares physisches Hindernis im Sinne des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Januar 1995. (...) Die Demonstranten versetzen den ersten Fahrzeugführer mit dem Betreten der Fahrbahn, ohne dass es weiterer (Inter-)Aktion bedarf, gezielt in ein rechtliches Dilemma, das dieser aufgrund der von der Rechtsordnung auferlegten strafbewehrten Pflichten etwa nach §§ 212, 224, 226 StGB zum Schutz von Leib und Leben nicht anders als nach dem Willen der Demonstranten durch einen Eingriff in die Willensbetätigungsfreiheit der nachfolgenden Fahrzeugführer auflösen kann. Sie sind damit unmittelbar für das Strafbarkeitsdefizit des ersten Fahrzeugführers im Verhältnis zu den nachfolgenden Fahrzeugführern in Form des rechtfertigenden Notstandes nach § 34 StGB verantwortlich.
Ob dies wirklich schlüssig ist, kann aber mit Hoyer, JuS 1996, 200, 203 f. durchaus bezweifelt werden. Es ist nämlich auch der Rechtswidrigkeits- und Schutzzweckzusammenhang zu beachten. Nach der "Zweiten Reihe"-Rechtsprechung wird die Blockade ja nur dadurch zu einer tatbestandsmäßigen, dass ein Autofahrer weiter hinten vom vordersten Fahrzeug/Fahrer blockiert wird, während der vorderste tatbestandslos am Weiterfahren gehindert wird. Denkt man aber einmal die erste Reihe weg, um festzustellen, was als Kern des Vorwurfs dann übrig bleibt, dann könnte auch der Fahrer in der zweiten Reihe nur bis zu den Sitzblockierern vorfahren. D.h. § 240 StGB sorgt dann nur dafür, dass ein Autofahrer einige wenige Meter weiter vorfahren kann - eine etwas kuriose Annahme hinsichtlich des Schutzzwecks.
Zum anderen: Im konkreten Fall war die Verfassungsbeschwerde im Ergebnis erfolgreich, denn das Landgericht habe es bei der Prüfung der Verwerflichkeit nach § 240 Abs. 2 StGB versäumt, wichtige Aspekte in die Beurteilung einzubeziehen, andere habe es zu Unrecht gegen den Beschwerdeführer gewertet und damit das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit verletzt. Die bisher relativ klare Verbindung zwischen Gewalt und Verwerflichkeit wird damit gekappt: Auch eine "gewaltsame Sitzblockade" kann also rechtmäßig sein. Immerhin lässt sich der Entscheidung insofern entnehmen, dass der Zweck, mit einer Sitzblockade in der politschen Auseinandersetzung Aufmerksamkeit zu erregen , eher für als gegen die Rechtmäßigkeit derselben spricht. Damit ist vielleicht in § 240 Abs. 2 der richtigere Ort gefunden, um die grundsätzlichen Fragen zu diskutieren, die sich bei der Abwägung zwischen Versammlungsfreiheit der "Täter" und Willensbetätigungsfreiheit der "Opfer" einer Sitzblockade ergeben. Immerhin können ja auch durch "normale" Demonstrationen zum Teil erhebliche Verkehrsstauungen verursacht werden. Hier könnte auch eine kleine Tür geöffnet worden sein, so genannte Fernziele der Nötigung in der Verwerflichkeitsprüfung zu berücksichtigen, nicht erst in der Strafzumessung.