Der Bürger im Visier des Verfassungsschutzes

von Dr. Sylvia Kaufhold, veröffentlicht am 03.09.2023
Rechtsgebiete: MedienrechtVerwaltungsrechtRechtspolitik4|3445 Aufrufe

Unter dem Titel Der Bürger im Visier des Verfassungsschutzes erschien im FAZ Einspruch vor wenigen Tagen ein äußerst interessanter Beitrag des Verfassungsrechtlers Prof. Dr. Josef Franz Lindner von der Uni Augsburg, der mich sehr nachdenklich gemacht hat. Denn wie zahlreiche aktuelle Beispiele zeigen, werden Menschen heute allzu leicht Opfer eines sich gegenseitig verstärkenden moralischen Aktivismus in Politik und Medien, dessen Wucht rechtliche und rechtsstaatliche Maßstäbe zunehmend verschwimmen lässt. Damit kann nicht nur dem Betroffenen nicht wieder gutzumachender Schaden zugefügt werden, sondern auch unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Besonders gefährlich ist es, wenn Behörden an solchen Vorgängen beteiligt sind, die eben diese Grundordnung eigentlich schützen sollen.

Anläßlich der Presseberichte über ein angebliches Interesse des Geheimdienstes ausgerechnet am früheren Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, geht Lindner der Frage nach, unter welchen Voraussetzungen Personen eigentlich vom Verfassungsschutz des Bundes und der Länder beobachtet werden dürfen und dies in der Öffentlichkeit lanciert werden darf. Seine wesentlichen Aussagen lassen sich wie folgt zusammenfassen:

1. Grundsätzlich können Personen nur als Teil einer verfassungsfeindlichen „Bestrebung“ also eines Personenzusammenschlusses wie einer Partei oder sonstigen Gruppierung Beobachtungssubjet sein. Erst aufgrund neuerer Gesetzesänderungen dürfen ausnahmsweise auch Einzelpersonen beobachtet werden, wenn sie selbst und unabhängig von einer Gruppe Gleichgesinnter eine „qualifizierte Bedrohung“ für die freiheitliche demokratische Grundordnung darstellen, weil ihr Verhalten auf deren Beseitigung oder die Verwirklichung anderer verfassungsfeindlicher Ziele „gerichtet ist“. Nach einigen Länderverfassungsschutzgesetzen muss die Verhaltensweise der Person darüber hinaus Gewaltbereitschaft oder erhebliches Schädigungspotenzial erkennen lassen (vgl. § 6 Abs. 1 S. 3 ThürVerfSchG). Anders gesagt muss also eine gefährliche verfassungsfeindliche Einstellung der Person in ihrem Verhalten zum Ausdruck kommen.

2. Ob die Voraussetzungen für die Beobachtung der Person gegeben sind oder nicht, wird in vier Phasen geprüft. Unterschieden wird eine handlungsneutrale Phase (keinerlei Tätigkeit zulässig), eine Vorprüfphase (Sammlung von Informationen aus öffentlichen Quellen), eine Prüfphase (systematische Erhebung, Sammlung und Auswertung von Material – „Prüffall“) sowie eine Verdachtsphase (systematische Beobachtung auch mit nachrichtendienstlichen Mitteln (Abhören etc.) – „Verdachtsfall“). Das Vorliegen der Beobachtungsvoraussetzungen ist in jeder Phase unter Würdigung der grundrechtlich geschützten Meinungsfreiheit einzelfall- und kontextbezogen zu beurteilen und im Zweifel zu verneinen. Lindner betont, dass "pointierte Stellungnahmen, zugespitzte oder in der Öffentlichkeit als radikal oder sogar extrem empfundene Äußerungen einer Einzelperson in Publikationen, Interviews oder sozialen Netzwerken" die gesetzliche Hürde regelmäßig nicht erreichen. Etwas anderes dürfte allerdings dann gelten, wenn solche Äußerungen bereits eine gefährliche verfassungsfeindliche Haltung der Person erkennen lassen.

3. Die beiden ersten Phasen, deren Abgrenzung entscheidend ist für die Frage, ob eine Person überhaupt in das Visier des Verfassungsschutzes geraten darf, beschreibt Linder so:

„Handlungsneutrale Phase

In der handlungsneutralen Phase wird die Verfassungsschutzbehörde (noch) nicht tätig, weil eine Einzelperson entweder überhaupt nicht einschlägig in Erscheinung tritt oder ihre bisher bekannt gewordenen Äußerungen oder Verhaltensweisen zwar beispielsweise ausgeprägt regierungs- oder sogar verfassungskritisch sein mögen, aber keine Tendenz in Richtung einer Bestrebung aufweisen, die in der geforderten gesteigerten Weise gegen die verfassungsmäßige Ordnung gerichtet ist.

In dieser Phase ist eine Erhebung von Informationen und eine Sammlung von Material auch aus öffentlich zugänglichen Quellen nicht zulässig. Auch eine vorsorgliche Materialsammlung im Sinne eines „den schauen wir uns mal genauer an“ oder eine anderweit motivierte Vorratsdatensammlung über eine in der Öffentlichkeit „umstrittene“, aber nicht verfassungsfeindliche Person ist rechtswidrig.

Vorprüfphase

In der Vorprüfphase (ein Begriff, den die Verfassungsschutzgesetze nicht ausdrücklich verwenden) kann die Verfassungsschutzbehörde einzelne, bereits in die Richtung einer qualifizierten Bestrebung weisende Äußerungen oder Verhaltensweisen einer Einzelperson zum Anlass nehmen, sich mit der betreffenden Person näher zu beschäftigen. In dieser Phase bestehen zwar noch keine tatsächlichen Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Bestrebung, sodass konkrete Beobachtungsmaßnahmen wie das systematisierte Erheben von Daten und Sammeln von Material weiterhin ausscheiden. Verhalten oder Äußerungen der Einzelperson bieten jedoch immerhin schon bestimmte konkrete Ansätze dafür, dass sich die Einzelperson als verfassungsfeindliche Bestrebung erweisen könnte.

In der Vorprüfphase wird daher eruiert, ob sich bisher erkennbare Ansätze für das Vorliegen einer Bestrebung zu tatsächlichen Anhaltspunkten für ihr Vorliegen verdichten lassen. Zur Prüfung, ob solche tatsächlichen Anhaltspunkte gegeben sind, darf die Verfassungsschutzbehörde aber lediglich – grundrechtsschonend – Informationen aus allgemein zugänglichen Quellen erheben.“

4. Erst wenn sich aus dieser Vorprüfung tatsächliche Anhaltspunkte für das Vorliegen einer verfassungsfeindlichen Bestrebung ergeben, darf in der sich anschließenden Prüfphase eine systematische Sammlung von Material im Sinne eines umfassenden Dossiers angelegt werden („Prüffall“). Wenn sich dann diese tatsächlichen Anhaltspunkte zu einem konkreten Verdacht gegen die Person verdichten, ist ihre systematische Beobachtung auch mit nachrichtendienstlichen Mitteln (Abhören etc.) zulässig und nur in einem solchen „Verdachtsfall“ darf auch die Öffentlichkeit informiert werden darf.

5. Ein Verstoß gegen diese Prüfungsreihenfolge und/oder ein inoffizielles „Durchstechen“ insbesondere rechtswidrig erhobener Informationen an die Presse stellt einen gravierender Eingriff in das in der Menschenwürde angelegte allgemeine Persönlichkeitsrecht des Betroffenen dar. Die Verfassungsschutzgesetze, so Lindner, „lassen es nicht zu, geheime Informationen über die Beobachtung von Einzelpersonen bereits in der Vorprüfphase oder der Prüfphase an die Presse zu geben, die sich ihrerseits bei Veröffentlichung auf rechtlich äußerst dünnes Eis begibt.“ Aus der Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG folge, dass der Betroffene insbesondere die Möglichkeit habe, von den Verwaltungsgerichten die Rechtswidrigkeit von Beobachtungsmaßnahmen und ihrer Veröffentlichung feststellen zu lassen.

Bezogen auf den Ex-Verfassungsschutzchefs Hans-Georg Maaßen bedeutet das aus meiner Sicht ganz klar:

  • Was die Kritiker Maaßens aus seinen teils überspitzten und manchmal auch verunglückten Äußerungen – bei genauerer Betrachtung allerdings immer zu Unrecht − heraushören, reicht von Rassismus, Antisemitismus über Verschwörungsideologie bis hin zu Rechtsextremismus und AfD-Nähe. Verfassungsfeindlichkeit wird ihm hingegen praktisch nie vorgeworfen und in der Tat lässt sich eine solche Einstellung, nach dem was in der Öffentlichkeit bekannt wurde, nicht einmal im Ansatz beim ehemaligen Verfassungsschutzpräsidenten erkennen. Im Gegenteil sind all seine Äußerungen auch in sogen. „neurechten Medien“ immer von tiefer Sorge um unsere freiheitliche demokratische Grundordnung geprägt. Dies zeigt auch seine trotz seiner persönlichen Betroffenheit klare und sachliche Kommentierung der hier in Frage stehenden Ereignisse.
  • Wenn sich Hans-Georg Maaßen damit ausschließlich im handlungsneutralen Bereich befindet, sind alle gegen ihn gerichteten Vorprüfungen, Prüfungen oder sonstige Maßnahme seitens des Thüringer Verfassungsschutzes und seitens des Bundesamts für Verfassungsschutz, wie sie in der Presse berichtet wurden (vgl. Süddeutsche, Bild, Spiegel, Welt), offensichtlich rechtswidrig und von Amts wegen aufzuklären. Dies gilt selbstverständlich auch für die mutmaßliche Anforderung von Informationen bei anderen Bundesbehörden wie dem BKA und die Information der Presse selbst, auf welchen Kanälen sie auch immer erfolgte.
  • Herrn Maaßen steht somit primär der Verwaltungsrechtsweg offen. Darüber hinaus kommen zivilrechtliche Ansprüche (Unterlassen, Schadensersatz, Schmerzensgeld) wegen Verletzung seines allgemeinen Persönlichkeitsrechts in Betracht, und zwar auch gegen die Journalisten und Medien, die sich am Versuch seiner Rufschädigung beteiligten. Begleitende Strafanzeigen etwa wegen Verletzung des Dienstgeheimnisses (§ 353b StGB) und Verleumdung (§ 187 StGB) runden die Möglichketen für den Betroffenen ab, sich gegen Anfänge von politischer Verfolgung in Deutschland zur Wehr zu setzen.

Wer einen Verlust des freiheitlichen Rechtsstaat befürchtet, sollte ihm allerdings auch die Gelegenheit zur Korrektur geben. Dann ist unsere Justiz gefordert, derartige Fälle ausschließlich nach juristischen Grundsätzen und prinzipiell ungeachtet der politischen Positionen des Betroffenen zu beurteilen. Wir alle sollten ein Interesse an dieser Korrektur haben. Denn jeder könnte der Nächste sein.

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4 Kommentare

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Nun, wie sagte Frau Merkel noch? Es herrscht Meinungsfreiheit, niemandem kann etws Nachteiliges passieren außer: ggf. heftiger Widerspruch.

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Auf welches Land bezog sich Angela Merkel dabei? Vermutlich kann es Deutschland wohl nicht gewesen sein, oder etwa doch? Die Tagesschau berichtete heute, weil Herr Maaßen in letzter Zeit gelegentlich von "Globalisierung" und "Globalisrungs-Lobbyisten" sowie von "Globalisten" gesprochen habe, und weil diese Worte früher auch von Rechtsextremisten benutzt worden seien, bewerte der neu aufgestellte Verfassungschutz seinen ehemaligen Chef, der sich erlaubt hat Vorgänge in Chemintz anders zu bewerten als Angela Merkel es tat, nun als "Rechtsextremisten", und strebe an, den bereits aus seinem Amt geschassten Herrn Maaßen noch einmal (also ein zweites mal bzw. doppelt) zu entlassen, und ihn förmlich aus dem Dienst zu entfernen, und ihm dabei auch seine Rente bzw. seine Pensionsansprüche zu streichen. Die Tagesschau berichtet dies allerdings nicht kritisch oder bedenklich, sondern wohl eher in einem begrüßenswerten Tonfall, so als ob solch eine Maßnahme erfreulich und vorbildlich wäre, was tendenziell wohl an das Motto "Bestrafe Einen, erziehe Viele" erinnert? Aber entspricht das Motto "Bestrafe einen, und erziehe damit Viele!" wirklich dem Text und Sinn und Geist des Grundgesetzes? Oder liegt in dem Motto nicht vielleicht statt einer demokratischen und freiheitlichen Tendenz, nicht vielleicht eher eine gegenteilige bzw. autoritäre Tendenz?   

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Der aktuell im politischen Raum vorherrschende Zeitgeist, sieht in der freiheitlich-demokratischen Grundordnung anscheinend etwas, was der Bundesregierung zusteht, auf dessen Schutz die Bundesregierung und deren Behörden als eine Art Gralshüter eine Art Monopol und ein Auslegungs- und Interpretationsmonopol haben, und mit dem die Bundesregierung und deren Behörden ihnen mißliebige, parlamentarische und außerparlamentarische oppositionelle Regierungskritiker, als vermeintlich "verfassungsfeindlich" etikettieren und ausgrenzen können. Sinn und Zweck viele grundlegender Regelungen demokratische, republikanischer, moderner Verfassungen, sind aber in Wirklichkeit eher in die andere Richtung gerichtet, und vom Verfassungsgeber darauf ausgerichtet, die Macht der Regierung zu beschränken, und Pluralismus, Meinungsvielfalt und Meinungsfreiheit zu fördern und zu schützen. Diesen Umstand machen derzeit jedoch leider wohl weder die Bundesregierung noch die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten hinreichend deutlich. Der Fall Maßen zeigt also nun wohl offenbar auf, wie ein Großteil des politischen Establishments und der Leitmedien, und wohl auch ein Großteil der nicht juristisch (und insbesondere nicht verfassungsrechtlich) gebildeten Bevölkerung, leider lediglich geringe oder sogar falsche Vorstellungen von unserem Grundgesetz, also von unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung, haben.

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Die gegenwärtige Bundesregierung mit Bundesinnenministerin Faeser will jetzt aber offenbar wohl ein neues (einfachgesetzliches) Bundes-Gesetz machen, daß wenn es in Kraft tritt wohl in die entgegengesetzte Richtung vom Inhalt des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 28.09.2022 geht. Medienberichten zufolge (siehe Artikel "Lizenz zum Anschwärzen" in der Online Ausgabe der Süddeutsche Zeitung vom 26.10.2023, 14.48 h, zitiert unter anderem durch die Nachdenkseiten vom 30.10.2023. 10.04 h) sollen in Zukunft das Bundesamt für Verfassungschutz und deren Mitarbeiter befugt sein, aufkommende Verdachtsmomente mutmaßlich unzureichender Verfassungstreue nicht nur an Behörden, sondern auch an private Unternehmen und Vereine und Privatpersonen, ja sogar an Familienmitglieder, Arbeitskollegen, Freunde und Nachbarn des betroffenen weiterzugeben. Und das (ungeachtete des in zivilisierten Rechtsstaaten geltenden Grundsatzes der Unschuldsvermutung) auch ohne Gerichtsurteil oder Gerichtsbeschluss oder richterliche Zustimmung. Das Bundesinnenministerium will sogar den Rechtsweg des betroffenen gegen derartiges in Grundrechte eingreifendes staatliches Handeln sogar ausdrücklich ausschließen. Und falls irgendjemand den Gesetzentwurf der Innenministerin kritisiert, dann soll der betreffende Bürger als Staatsfeind und Verfassungsfeind gelten, und dann dementsprechend abgewertet und beschuldigt und ausgegrenzt und stigmatisiert werden?

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