Richtigkeit einer juristischen Fachübersetzung: Teil Zwei
Gespeichert von Peter Winslow am
Eine juristische Fachübersetzung ist m. E. in hinreichendem, aber nicht in notwendigem Sinne richtig, wenn sie mindestens zwei von drei Tests standhalten kann, die jeweils zu einer Feststellung in Bezug auf die Richtigkeit der Übersetzung eines juristischen Fachbegriffs führen. Man könnte diese Tests den Einfachheitstest, den Annäherungstest und den Widerspruchstest nennen. … Die Übersetzung eines juristischen Fachbegriffs ist also in hinreichendem Sinne richtig, wenn sie dem Annährungstest und dem Widerspruchstest auf der einen Seite oder dem Einfachheitstest und dem Widerspruchstest auf der anderen standhalten kann.
Der Einfachheitstest
Mit dem Einfachheitstest (simplicity test) soll festgestellt werden, ob die Übersetzung eines juristischen Fachbegriffs die jeweils einfachste Übersetzung darstellt. Dieser Test ist komplizierter als der Annäherungstest – das Erzielen einer brauchbaren Einfachheit ist selten einfach – und wird daher in einem zukünftigen Blogbeitrag behandelt.
Der Annäherungstest
Mit dem Annäherungstest (approximation test) soll festgestellt werden, ob zwei Rechtssysteme bedeutend ähnliche – nicht identische – Fachbegriffe aufweisen. Das Vorliegen dieser Begriffe kann man sich so denken: Sie bieten eine stichhaltige Annäherung ohne Anspruch auf gesetzliche oder rechtliche Äquivalenz.
Wenn man beispielsweise den juristischen Fachbegriff Insolvenz ins US-Englische übersetzen möchte, so ist dieser Begriff mit bankruptcy zu übersetzen, weil die Insolvenz nach deutschem Recht eine bedeutend ähnliche – aber nicht identische – Struktur mit bankruptcy nach amerikanischem Recht teilt. … Nach deutschem Recht ist die Insolvenz ein Verfahren, das dazu dient, »die Gläubiger eines Schuldners gemeinschaftlich zu befriedigen, indem das Vermögen des Schuldners verwertet und der Erlös verteilt oder in einem Insolvenzplan eine abweichende Regelung insbesondere zum Erhalt des Unternehmens getroffen wird« (siehe § 1 InsO). Nach amerikanischem Recht dient bankruptcy auch dazu. Bankruptcy ist: »a statutory procedure by which a […] debtor obtains financial relief and undergoes a judicially supervised reorganization or liquidation of the debtor’s assets for the benefit of the creditors« (siehe Black’s). Die Annäherung ist also stichhaltig, soweit kein Anspruch auf gesetzliche oder rechtliche Äquivalenz erhoben wird und soweit sie dem Widerspruchstest standhält.
Der Widerspruchstest
Mit dem Widerspruchstest (inconsistency test) soll festgestellt werden, ob eine Übersetzung eines juristischen Fachbegriffs zu einem Widerspruch bei der Übersetzung eines anderen Fachbegriffs führt. Im ersten Schritt identifiziert man die Widerspruchskandidaten. Im nächsten unterzieht man den jeweiligen Kandidaten dem Annäherungstest. In unserem Beispiel gibt es, soweit mir bekannt ist, nur einen Widerspruchskandidaten: den Begriff insolvency.
Aus dem Annäherungstest geht hervor, dass der Begriff insolvency und der Begriff Zahlungsunfähigkeit eine stichhaltige Annäherung aufweisen. Nach deutschem Recht liegt die Zahlungsunfähigkeit vor, »wenn der Schuldner nicht mehr in der Lage ist, seine fälligen Zahlungsverpflichtungen zu erfüllen« (siehe Creifelds). Nach amerikanischem Recht ist insolvency »[t]he condition of being unable to pay debts as they fall due« (siehe Black’s). Da bei Übersetzungen ins US-Englische insolvency die Übersetzung von Zahlungsunfähigkeit ist, besteht kein Widerspruch im Hinblick auf die Übersetzung des Begriffs Insolvenz mit bankruptcy. Und da bei Übersetzungen ins US-Englische bankruptcy die Übersetzung von Insolvenz ist, besteht auch kein Widerspruch im Hinblick auf die Übersetzung des Begriffs Zahlungsunfähigkeit mit insolvency. … Ein Widerspruch wird für alle vier Fachbegriffe ausgeschlossen.
Eine Art Fazit
Weil diese Tests theoretisch für jede Sprachkombination gelten (sollten), ist wichtig, dass sie unter stetiger Berücksichtigung sowohl der Sprachen als auch der Rechtssysteme durchgeführt werden. … Oben handelt es sich um Übersetzungen ins US-Englische. Man wird möglicherweise zu anderen Ergebnissen kommen, sobald es sich um ein anderes Englisch (z. B. UK-Englisch) und somit ein anderes Rechtssystem (z. B. England und Wales) handelt – gleiche Tests, andere Verhältnisse und somit andere Ergebnisse.
Mögliche Einwände
Zum Schluss sollten zwei mögliche Einwände kurz angesprochen werden. Der erste lässt sich leicht überwinden, der zweite nicht.
Erstens: Man könnte einwenden, dass in der vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz online zur Verfügung gestellten Übersetzung der Insolvenzordnung der Begriff Insolvenz mit insolvency übersetzt wird. Und dieser Einwand ist zunächst richtig. Diese Übersetzung findet sich tatsächlich dort. … Die Übersetzung ist jedoch weder offiziell noch verbindlich. Sie stellt lediglich eine nicht amtliche Übersetzung dar, die laut eigenen Angaben dieses Bundesministeriums »solely as a convenience to the non-German-reading public« bestimmt ist. … Aber sie ist nicht einmal das.
Im Gegenteil: Sie ist mit höchster Vorsicht zu genießen. In dieser Übersetzung wird nicht zwischen Insolvenz und Zahlungsunfähigkeit unterschieden. Beide Begriffe werden mit insolvency übersetzt, sodass manche Tautologie – unabhängig vom Englischen (z. B. UK-Englisch, US-Englisch etc.) – entsteht, deren Feststellung keiner Hilfeleistung, weder einer gesetzlichen noch einer übersetzerischen, bedarf. … Ein Beispiel lässt sich § 17 Abs. 1 der Insolvency Statute entnehmen. Dort lautet die Übersetzung: »Insolvency shall be the general reason to open insolvency proceedings«.
Zweitens: Man könnte auch einwenden, dass die EU den Begriff Insolvenz mit insolvency übersetzt (Verordnung (EU) 2015/848 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 2015). Dieser Einwand ist wichtig und eine Antwort muss leider zunächst einem zukünftigen Blogbeitrag vorbehalten bleiben.