Entkriminalisierung des Glücksspielrechts

von Prof. Dr. Marc Liesching, veröffentlicht am 16.01.2024
Rechtsgebiete: Glücks- und Gewinnspielrecht|1256 Aufrufe

Der nachfolgende Beitrag ordnet den Vorschlag des Bundesjustizministeriums zur Aufhebung des Glücksspielstrafrechts nach §§ 284 ff. StGB ein. Die kursorische Kurzanalyse wird in der kommenden MMR-Februar-Ausgabe (MMR 2024, 131 f.) erscheinen. Für die freundliche Genehmigung der Pre-Print-Veröffentlichung gebührt herzlicher Dank der MMR Redaktion. 

1. Eckpunkte-Papier des Bundesjustizministeriums

Das BMJV hat im November 2023 Eckpunkte zur Modernisierung des Strafgesetzbuchs vorgestellt. Hintergrund ist eine Überprüfung des StGB mit dem Fokus auf historisch überholte Straftatbestände, Strafrechtsmodernisierung und Justizentlastung. Das BMJV schlägt unter Berücksichtigung der Fachliteratur und der Rechtspraxis u.a. die Aufhebung des Glücksspielstrafrechts nach § 284 ff. StGB vor, da „kein Rechtsgut erkennbar“ sei, „das die Aufrechterhaltung dieser Strafnormen rechtfertigen“ würde. Entsprechende Verstöße könnten schon heute als Ordnungswidrigkeit nach dem GlüStV 2021 geahndet werden, was nach Maßgabe des Ultima-Ratio-Grundsatzes ausreichend sei. Strafwürdiges Verhalten bliebe auch künftig strafbar (BMJV-Eckpunktepapier, Nov. 2023, S. 3).

Die geplante Entkriminalisierung des Glücksspielrechts stößt zumindest in Teilen auf Kritik. Der deutsche Richterbund sieht eine Aufhebung der Straftatbestände skeptisch. Neben dem Manipulationsschutz seien auch weitere Schutzzwecke wie die Suchtbekämpfung und der Jugendschutz zu berücksichtigen; jedenfalls erscheine § 284 Abs. 3 StGB (gewerbs- und bandenmäßige Veranstaltung unerlaubten Glücksspiels) für die Bekämpfung der organisierten Kriminalität sinnvoll (DRiB-Stellungnahme Nr. 34/23, S. 6 f.).

2. Kriminalstrafe bei Verwaltungsungehorsam?

Die Kriminalisierung des Glücksspiels in § 284 wurde bereits im RStGB vom 15. Mai 1871 im 25. Abschnitt „Strafbarer Eigennutz“ begründet. Der Tatbestand war allerdings ursprünglich nicht verwaltungsakzessorisch im Sinne einer vorausgesetzten Absenz einer behördlichen Erlaubnis gefasst, sondern sah generalisierend die Bestrafung gegenüber demjenigen vor, der „aus dem Glücksspiele ein Gewerbe macht“.  Erst durch die späteren Fassungen der Strafnorm, welche zwischen legalem lizenziertem Glücksspiel und strafbarem Glücksspiel „ohne behördliche Erlaubnis“ differenzierte, wurde die Frage der rechtspolitischen Legitimität einer rein verwaltungsrechtlich determinierten, nur partiellen Kriminalisierung der Glücksspielveranstaltung virulenter.

Der dritte Strafsenat des BGH hat im Urteil vom 27.2.2020 (Az. 3 StR 327/19) darauf hingewiesen, dass die Strafbarkeit nach § 284 Abs. 1 StGB nicht an die materielle Richtigkeit der Versagung einer Genehmigung, sondern an das bloße Fehlen der Erlaubnis als solcher anknüpfe (BGH NJW 2020, 2282 (2283)). Umso notwendiger erscheint indes eine deutliche Konturierung von Gründen für die Kriminalisierung eines Verhaltens, das sich in bloßem Verwaltungsungehorsam grundsätzlich nicht erschöpfen darf. Nicht zuletzt der EuGH hat der kriminalstrafrechtlichen Sanktionierung der bloßen Missachtung von Glücksspielverwaltungsrecht deutliche Grenzen gesetzt (vgl. EuGH NJW 2007, 1515 (1519) Rn. 69).

Die Frage der Legitimität einer Kriminalisierung mutet nicht weniger erheblich an in einem zunehmend digitalisierten, internationalen Glücksspielmarkt, in dem die Mehrzahl der Anbieter über eine behördliche Erlaubnis eines anderen EU-Mitgliedstaats verfügt, aber eben nicht über eine deutsche. Allein dass sich das Glücksspielrecht der kontinuierlich fortschreitenden Rechtsvereinheitlichung im digitalen Binnenmarkt (noch) entzieht, stützt keine kriminalpolitische Legitimation insularer Empfangslandsanktionen, sondern stellt diese eher zunehmend in Frage.  

Überdies steht die Geltung des deutschen Strafrechts bei vom Ausland aus angebotenen Online-Glücksspielen, die in Deutschland nutzbar sind, ohnehin spätestens seit der BGH-Rechtsprechung zur fehlenden Inlandstat bei abstrakten Gefährdungsdelikten (vgl. BGH NStZ 2015, 81) zur Disposition.

3. Unzulänglichkeit bisheriger Schutzzweck-Konstrukte

a) Staatliche Kontrolle und Zügelung der Spielleidenschaft

Das RG hat im Urteil vom 23.2.1931 Sinn und Zweck des Ausspielungsverbotes nach § 286 RStGB darin erblickt, die „Ausbeutung der natürlichen Spielleidenschaft des Publikums unter obrigkeitliche Kontrolle und Zügelung zu nehmen“ (RGSt 65, 194 (195)). Der BGH hat die Schutzzweckformulierung im Urteil vom 4.2.1958 auf § 284 StGB übertragen (vgl. BGH NJW 1958, 758).

Diese Normzweckauslegung wird heute allerdings zurecht mit dem Hinweis abgelehnt, dass staatliche Kontrolle und Zügelung keine Strafwürdigkeit eines tatbestandlich gefassten Verhaltens begründen kann, sondern vielmehr ein zu schützendes Rechtsgut i.S.e. sozialwichtigen „Etwas“ benannt werden müsse, dass durch das inkriminierte Verhalten zumindest abstrakt gefährdet wird (Gaede in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen/Saliger, StGB, 6. Aufl. 2023, § 284 Rn. 2 mwN).  Das BMJV geht nun davon aus, dass ein solches Rechtsgut eben nicht erkennbar sei.

b) Manipulationsschutz

Im Schrifttum wird als Rechtsgut etwa „das immer wieder bestätigte Vertrauen des Einzelnen in die Gewährleistung einer manipulationsfreien Spielchance“ vorgeschlagen (Hohmann/Schreiner, in MüKom-StGB, 4. Aufl. 2022, § 284 Rn. 1). Allerdings bleibt unerläutert, worin ein gerade bei der Glücksspielteilnahme gesteigertes Vertrauensschutzinteresse der Verbraucherinnen und Verbraucher bestehen soll. Ein solches besteht nicht minder beim Kauf von Produkten oder der Inanspruchnahme anderer Dienstleistungen. Dem allgemeinen Manipulationsschutz wird indes gerade durch die Betrugsstrafbarkeit Rechnung getragen. Daher weist das Bundesjustizministerium zutreffend darauf hin:  Wer ein Spiel manipuliert, macht sich wegen Betruges (§ 263 StGB) strafbar.

c) Suchtprävention

Der Deutsche Richterbund schlägt in seiner Stellungnahme als Schutzgut „die mit einer Eindämmung des Glücksspiels einhergehende Suchtprävention“ vor und referenziert das Urteil des BVerfG vom 28. März 2006 (Az. 1 BvR 1054/2001, NJW 2006, 1261 Rn. 96 ff.). Das BVerfG hat freilich weder in dieser Entscheidung noch sonst ausgeführt, dass Schutzgut des § 284 StGB die Suchtprävention sei. Das BVerfG verweist vielmehr darauf, dass unterschiedliche Glücksspielformen ein unterschiedliches Suchtpotenzial aufweisen und bestimmte Spielangebote „deutlich weniger zu problematischem und pathologischem Spielverhalten“ beitrügen. Die nur auf die behördliche Erlaubnis jedweder Form des Glücksspiels abstellenden Straftatbestände der §§ 284 ff. stellen schon keinen spezifischen Bezug zur Suchtprävention bei virulenten Glücksspielkategorien her (zutr. Gaede aaO., § 284 Rn. 5 mwN.).

Zwar benennt der GlüStV 2021 die präventive Zielrichtung einer wirksamen Suchtbekämpfung in § 1 S. 1 Nr. 1. Trotz des verwaltungsakzessorischen Charakters des § 284 sind die ordnungsrechtlichen Interessen der Verwaltungsrechtsnormen indes nicht mit kriminalstrafrechtlich schützenswerten Rechtsgütern gleichzusetzen, da sich öffentlich-rechtliche, präventive Gefahrenabwehr einerseits und repressiver, auf die nachträgliche Sanktion menschlichen Verhaltens ausgerichteter ultima-ratio-Strafrechtsschutz fundamental unterscheiden (vgl. nur Heine/Hecker in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 284 Rn. 3).

d) Jugendschutz

Auch der vom Deutschen Richterbund angeführte „Jugendschutz“ ist kein taugliches Rechtsgut zur Legitimation der Kernstraftatbestände zur Glücksspielveranstaltung. Denn wie sich bereits aus dem vorrangig dem Jugendschutz dienenden Pornographietatbestand des § 184 Abs. 1 StGB sowie den nebenstrafrechtlichen Regelungen zu indizierten Medien nach § 15 Abs. 1 i.V.m. § 27 Abs. 1 JuSchG ergibt, kann der Schutz von Kindern und Jugendlichen keine Absolutverbote der Zugänglichmachung von (unerlaubten) Glücksspielen gegenüber verifiziert erwachsenen Personen begründen. Glücksspiele werden aber nach § 284 StGB auch im Falle des Ausschlusses Minderjähriger mit Kriminalstrafe bedroht, wenn die behördliche Lizenz fehlt.

Dessen ungeachtet bleibt gerade für die unter Jugendschutzaspekten praktisch bedeutsamen Offline-Spielhallen der Strafrechtsschutz bei Wegfall der §§ 284 ff. ohnehin i.R.d. § 27 Abs. 2 i.V.m. § 6 Abs. 1 JuSchG erhalten. Die Einhaltung des Online-Jugendschutzes ist demgegenüber ganz überwiegend lediglich bußgeldbewehrt, hingegen gerade nicht strafbewehrt (vgl. §§ 4 bis 6 i.V.m. § 24 JMStV). Auch das entsprechende Teilnahmeverbot Minderjähriger am Glücksspiel nach § 4 Abs. 3 S. 1 bis 3 GlüStV 2021 ist über § 28a Abs. 1 Nr. 3 GlüStV 2021 in gleicher Weise sanktionsrechtlich abgesichert.

e) Bekämpfung organisierter Kriminalität

Soweit in der Rechtsgut-Debatte allgemein angeführt wird, dass Glücksspiel ein spezifischer Deliktsbereich der organisierten Kriminalität sei und eine bedeutende Einnahmequelle organisierter Straftätergruppen darstelle, fehlt schon der empirisch gestützte Beleg. In der Polizeilichen Kriminalstatistik werden Taten nach § 284 StGB schon nicht gesondert mit Bezug zur organisierten Kriminalität bzw. nach der Qualifikation des Abs. 3 ausgewiesen. Gleiches gilt für die in der Rechtspflegestatistik des Statistischen Bundesamts veröffentlichten Verurteilungszahlen, welche im Gesamtbereich des Glücksspielstrafrechts seit mehreren Jahrzehnten kontinuierlich rückläufig und bis 2020 im praktisch nahezu bedeutungslosen Marginalbereich angekommen sind (vgl. die Übersicht bei LK/Krehl/Börner, 13. Aufl. 2023, § 284 Rn. 4b).

Dies gilt umso mehr für den Teilbereich des § 284 Abs. 3 StGB, dem schon kein eigenständiger Rechtsgutsschutz zugrunde liegt. Vielmehr wurde die Qualifikation gewerbs- und bandenmäßiger Begehung durch das OrgKG 1992 lediglich aus Gründen der Strafzumessung eingeführt (vgl. BT-Drs. 12/989, S. 29), hingegen nicht, um einem anderweitigen Rechtsgutsschutzinteresse Rechnung zu tragen.

Ungeachtet dessen ist die fortgesetzte Begehung von Straftaten im Rahmen der organisierten Kriminalität weitreichend durch den Straftatbestand der Bildung krimineller Vereinigungen nach § 129 StGB pönalisiert. Die Tatbestandsverwirklichung ist dabei schon jetzt unabhängig von einer Erfüllung von Einzeltatbeständen wie § 284 Abs. 1 StGB zu prüfen (vgl. BGH NJW 1992, 1518). Dessen Wegfall begründet mithin keine Strafbarkeitslücken.

f) Schutz vor „Begleitkriminalität“

Vor diesem Hintergrund ist auch der anderweitig vorgeschlagene und von der systematischen Stellung der Delikte als „strafbarer Eigennutz“ entkoppelte  „Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung namentlich vor Begleitkriminalität“ (so etwa Heger in: Lackner/Kühl/Heger, StGB 30. Aufl. 2023, § 284 StGB Rn. 1) kein tauglicher Normzweck. Ungeachtet dessen, dass „Begleit“-Kriminalität ihrerseits gerade durch andere Straftatbestände ggf. zu sanktionieren ist, wurde in der strafrechtlichen Kommentarliteratur zutreffend darauf hingewiesen, dass der Zurechnung von Beschaffungs- oder Folgestraftaten zum Veranstalter eines Glücksspiels das Prinzip der Selbstverantwortlichkeit des Einzelnen entgegensteht (zutr. Gaede aaO. § 284 Rn. 3).

4. Konsolidierung heterogener Bund-Länder-Regulierung

Ungeachtet der dargestellten Problematik der verfassungs- und strafrechtlich bedeutsamen Schutzzweck-Legitimität führte der seitens des BMJV vorgeschlagene Wegfall des Glücksspielstrafrechts nach §§ 284-287 StGB in interrechtssystematischer Hinsicht zu einer wichtigen Konsolidierung der bislang heterogenen Bund-Länder-Regulierungsstruktur. Diese hat in der Vergangenheit mehrere Kontroversen in der Judikatur begründet, welche eine konsistente Auslegung nicht befördert hat. So herrscht schon Uneinigkeit, ob der strafrechtliche Glücksspielbegriff anders auszulegen sei als der verwaltungsrechtliche (vgl. z.B. einerseits OVG NRW ZfWG 2008, 204, 205; OVG Rheinl.-Pfalz, Urt. v. 15.9.2009 – 6 A 10199/09; Sächs. OVG, Beschl. v. 27.2.2012 – 3 B 80/11; andererseits BayVGH BeckRS 2012, 25785; HessVGH ZfWG 2011, 425; VG München BeckRS 2023, 7262, Rn. 63).

Eine Rechtkonsolidierung durch eine einheitliche Regelungsägide landesverwaltungsrechtlicher Gesetzgebung würde in diesem Zusammenhang eine vereinfachte und stringente Rechtspraxis erheblich befördern. Sie würde auch den Übergang in eine im Ausblick nicht unwahrscheinliche EU-Harmonisierung des Glücksspiels im digitalen Binnenmarkt erleichtern.

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