Die Triage-Empfehlung beim Bundesverfassungsgericht
Gespeichert von Dr. Michaela Hermes, LL.M. am
Mit einer Verfassungsbeschwerde (1 BvR 1541/20) machen neun Personen mit Behinderungen, die Triage-Empfehlungen der Deutschen Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) zum Gegenstand einer Überprüfung. Schon früh in der Corona-Krise haben 7 medizinische Fachgesellschaften eine Handreichung verfasst. Dabei handelt es sich um Leitlinien, die Orientierung geben sollen, wer bei knappsten Ressourcen intensivmedizinisch behandelt werden soll und wer nicht. Vor Augen hatten die Fachgesellschaften die Situation in den italienischen Krankenhäusern. Dort standen für Covid-19 Patienten weder ausreichend Intensivbetten noch Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das Stichwort Triage beschreibt dabei die Herausforderung für die Ärzte, bei echter Knappheit eine Verteilungsentscheidung zwischen den Patienten zu treffen. Die Fachgesellschaften gaben den Ärzten die Empfehlung, nach den klinischen Erfolgsaussichten zu entscheiden. Die Triage-Situation blieb den Ärzten in Deutschland bisher erspart.
Unterstützt werden die Kläger durch die Initiative AbilityWatch. Die Initiative befürchtet, dass durch die Empfehlungen die Gefahr, einer „medizinischen Aussortierung“ droht.
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich nicht direkt gegen die Empfehlungen der Fachgesellschaften, da es sich dabei um eine reine Empfehlung an Ärzte handelt. Deshalb wenden sich die Kläger mit der Verfassungsbeschwerde gegen die Untätigkeit des Gesetzgebers. Sie halten eine Lösung, die Menschen mit Behinderungen in einer derartigen Situation benachteiligen könnte, nicht für verfassungsgemäß. Der Gesetzgeber dürfe nicht einer privaten Fachgesellschaft die Entscheidung überlassen, wer bei Überlastung der Krankenhäuser priorisiert wird, ist die Auffassung von AbilityWatch. Hier müsse der Gesetzgeber seiner Schutzpflicht den betroffenen Bürgern gegenüber nachkommen und durch verfassungsrechtlich nachprüfbare Prinzipien regeln, wie im Fall einer Triage zu entscheiden sei.
Die Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung
Die Problematik erfordert komplexe medizinische, ethische und rechtliche Überlegungen.
Das Ringen um ethische Orientierung ist ein anspruchsvolles Unterfangen. Ursächlich hierfür ist, dass fundamentale Fragen des Menschseins berührt werden. Die Medizin kann nur sagen, ob die Anwendung eines Arzneimittels bei einem Patienten „sinnvoll“ ist. Beim Vergleich von Patienten und bei der Abwägung von Zielkonflikten ist die Medizin auf ethische und rechtliche Vorgaben angewiesen. Eine Rechtsnorm, die das Problem der Zuteilung knapper medizinischer Güter im Pandemiefall regelt, sucht man vergebens.
Der Deutsche Ethikrat hat in einer Ad-hoc-Stellungnahme auf die Triage-Empfehlung der Fachgesellschaften mitgeteilt: „Der Staat darf menschliches Leben nicht bewerten, und deshalb auch nicht vorschreiben, welches Leben in einer Konfliktsituation vorrangig zu retten ist.“
Zuteilungsentscheidungen aufgrund knapper medizinischer Ressourcen haben eine hohe Bedeutung für die Allgemeinheit und weisen eine hohe Grundrechtsrelevanz auf. Nach der Wesentlichkeitslehre des Bundesverfassungsgerichts wäre eine Regelung durch den parlamentarischen Gesetzgeber notwendig. Dabei kann nicht „die“ gerechte oder „richtige“ Zuteilung von Medikamenten und intensivmedizinischen Ressourcen im Pandemiefall bestimmt werden.
Ziel der Rechtsordnung ist es, ein Optimum an Rechtsgüterschutz zu erreichen. Bei kollidierenden Grundrechten verschiedener Bürger ist jedem Grundrecht zu möglichst weitreichender Geltung zu verhelfen. Wenn in einer Situation nicht alle Interessen geschützt werden können, wie es im Pandemiefall mit knappen Ressourcen passieren kann, ist dieser maximale Rechtsgüterschutz nur zu erreichen, wenn knappe medizinische Güter so eingesetzt werden, dass so viele Leben wie möglich gerettet werden können.
Der Gesetzgeber ist hier gefordert, grundlegende Entscheidungen selbst zu treffen. Die Regelungsverantwortung kann er nicht auf Patienten, Ärzte oder Richter abwälzen.
Zu den Triage-Kriterien siehe auch den Blog-Beitrag:https://community.beck.de/2020/03/26/corona-ethik-wer-darf-weiterleben.