Ist die Wahrheit wirklich egal? Verteidiger Jens Rabe im Interview

von Carsten Krumm, veröffentlicht am 04.12.2016
Rechtsgebiete: Strafrecht42|11841 Aufrufe

Nur ein kurzer Hinweis auf ein Stern-Interview mit dem Strafverteidiger Jens Rabe. Hier: "Ich bin Anwalt. Die Wahrheit ist mir egal".  Interessant zu lesen!

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42 Kommentare

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Der in diesem Artikel interviewte Anwalt gehört zum Typ des Strafverteidigers, „der in der Regel formal durchaus korrekt verfährt, auch das Standesrecht beachtet, sich im Grunde aber dem traditionellen Ziel des Strafverfahrens nicht mehr verpflichtet fühlt“ (Hanack dixit, ua. in: StV 1987, 500). Und das traditionelle Ziel des Strafprozesses ist eben die Erforschung der Wahrheit. Der hier interviewte Rechtsanwalt setzt also nur konsequent eine Tradition fort, die es vorher schon gab. Aber mit einer Besonderheit: Während früher solche Verteidiger ideologische Überzeugungstäter waren, tun sie es heute nur noch für Geld. Das wird insofern zum Problem, als die legitime Strafverteidigung hierdurch immer mehr an gesellschaftlichem Rückhalt verliert und die Verteidiger, die Wahrheitsfindung zugunsten des Angeklagten betreiben, mit runtergezogen werden.

Es gibt nämlich auch viele Verteidiger die ihrem Mandanten regelmäßig zum Geständnis raten (wenn er es denn war) und dann nach allen Regeln der Kunst immer noch ein gutes Ergebnis für ihn rausholen. Diese Verteidiger sind diejenigen, die es schaffen das Spannungsverhältnis zwischen Organ der Rechtspflege und Interessenvertreter des Angeklagten aufrecht zu erhalten und da aus der Reibung tatsächlich Wärme erzeugen können. Denn:

Das stärkste Argument für eine Sache die es geben kann, ist die persönliche Integrität desjenigen der sie vertritt! Der weise Anwalt weiß dies und wird sich nicht blamieren nur weil ein Mandant in einem Verfahren zu viele Matlock- und Perry Mason-Folgen gesehen hat.

In den drei großen Strafkammern in denen ich bislang gedient habe, war immer klar, was von Anträgen und Plädoyers gewisser Anwälte zu halten ist. Es gibt die Geschichte mit dem Jungen der immer ruft: „Die Wölfe kommen!“ So ähnlich ist das mit Verteidigern die immer nur „Unschuldige“ vertreten. Das schlimme Bauchgefühl das dabei verbleibt ist die Frage: „Was ist, wenn der Angeklagte es diesmal wirklich nicht wahr?“ Und dann ist psychologisch gesehen die Erinnerung an die letzten Fälle in denen ein angeblich unschuldiger Mandant dieses Verteidigers doch überführt wurde der Ziegelstein auf der Waagschale. Das ist traurig, aber wahr.

 

Oder aus dem Mund eines Strafverteidigers (Salditt, StV 1999, 61 (64)):

Eine Anwaltschaft nämlich, die Lügen als naheliegende Dienstleistung betrachtet, zerstört das realexistierende rechtliche Gehör. Beschuldigte sind nur solange Subjekt des Strafverfahrens, wie die Verteidiger es ihnen ermöglichen. Akteneinsicht, freier Zugang während der Haft, Antrags- und Erklärungsrechte, die Reichweite des Rechts zur Zeugnisverweigerung, Verbote der verdeckten Ausforschung von Anwälten, all das steht und fällt auf lange Sicht mit der Voraussetzung, daß die Strafverteidiger ihre Informationen, ihre Überzeugungskraft, ihr Know-How und ihre Erfahrung nicht dazu nutzen, Lügen zu fertigen und mit dem Beschuldigten einzuüben.

Wer will, mag das aus Theorien ableiten, aus Prinzipien oder aus moralischen Grundsätzen. Entscheidend ist, daß man eine Zukunft dieses Berufs - mit seinen bis heute bewahrten Kompetenzen und mit seinem historisch gewachsenen Bild seit den Anfängen des reformierten Strafprozesses - nicht anders entwerfen kann. In dem auf Richter zentrierten, von der Amtsaufklärung beherrschten Verfahren wird die Strafverteidigung für den Gesetzgeber ohnehin schnell zur entbehrlichen Nebensache.

Zum „Lügen einüben“ gehört eben auch: „Ich berate ihn: Ich sage, wenn Sie das so und so sagen, würde die Tat nicht nachweisbar sein. Wenn Sie das so sagen, sehe ich große Probleme. Ich habe damit nicht gesagt, was er sagen soll. Der kluge Täter versteht mich dann.“

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In den drei großen Strafkammern in denen ich bislang gedient habe, war immer klar, was von Anträgen und Plädoyers gewisser Anwälte zu halten ist. Es gibt die Geschichte mit dem Jungen der immer ruft: „Die Wölfe kommen!“ So ähnlich ist das mit Verteidigern die immer nur „Unschuldige“ vertreten. Das schlimme Bauchgefühl das dabei verbleibt ist die Frage: „Was ist, wenn der Angeklagte es diesmal wirklich nicht wahr?“ Und dann ist psychologisch gesehen die Erinnerung an die letzten Fälle in denen ein angeblich unschuldiger Mandant dieses Verteidigers doch überführt wurde der Ziegelstein auf der Waagschale. Das ist traurig, aber wahr.

Das nennt sich Befangenheit und Sie sind mit diesem "Gefühl" nach dem Gesetz als Richter vom Verfahren auszuschließen. Wurden Sie mal wegen Befangenheit abgelehnt? Wie haben Sie sich dazu geäußert? So wie in dem Kommentar?    

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Nachtrag zu:

Zum „Lügen einüben“ gehört eben auch: „Ich berate ihn: Ich sage, wenn Sie das so und so sagen, würde die Tat nicht nachweisbar sein. Wenn Sie das so sagen, sehe ich große Probleme. Ich habe damit nicht gesagt, was er sagen soll. Der kluge Täter versteht mich dann.“

 

Das sehe nicht nur ich so, sondern selbst das "Verteitigung-ist-Kampf"-Handbuch für Strafverteidiger:

"Theoretische Belehrungen und Fragen sind dem Verteidiger aber nicht verboten, insbesondere wenn sie notwendig sind, um die Wahrheit festzustellen. Solche Belehrungen stehen allerdings einer inhaltlichen Beeinflussung der Aussage manchmal sehr nahe. Es ist unzulässig, auf diesem Weg den Mandanten zu bestimmten Angaben hinzulenken" (Dahs, Handbuch des Strafverteidigers, Rn. 61, Hervorhebung im Original).

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Natürlich ist "Lügen einüben" unzulässig. Etwas anderes hat aber auch niemand behauptet. Aber die Aussage des Mandanten zu besprechen und "einzuüben" ist zulässig und notwendig. Kein Strafverteidiger darf seinen Mandanten unvorbereitet in das offene Messer eines Richters wie Sie es sind laufen lassen nur damit man ihn ungehindert "grillen" kann. In keiner StPO der Welt steht ein §1 mit dem Text "Das Gericht darf den Mandanten jederzeit ungehindert grillen. Gegrillt werden darf auch der Strafverteidiger, der das Grillgut dem Grillmeister vorenthält. Ein Richter, den sein Gericht am Grillen hindert, hat das Recht, ein neues zuständiges Gericht zu bestimmen."

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Die "Wahrheit" eines Strafverteidigers bemißt sich wie die "Wahrheit" eines Richters immer nur daran, was in der Hauptverhandlung nachgewiesen und was nicht. Das Geheule darüber, dass ein Verteidiger seinem Mandanten nicht immer zu einem zeitsparenden Geständnis rät, ist demnach völlig deplatziert. Genau das, und nichts anderes, hat der Kollege Jens Rabe gesagt: "Ich bin Anwalt. Die Wahrheit ist mir egal. Sie muss mir sogar egal sein. Entscheidend ist, was sich im Gerichtssaal aufklären lässt. Für die reine Wahrheit bin ich als Verteidiger nicht zuständig." Das hätten Sie eigentlich "in den drei großen Strafkammern in denen ich bislang gedient habe" gelernt haben müssen.

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Mir fehlt neben den Fragen "wie fühlen Sie sich einem Schuldigen zu Freispruch zu verhelfen", die Frage "haben Sie auch manchmal Angst einen Unschuldigen nicht ausreichen d zu verteidigen, /, sodass er in den Knast geht?" Mir fehlt auch das Bekenntniss zur Rechtsstaatlichkeit (kein Vorwurf) aber wir geben uns diese Regeln StGB StPO usw) um der Willkür einhalt zu gebieten.  Lieber 20 Schuldige laufen lassen als willkürlich einen Unschuldigen zu verurteilen

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Herr Rabe erklärt völlig korrekt, was ein Verteidiger zu tun hat. Und da gibt es überhaupt nichts zu deuteln. Natürlich ist es nicht die allgemeine Pflicht eines Verteidigers, einem Angeklagten zum Geständnis zu raten. Das kann es nur im einzelnen Fall sein, dann wenn es Vorteile dafür gibt oder wenn der Mandant psychologisch gar nicht anders kann. Wahrheit? Maßgeblich ist hier allein das Ergebnis der Hauptverhandlung. Und da würde ich nichts an den Pflichten des Anwalts, so wie Herr Rabe sie völlig zutreffend sieht, rumjustieren wollen, allerdings sehr viel an der StPO, durch die der Strafprozess viel zu kompliziert und in Fällen wie Tschäpe überhaupt nicht mehr vernünftig handhabbar ist.

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Ich wollte vorhin auf einen - zugegeben nicht ganz netten - Kommentar zu meinen obigen Ausführungen antworten, als ich festgestellt habe, dass die Redaktion diesen Beitrag gelöscht hat. Ich finde dieses Löschen von Beiträgen problematisch. Zum einen wäre gerade dieser unreflektierte Kommentar gut geeignet, den von vielen beobachteten, beschriebenen und beklagten Mentalitätswandel an einem kleinen Beispiel darzustellen. Zum anderen führt das zur Frustration der „Gelöschten“. Bei ihnen entsteht der Eindruck, sie hätten gute Argumente, aber die böse herrschende Meinung/Klasse unterdrücke diese. Eine solche Diskursverweigerung hat dort ihre Berechtigung, wo man in begrenzter Zeit zu einem Ergebnis kommen muss. In ergebnisoffenen Diskussionsrunden und Foren ist sie m.E. kontraproduktiv.

 

Noch ein kleiner Nachtrag zum Thema:

Wenn man meint, die Trennung zwischen prozessualer Wahrheit und „wirklicher Wahrheit“ sei eine Art Naturgesetz und eben nicht schmerzhaftes Eingeständnis an die Beschränktheit aller menschlichen Erkenntnis, leidet die Wahrheit als solche. Denn dann ist man ja eben „nur“ der prozessualen Wahrheit verpflichtet. Verbreitet sich eine solche Auffassung, führt das natürlich zu entsprechenden Reaktionen in der Rechtsprechung wie es sich beispielsweise hier niedergeschlagen hat:

"Eine veränderte Einstellung der Strafverteidiger zu der Praxis, auf unwahres Vorbringen Verfahrensrügen zu stützen, spricht dafür, die Zurückhaltung bei der Berücksichtigung der Protokollberichtigung aufzugeben, auch wenn mit der Berichtigung einer zulässig erhobenen Rüge die Tatsachengrundlage entzogen wird." (BGHSt 51, 298, zitiert nach juris, Rn. 49).

Dieser Trend setzt sich fort (in beide Richtungen).

 

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Eine entsprechende Reaktion zu dem Beispielproblem Protokollberichtigung vs. Verfahrensrüge wäre doch z.B. die Aufzeichnung der Verhandlung und überhaupt angemessene Sorgfalt im Verfahrensrecht. Was man stattdessen als Reaktion nachvollziehen kann, ist ein Verschiebebahnhof der Auslegungen zwischen Gesetz und den Interessen selbstverliebter Richterkardinäle. Jeder will ein bisschen Rechtspapst spielen. Gern am Gesetzgeber vorbei, der vermutlich sowieso für fachlich untauglich gehalten wird. So verschiebt sich das Recht immermehr vom Gesetz zur Rechtsprechung (Richterrecht).

Ich verwende bewusst den umfassenderen Begriff Verfahrensrecht, weil mir insbesondere für andere Rechtsgebiete eine fragwürdige Praxis dazu bekannt ist. Die Praxis des Strafprozessrechts gilt ja im Vergleich noch als recht genau und streng, warum auch immer. Verfahrensrecht ist im Prinzip die juristische Methodik in der Rechtsanwendung. Vergleichbar dem Rechenweg zum Ergebnis. Wenn die Methodik des Weges nicht eingehalten wird, dann wird willkürlich gehandelt und nicht rechtmäßig. Das Ergebnis ist dann willkürlich ermittelt, unabhängig davon, ob es der Wahrheit entspricht. Wenn das Verfahrensrecht trotz korrekter Anwendung nicht zum tatsächlichen Ziel ("muss grundsätzlich der wahre Sachverhalt, wie er sich zugetragen hat, maßgeblich sein (vgl. BGHSt 36, 354, 358 f.)") führt, dann offembart dies Fehleranfälligkeit der juristischen Methodik im Verfahrensrecht. Eine solche Fehleranfälligkeit, deren Behebung oder zumindest Grenzwertbestimmung muss ebenso methodisch reflektiert werden, z.B. durch wissenschaftliche und tatsächliche Durchdringung. Das funktioniert in anderen Wissensgebieten methodisch nachvollziehbar und erfolgreich . Wenn es im Rechtswesen zu einer systemischen und unbestimmbaren Divergenz zwischen prozessualer Wahrheit und tatsächlicher Wahrheit kommt, auf die allein durch subjektive Reaktionen von Überzeugungstätern eingegangen wird, offenbart das die Abwesenheit von Methodik und ein Selbstverständnis von Willkür.

Bei allem Widerspruch in der Sache selbst, begrüße ich die Bereitschaft von Solkan diese Thematik in seinen Widersprüchen öffentlich zu diskutieren.   

 

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Wenn man meint, die Trennung zwischen prozessualer Wahrheit und „wirklicher Wahrheit“ sei eine Art Naturgesetz und eben nicht schmerzhaftes Eingeständnis an die Beschränktheit aller menschlichen Erkenntnis, leidet die Wahrheit als solche. Denn dann ist man ja eben „nur“ der prozessualen Wahrheit verpflichtet. Verbreitet sich eine solche Auffassung, führt das natürlich zu entsprechenden Reaktionen in der Rechtsprechung wie es sich beispielsweise hier niedergeschlagen hat...

Wenn es eine bessere Methode gäbe, die Wahrheit zu ermitteln, als die Methode der StPO, dann stünde Sie in der StPO. Übrigens: Folter und Hexenprobe hatten wir schon!

"Eine veränderte Einstellung der Strafverteidiger zu der Praxis, auf unwahres Vorbringen Verfahrensrügen zu stützen, spricht dafür, die Zurückhaltung bei der Berücksichtigung der Protokollberichtigung aufzugeben, auch wenn mit der Berichtigung einer zulässig erhobenen Rüge die Tatsachengrundlage entzogen wird." (BGHSt 51, 298, zitiert nach juris, Rn. 49).

Ich kenne auch Richter, ja sogar ganze Kammern, die schon gelogen haben, und zwar so, daß sich nicht nur die sprichwörtlichen Balken bogen, sondern daß 9/11 ein leises Knarzen dagegen war. Wie man in den Wald hineinruft...

Sie könnten hier auch mal unseren Experten Henning Müller lesen und im Übrigen wirklich ernsthaft überlegen, ob Sie nicht ggf. doch den Beruf wechseln sollten.

 

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Ihren Kommentar empfinde ich nicht als sonderlich hilfreich.

Sicher, es ist eine der schwersten Aufgaben, die Wahrheit zu ermitteln. Oft gelingt es nicht. Und dann greift ja in unserem strafprozessualen System auch noch zugunsten des Angeklagten immer die Unschuldsvermutung.

Dass dann ein Verteidiger sich in aller Öffentlichkeit in dieser Form äußert, zeigt lediglich seine Arroganz (nach dem Motto: Ihr könnt mir sowieso nichts!). Dies ist m.E. kurzsichtig und kann u.U. zu den Überlegungen von Solkan führen, die ich ebenfalls nicht gut heiße. Wenn sich dem Verteidiger der Verdacht aufdrängt, sein Mandant will ihn belügen, sollte er das Mandantengespräch kritisch führen und sich der Vereinnahmung durch den Klienten widersetzen. Auch der Verteidiger ist Organ der Rechtspflege und als solcher gehalten, die Rechtsordnung zu schützen. Wenn der Verteidiger wider besseres Wissen die Verteidigung auf einer Lüge des Mandanten aufbaut, macht er sich zu dessen Komplizen und ist keinen Deut besser. Als Organ der Rechtspflege hat er versagt.   

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Wenn sich dem Verteidiger der Verdacht aufdrängt, sein Mandant will ihn belügen, sollte er das Mandantengespräch kritisch führen und sich der Vereinnahmung durch den Klienten widersetzen.

Kein Strafverteidiger (der nicht Mahler oder ähnlich heißt) läßt sich von seinem Mandanten "vereinnahmen"; jeder Verteidiger weiß, dass er nicht weniger als jedes Gericht belogen wird.

Ihren Kommentar empfinde ich nicht als sonderlich hilfreich.

Was genau empfinden Sie nicht als hilfreich?

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Vielleicht deshalb:

"und im Übrigen wirklich ernsthaft überlegen, ob Sie nicht ggf. doch den Beruf wechseln sollten."

Denn ja, natürlich überlege ich, ob ich den Beruf wechseln sollte. Immer wieder und manchmal über längere Phasen. Wie viele meiner Kollegen auch - vor allem die Reflektierten. Es ist das notorisch schlechte Gewissen, dass jeder sensible Jurist hat (Sendler, NJW 1995, 2464 (2468)). Das scheinen aber Leute die die Juristerei höchstens aus den Univorlesungen oder den Ergüssen von Gisela Friedrichsen kennen nicht nachzuvollziehen. Das können und müssen sie gar nicht nachvollziehen; aber dann sollte man seine Meinung nur äußern, wenn man sie nachvollziehbar begründen kann. Ein paar Jahre Berufserfahrung und Selbstkritik bringen da viel - persönliche Angriffe auf andere bringen nichts. (Am wenigsten dem Angreifer, der sich dadurch selber noch tiefer in sein Frustloch zieht.)

 

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Dieser Punkt wirft in mir eine Frage auf:

"Und das traditionelle Ziel des Strafprozesses ist eben die Erforschung der Wahrheit."

Ich glaube, das Ziel des Strafprozesses die Herstellung von Rechtsfrieden oder Gerechtigkeit ist. Dazu kann die Erforschung der Wahrheit erforderlich oder sinnvoll sein. Aber sie ist - denke ich - nur Mittel zum Zweck, nicht selbst Zweck.

Ein Unterschied ergibt sich m. E. beim Umgang mit unzulässig erhobenen Beweismitteln. Dort wird die Wahrheit ggf. sogar ignoriert, obwohl sie bekannt ist. Die Wahlfeststellung geht ebenfalls mit dem Problem um, Gerechtigkeit (oder Rechtsfrieden) zu schaffen, obwohl die Wahrheit nicht ermittelbar ist. Und nicht zuletzt beschränkt das Ziel der Herstellung von Gerechtigkeit (oder Rechtsfrieden) auch den Umfang der Ermittlung der Wahrheit: Was nicht relevant ist, braucht und darf auch nicht ermittelt werden.

Der Unterschied ist feinsinnig, aber m. E. für die Diskussion von Bedeutung. Denn sie sagt auch etwas über Selbstverständnis  und Aufgabe des Rechtsanwalts: Als seinen Auftrag sehe ich es, zur Findung von Gerechtigkeit beizutragen. Zu dieser Gerechtigkeit gehört bei uns auch, dass wegen Taten, die nicht nachgewiesen wurden, keine Verurteilung erfolgt. Das hat er zu verfolgen, nicht die Ermittlung der Wahrheit.

 

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Gast schrieb:
Ich glaube, das Ziel des Strafprozesses die Herstellung von Rechtsfrieden oder Gerechtigkeit ist. Dazu kann die Erforschung der Wahrheit erforderlich oder sinnvoll sein. Aber sie ist - denke ich - nur Mittel zum Zweck, nicht selbst Zweck.

...

Selbstverständnis  und Aufgabe des Rechtsanwalts: Als seinen Auftrag sehe ich es, zur Findung von Gerechtigkeit beizutragen. Zu dieser Gerechtigkeit gehört bei uns auch, dass wegen Taten, die nicht nachgewiesen wurden, keine Verurteilung erfolgt. Das hat er zu verfolgen, nicht die Ermittlung der Wahrheit.

Das ist eine hervorragende Zusammenfassung. Und man kann vielleicht sogar sagen, dass die Ermittlung der "Wahrheit" (die abgesehen von mathematisch-naturwissenschaftlichen Gesetzen eigentlich immer subjektiv geprägt ist) in Sachen Recht allenfalls als Mittel zum Zweck Bedeutung hat. Im Zivilprozess etwa ist schon kraft Gesetzes die"gütliche Beilegung des Rechtsstreits" (§ 278 Abs.1 ZPO) das vorrangig anzustrebende Ziel. Im Strafprozess ist man vielleicht in der Bewusstseinsbildung noch nicht ganz soweit, aber letztlich geht es doch auch dort wohl um Rechtsfrieden.

 

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Im Grunde genommen geht die Diskussion um zwei verschiedene Themen: Zum einen um das Thema "(prozessuale) Wahrheit" und zum anderen um das Thema "Der Rechtsanwalt als Organ der Rechtspflege", vulgo: Das Rollenverständnis des Anwalts im Gerichtsprozess.

Beim Thema "(prozessuale) Wahrheit" halte ich mich schon mal raus und verkünde an dieser Stelle nur ein feierliches "Ach, das ist ein weites Feld, Louise" und verweise im übrigen auf: https://de.wikipedia.org/wiki/Effi_Briest

Gesprächiger werde ich schon beim Thema "Der Rechtsanwalt als Organ der Rechtspflege". Ich werde einfach den Eindruck nicht los, dass der vielzitierte Begriff  "Organ der Rechtspflege" sehr viel mehr verschleiert als erklärt und eigentlich in allererster Linie nur für schöne und garantiert inhaltslose Sonntagsreden taugt. Ideal für einen schönen Artikel aus der Feder von Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung.

Und dann verrate ich Ihnen noch, warum ich Anwalt geworden bin: Ich bin deshalb Anwalt geworden, weil bei mir in großen Lettern "einseitige Interessenvertretung zugunsten meines Mandanten" draufsteht. Bei mir steht eben nicht "Gemeinwohl" oder sonst irgend eine andere Sprechblase drauf. Das bedeutet: Bei meiner Arbeit ist drin, was drauf steht, darauf können Sie Gift nehmen. Und jetzt muss ich doch mal an alle Richter und Staatsanwälte in der Runde die ketzerische Frage richten: Ist bei Ihrer Arbeit immer das "Gemeinwohl" drin, das bei Ihnen draufsteht?   

Welcher fehlbare Mensch kann die Frage schon sicher mit "ja" oder "nein" beantworten?

Sagen wir mal so: Das Bemühen ist drin. (Bei den einen aus Idealismus, bei den anderen schlicht deshalb, weil sie als Subsumtionsroboter eine sozial nützliche Aufgabe erfüllen, ohne das zu merken. (Einige Theorien der ökonomischen Analyse des Rechts gehen davon aus, dass jede rechtliche Entscheidung „nützlich“ ist, egal ob sie nun richtig oder falsch, gerecht oder ungerecht ist. Der Wert der Entscheidung liegt nach dieser Auffassung einfach darin, dass etwas entschieden ist.))

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Gast schrieb:
Einige Theorien der ökonomischen Analyse des Rechts gehen davon aus, dass jede rechtliche Entscheidung „nützlich“ ist, egal ob sie nun richtig oder falsch, gerecht oder ungerecht ist. Der Wert der Entscheidung liegt nach dieser Auffassung einfach darin, dass etwas entschieden ist.))

Eben. Möglicherweise ist nicht einmal Gerechtigkeit Ziel gerichtlicher Verfahren, sondern nur Rechtsfrieden. Dieser Rechtsfrieden ist mit gerechten Entscheidungen sicherlich besser zu erreichen, und gerechte Entscheidungen sind auf Grundlager wahrer Tatbestände auch besser zu erreichen, aber... Ziel ist eben nicht die Ermittlung der Wahrheit.

Die Treppe des eigentlichen Ziels kann man wahrscheinlich immer weiter bauen, bis man beim Allgemeinwohl o. ä. angekommen ist. Jedenfalls aber sollten wir die ersten Stufen nicht mit dem Ziel verwechseln, was auch immer letzteres sein mag.

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Herr Würdinger, wo genau im Amtseid nach § 38 DRiG steht etwas von "Gemeinwohl"  oder welcher Richter oder Staatsanwalt klebt sich Ihrer Meinung nach dieses Etikett an?

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Auch diese interessante Diskussion ist leider ohne zufriedenstellendes Ergebnis steckengeblieben. Zuletzt waren wir - wenn ich das richtig überblicke - beim Punkt "Wahrheit" versus "Prozessuale Wahrheit" stehengeblieben.  

Da ich zwar Justizerfahrener aber trotzdem juristischer Laie bin, habe ich dazu eine sehr einfache Theorie, die man mit fehlender Prüfung und Kritik des Erfolgs der Wahrheitsfindung betiteln könnte. Das lässt sich auf ein Beispiel im Grundschulniveau zurückführen, auch wenn es im Tatsächlichen natürlich oft sehr viel Komplexer daherkommt. Ich versuche es mit der Wortwahl adhoc an einem Beispiel dem Üblichen nachzuempfinden ;-)

Beispiel für sachliches vs. juristisches Problem: 

"4 = 2 + 3" ist prozessual falsch, obwohl Ergebnis und Argumente jeweils isoliert gesehen richtig sein könnten. Erstes methodisches Problem zur Auflösung ist die Frage, wie Prüfung und Feststellen des prozessualen Fehlers beginnen sollte. Ist der Urteilsmodus zunächst in den und wenn ja in welchen Gutachtenmodus, "2 + 3 = 4" oder "3 + 2 = 4", zurückzutransformieren oder steht die "4" als (Wunsch-)Ergebnis bereits fest? Nehmen wir z.B. "2 + 3 = 4" und die denkbare Zusatzinformation, dass Argumente und Summenregel stimmen und nur vergleichbare Ganze summiert wurde, dann ergibt 2 + 3 = 5. Das Ergebnis "4" ist also dann definitiv unwahr. Das Urteil lässt sich so nicht halten. Sind als erstes Argument aber Ganze und als zweites Argument nur so "halbe Sachen" miteinander summiert worden, dann ergibt 2 Ganze + 3 Halbe = 4,5 Ganze, dagegen 3 Ganze + 2 Halbe = 4 Ganze. Also entweder ist das Urteil einfach anders falsch oder trotz prozessualem Fehler sogar vollkommen richtig. Steht als Wunschergebnis die "4" fest, dann wäre also die Summierung von 3 Ganzen und 2 Halben die zwingende Bedingung des Wahrheitswunsches. Entspricht das wirklich der tatsächlichen Wahrheit? Gibt es zustimmende oder widerlegende Belege? Die offensichtlich fehlerhaft dargestellte Aufsummierung von 3 Ganzen und 2 Halben ist zumindest nicht von vornherein undenkbar, etwa fernab möglicher Tatsachen und der Summenmethode. Die schriftliche Umkehrung des ausführlichen und prozessual korrekten Gutachtens "3 (Ganze) + 2 (Halbe) = 4 (Ganze)" in das kurz zusammengefasste Urteil "4 = 3 + 2" ist sogar sehr naheliegend, da die Aufteilung und Summierung von 5 Ganzen in zwei Teile oder das Beginnen mit halben Sachen keinen Sinn erkennen lässt. Wenn die Begründung des Urteils im Sinne einer naturwissenschaftlichen Genauigkeit somit zwar nicht fehlerfrei ist, steht jedoch zur Überzeugung fest, dass das Urteil sachlich und methodisch nachvollziehbar und begründbar ist, soweit sich daraus ein Ergebnis im Wertebereich "4 - 5" ergibt. Das trifft für das Urteil ganz offensichtlich zu. Ob möglicherweise der zulässige Wertebereich wegen einer nicht undenkbar beabsichtigten aber ebenso falsch dokumentierten Substraktion, Multiplikation und sonstigen Verfahrensweise zulässigerweise sogar "-1 bis 6" betragen könnte, ist im vorliegenden Fall nicht zu entscheiden, da es an nachvollziehbaren Einwänden gegen eine Aufsummierung fehlt. Der Umstand, dass sich auch das vom Beschwerdeführer gewünschte Ergebnis "5" innerhalb des als richtig festgestellten Wertebereichs einer Summierung befindet, stellt keinen hinreichenden Beschwerdegrund dar, da es nicht Aufgabe und Ergebnis eines Prüfverfahrens sein kann, dass sich ein Beteiligter eines von mehreren möglichen Ergebnissen aussucht. Es liegt im Rahmen der richterlichen Unabhängigkeit allein im Ermessen des Richters, sich durch eine sachlich angemessene richterliche Überzeugungsbildung, hier die Summierung, auf ein begründbares Ergebnis festzulegen. Nicht jeder Fehler in dieser Begründung rechtfertigt die Annahme eines falschen oder willkürlichen Ergebnisses, zumal wenn wie hier, das Ergebnis mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die vorstehend festgestellte Weise korrekt zustande kam. Gegenüber der hier nicht weiter geprüften Möglichkeit eines korrekten Ausgangs des Verfahrens mit dem Ergebnis "-1", ist der Beschwerdeführer sogar zu einem für ihn ausgesprochen vorteilhaften Urteil gekommen, so dass für die unterstellte Annahme einer Befangenheit des Urteilenden und daraus abgeleiteten willkürlichen Benachteiligung des Beschwerdeführers keine objektiven Gründe ersichtlich sind. Beschwerde und Ablehnungsgesuch sind daher als unbegründet zurückzuweisen.                        

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Diese Diskussion fand in NJW-aktuell 52/2016, S. 28 (heute im neuen NJW-Heft) ihren Wiederhall. Oder ist das ein "Widerhall"? Philologen aller Länder, äußert Euch!  

In den Kontext des vorliegenden Themas gehört wohl auch das Urteil des Fischer-Senats vom 17.2.2016, 2 StR 25/15. Der Leitsatz der NJW-Redaktion ist abgedruckt in NJW 2016, 3797, das ist die Entscheidung Nr. 13 im aktuellen Heft der NJW.

Wurde da wieder ein Stück Rechtsstaat abgeschafft, ohne dass es irgendwer gemerkt hätte? Gilt der Parameter "Rechtssicherheit" denn überhaupt nicht mehr? Versinkt jetzt alles in der Beliebigkeit einer wie auch immer gearteten "Abwägung"? Sind die Fernseh-Polizisten, die fröhlich-unbekümmert irgendwo einbrechen, jetzt zum Maßstab des Rechtsstaats geworden?  

Der entscheidende Satz in der Entscheidung lautet: "Anhaltspunkte dafür, dass der Richtervorbehalt von den Ermittlungsbeamten bewusst missachtet wurde, liegen nicht vor." Also wurde kein Stück Rechtsstaat abgeschafft.

Im Übrigen sollte der Gesetzgeber Richtervorbehalte soweit möglich abschaffen, soweit nicht in der Realität eine echte Prüfung möglich ist.

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Die Richtervorbehalte solcher Art sind klassische Totschlagsargumente der Politik. "Das wird ja durch einen Richter kontrolliert." soll davon überzeugen, dass irgendwelche Maßnahmen, seien sie nun richtig (wie etwa bei der Blutentnahme) oder falsch, schon nicht so schlimm sind. So müssen Politiker nicht weiter nach Argumenten für die Sache (die durchaus richtig sein kann) suchen. Der Richter ist dann im Zweifel der Dumme, dem in vielen Fällen nicht mehr als das Abnicken der Maßnahme zukommt.

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Bisher war es oft schwierig, die Wahrheit herauszufinden.

Daher konnte man bisher oft darüber streiten, was wahr ist, also konnte man verschiedene Standpunkte einnehmen.

Medienberichten zufolge ist die Bundesregierung jedoch wohl gerade dabei dies zu ändern, und plant, das jemand, der etwas Wahres bestreitet, oder etwas Unwahres behauptet, zukünfig als "Fake-Täter" bestraft werden soll.

Die Protestpartei "die Partei" geht daher davon aus, daß die Menschen in Zukunft nicht mehr so viel sprechen werden, und insbesondere Politiker in Wahlkämpfen nicht mehr so viel versprechen werden, sondern weitgehend schweigen werden.

Vielleicht lohnt dieses Thema auch einen eigenen Artikel bzw. Thread.

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Medienberichten zufolge ist die Bundesregierung jedoch wohl gerade dabei dies zu ändern, und plant, das jemand, der etwas Wahres bestreitet, oder etwas Unwahres behauptet, zukünfig als "Fake-Täter" bestraft werden soll.

Welchen "Medienberichten zufolge"? Ich glaube, da sind Sie ungeprüft einer Fake-Meldung aufgesessen oder wollen, was noch schlimmer wäre, eine solche sogar produzieren.

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irgendwie hab ich den Eindruck , dass i nden 60 iger Jahren 1966 ff es um mehr aBSOLUTE WAHRHEITSPFLICHT GING

NA JA ICH WAR DAMALS EINE BEGEISTERTE JURASTUDENTI N VON PROF JESCHEK FREIBURG

ANKE SLABI

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Ich wüßte nicht, dass Jeschek jemals etwas zur "absoluten Wahrheitspflicht" gesagt oder publiziert hätte. Können Sie uns da als "begeisterte Jurastudentin von Prof Jeschek Freiburg" weiterhelfen?

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Ich habe damals sein Lehrbuch zum Strafrecht AT (meiner Erinnerung nach in der 3. Auflage von 1978) gelesen. Im ganzen Lehrbuch fand sich, meiner Erinnerung nach, keinerlei Hinweis auf eine "absolute Wahrheitspflicht".

Eine klare "Wahrheit" in der Außenwelt kann es ja nicht geben, alle menschlichen Thesen über das, was da passiert, sind eben nur das. Wenn man davon ausgeht, dass es eine gewisse Kongruenz zwischen dem tatsächlich in der Außenwelt Existenten und dem von uns Wahrgenommenen und Kommunizierbaren gibt - wovon man im Recht wohl muss und was sich auch sonst als ganz gute (funktionierende) These erweist - kann man zumindest bei einigen Äußerungen feststellen, dass diese keine Entsprechung in der Außenwelt haben - das sind dann die "alternativen Fakten", deren Behauptung klassisch Lüge genannt wird. In diesem System ist die Aufgabe des Angeklagten rechtlich simpel, er darf lügen, soweit er sich dadurch nicht nach gesonderten Normen strafbar macht. Auch die Grenzen der Möglichkeiten des Verteidigers sind jedenfalls in der Theorie klar, auch wenn in der Praxis manchmal die Abgrenzung zum unerlaubten Verhalten fraglich sein mag. Jedenfalls muss er nicht aktiv auf die Aufdeckung der "Wahrheit" oder alternativ der Aufdeckung von Lügen hinwirken, wenn dies für seinen Mandanten schädlich ist. Sollen nun wenigstens Gericht und Staatsanwaltschaft (Justiz) die "Wahrheit" erforschen? Jedenfalls sollen sie Lügen aufdecken, letztlich darf die Wahrheitssuche aber nur zu einem nach prozessualen Regeln festgestellten Sachverhalt führen. Dieser, der zT aufgrund von Beweisregeln und Fiktionen (in dubio etc.) und der Zulässigkeit von Beweismitteln bestimmt wird, ist sicher etwas ganz Anderes als die Wahrheit oder auch nur so nah an dieser, wie möglich. Die Wahrheitspflicht besteht mE für die Justiz dann insbesondere darin, den Prozess, der zur Feststellung dieses Sachverhalts geführt hat, und die tatsächlich tragenden rechtlichen Erwägungen transparent zu machen.

Sollen nun wenigstens Gericht und Staatsanwaltschaft (Justiz) die "Wahrheit" erforschen? Jedenfalls sollen sie Lügen aufdecken, letztlich darf die Wahrheitssuche aber nur zu einem nach prozessualen Regeln festgestellten Sachverhalt führen. Dieser, der zT aufgrund von Beweisregeln und Fiktionen (in dubio etc.) und der Zulässigkeit von Beweismitteln bestimmt wird, ist sicher etwas ganz Anderes als die Wahrheit oder auch nur so nah an dieser, wie möglich. Die Wahrheitspflicht besteht mE für die Justiz dann insbesondere darin, den Prozess, der zur Feststellung dieses Sachverhalts geführt hat, und die tatsächlich tragenden rechtlichen Erwägungen transparent zu machen.

Dem stimme ich bis auf die hervorgehobene Stelle unbedingt zu. Wenn prozessuale Regeln "etwas ganz Anderes als die Wahrheit" hevorbringen, dann wurden sie entweder nicht korrekt angewandt oder die Regeln stellen selbst das Problem dar. Transparenz ist gerade deshalb erforderlich, um in diesen Fällen Korrekturen und ein Fehlermanagement zu ermöglichen. Das Wahrheit nur relativ ist, bedeutet nicht, dass sie beliebig ist oder an Phänomenen oder Vermutungen festgemacht werden kann. Es gibt in einem relativen Wahrheitsraum bei eindeutigen Regeln durchaus auch eindeutige Wahrheiten. Die relativ eindeutige Wahrheit, dass die Einhaltung der prozessualen Regeln zu tatsächlich überzeugenden Ergebnissen führt, bekommt in dem Moment des temporären oder nachhaltigen Versagens allerdings seine Relativierung. Die wie auch immer begründete "absolute Prozessregel" einer "Wahrheit durch Rechtskraft" steht dieser Tatsache deutlich entgegen. Die pauschale Annahme, dass durch bindende Rechtskraft mit dem Rechtsfrieden zugleich der Wahrheitssuche genüge getan ist, ist in sich regelwidrig.          

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Die Wahrheitsfindung ist auch bei Verteidigern als Organen der Rechtspflege nicht immer in den besten Händen, wie sollte es auch anders sein.

Das Gewinnen im Strafprozeß ist nach meinen Beobachtungen und Erlebnissen ein wichtiges Motiv ihrer Tätigkeit, das schlägt sich ja auch in der Vergütung nieder, Bargeld wechselt da auch schon mal in Gerichtsnähe die Besitzer, konnte es auch selber sehen. Auch daß ein Strafverteidiger vor hatte, zwei Termine zur gleichen Zeit im Gerichtsgebäude wahrzunehmen,  und deswegen eine ganze Strafkammer, samt aller Beteiligter und der Öffentlichkeit, ohne Kenntnis dieser "Verhinderung", dann geduldig so lang auf ihn wartete, bis der Strafverteidiger für das Gericht selber wieder Zeit gefunden hatte.

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Ich hatte vor einem Vierteljahrhundert die Gelegenheit, aus Anlass meiner strafprozessrechtlichen Dissertation länger über den Wahrheitsbegriff im Strafprozess (und auch, welcher Beteiligte zur Wahrheit verpflichtet ist) nachzudenken.  Mein Ergebnis kann vielleicht auch zur hiesigen Diskussion beitragen, inwieweit Richter, Staatsanwälte und Verteidiger zur Ermittlung der Wahrheit verpflichtet sind: Die materielle Wahrheit (und nicht nur die prozessuale) ist entscheidendes Legitimationskriterium der Verurteilung. Wenn der Staat jemanden verurteilt (als schärfsten staatlicher Eingriff, den wir kennen), dann muss dies auf der prozessrechtsgemäß ermittelten und nach richterlicher Überzeugung tatsächlich "wahren" Behauptung der Täterschaft des Angeklagten beruhen. Nur aufgrund einer "prozessualen Wahrheit" darf niemand verurteilt werden, selbst wenn - wie wir alle wissen - die Beschränkungen des Starfprozesses zur Ermittlung der Wahrheit oftmals nur eine Annäherung an die materielle Wahrheit zulassen. Es geht aber darum, die materielle Wahrheit anzustreben. Dass das Recht nicht zufrieden ist mit einer bloß prozessualen Wahrheit, ergibt sich u.a. aus den Vorschriften zur Wiederaufnahme. Der bloße Rechtsfrieden durch prozessordnungsgemäßen Abschluss eines Verfahrens genügt nicht. Ich halte daher entsprechende systemtheoretischen Überlegungen ("Legitimation durch Verfahren") für verfassungsrechtlich bedenklich. Ein Verfahren kann keine Verurteilung  legitimieren, wenn darin nicht die materielle Wahrheit zumindest angestrebt wird und das Gericht bei einer Verurteilung nicht von der materiellen Wahrheit der Täterschaft überzeugt ist.

Umgekehrt beruht ein Freispruch oder eine Einstellung eben nicht etwa auf der Wahrheit der Nichttäterschaft, sondern erfolgt schon dann, wenn die Tat auf prozessordnungsgemäßem Wege nicht nachgewiesen werden kann. Daher sind von ihren Prozessfunktionen her zwar Staatsanwaltschaft und Gericht verpflichtet die materielle Wahrheit zu ermitteln, nicht aber ist der Strafverteidiger verpflichtet, ihnen dabei zu helfen. Seine Prozessfunktion ist die einseitige Interessenvertretung seines Mandanten, worin (wenn der Mandant schuldig ist) auch die prozessordnungsgemäße Störung der Wahrheitsfindung liegen kann. Wie diese Interessenvertretung konkret aussehen darf, also die rechtlichen (nicht: moralischen) Grenzen dieser Interessenvertretung, ergibt sich nicht aus der Pflicht zu Ermittlung der Wahrheit (denn diese trifft ja nur das Gericht und die Staatsanwaltschaft), sondern aus berufsrechtlichen Regeln und aus den §§ 153, 258 StGB. Meines Erachtens darf der Strafverteidiger deshalb zwar von einem Geständnis abraten und er darf (er muss sogar in vielen Fällen!) zum Schweigen raten und er ist nicht verpflichtet den Mandanten  am Lügen zu hindern, aber er darf nicht selbst lügen, dem Mandanten nicht behilflich sein bei dessen Lügen und er darf auch keine Zeugen zur Lüge anstiften oder dabei helfen.

Hinzu treten für den einzelnen Strafverteidiger auch noch moralische Grenzen. Und auch strategische bzw. taktische Grenzen, die über den Einzelprozess hinausgehen, etwa, dass er es vermeiden will, dass man seinen Angaben von vornherein misstraut, weil er bekanntermaßen bei der Beratung schuldiger Mandanten am Rande des Zulässigen agiert etc.

Deshalb ist die Angabe des interviewten Verteidigers, die Wahrheit sei "egal" insofern richtig, als dass er nicht zu deren Aufklärung verpflichtet ist, und so ist es ja in dem Zusammenhang der Fragestellung im Interview auch gemeint. Diese Auffassung darf ihn (und andere Strafverteidiger) aber nicht dazu verleiten, Unwahrheit und Lüge zum Maßstab ihres Handelns werden zu lassen, das sagt er ja auch im Interview.

Auffassungen, die man häufig aus Kreisen der Strafverteidiger hört, es gehe im Prozess doch nur um "prozessuale Wahrheit", sind im Kern falsch und schaden eher dem Interesse, das sie verfolgen. Natürlich muss auch ein Strafverteidiger unbedingt darauf beharren, dass Beschuldigte/Angeklagte nur aufgrund prozessordnungsgemäß ermittelter "materieller Wahrheit" verurteilt werden dürfen und Zweifel zum Freispruch führen müssen. Insofern ist die Wahrheit nicht "egal".

Danke vielen dank

ich hab Ihren so gut formulierten kOmmentar meinem Neffen 2. semester Jura Tuebignen ausgedruckt

herzlichen Gruss Anke Slabi aus Freiburg 

 

 

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Vielen Dank für die interessanten und weiterführenden Anregungen. Wenn Sie noch Belegexemplare haben, habe ich immer Interesse. Die Verhältnisse bleiben ja kompliziert. Lüge bezeichnet ja die Diskrepanz zwischen Äußerung und Überzeugung und hat daher für die äußere Wahrheit als Ziel eines Prozesses nur mittelbare Bedeutung. 

Ich stimme zu, dass ein Verfahren nur dann legitim ist, wenn auch das Ziel ist, einen Sachverhalt festzustellen, der in einem noch zu bestimmenden Sinne wahr ist. Gleichzeitig ist ein Verfahren nur legitim, wenn es selbst rechtsstaatliche Standards einhält, also Beschuldigten- und Zeugenrechte schützt. Die Ziele konfligieren teilweise, und jeder Ausgleich führt dazu, dass das Ziel des Verfahrens nur eine auch prozessual bestimmte Wahrheit ist.

Wenn man jetzt überlegt, in welchem Sinne ein festgestellter Sachverhalt wahr im ursprünglich genannten, äußeren Sinne sein kann, dann dürften auch hier Beschränkungen bestehen. Selbst wenn man sich ein perfektes Beweismittel vorstellt, interessiert rechtlich nur ein sozial relevanter Ausschnitt aus der Realität. Auf molekularer, noch klarer auf subatomarer, Ebene verliert die Realität in dieser Betrachtung jede sozial und rechtlich relevante Bedeutung. Nur im sozial-rechtlichen Bereich spielt ja auch die jedenfalls in unserem Kulturkreis intuitive Kausalitätsvorstellung noch eine Rolle, in anderen Wissenschaften geht es ja auch wohl gut ohne Kausalität. Auf neurobiologischer Ebene geht dann auch die Bedeutung von Vorstellungen wie Vorsatz und freiem Willen verloren.

Was ich meine ist, dass wohl jede "Tatsachenfeststellung" auf etwas gerichtet ist, was durch unsere begrifflichen Vorstellungen geprägt ist und unabhängig von erkenntnistheoretischen Problemen nur eine ungefähre, aber sozial eben bedeutungsvolle Abbildung der Realität ist.

Mit diesen Einschränkungen meine ich aber auch, dass Ziel des Verfahrens ist, einen Sachverhalt festzustellen, der von den Feststellungen aufgrund eines perfekten Beweismittels nicht abweicht. Im Übrigen teile ich auch Ihre Einschätzung zu Pflichten des Verteidigers aus Berufsrecht und allg. Strrafvorschriften.

Da möchte ich doch auch an den Strafverteidiger Ulrich Endres erinnern im Prozeß von Magnus Gäfgen alias .......

Er hätte auch die prozessuale Taktik einschlagen können mit einem Beweisverwertungsverbot, er riet aber zum Geständnis.

Die andere Taktik wurde dann erst später wieder angewandt. Dürfte alles ja noch unvergessen sein, jedenfalls bei mir ist das so.

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Dieses Zitat finde ich aber so schön, daß ich es Ihnen allen nicht vorenthalten möchte:

Zum Schluss seiner Ausführungen wendet sich Richter Ralf Fischer noch einmal direkt an die Frau, die sich so gerne zum Opfer stilisiert, obwohl sie mit diesem Tag nun endgültig als Täterin zu gelten hat. „Frau Lohfink“, sagt er. „Wenn Sie unter diesem Verfahren gelitten haben, dann sollten Sie sich einen Verteidiger suchen, der Ihre Interessen wichtiger nimmt als seine. Und wenn er dazu noch etwas von Strafrecht verstünde, wäre das wirklich ein Gewinn.“

http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/kriminalitaet/gericht-bestaetigt...

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Dieses Zitat finde ich aber so schön, daß ich es Ihnen allen nicht vorenthalten möchte

Das mag zwar als Büttenrede sicher einige müde Lacher provozieren; was der Verteidiger "angestellt" haben soll, wissen wir aber alle nicht. Warum wird das nicht erklärt oder dargelegt? Es bringt nichts, die Büttenrede zu zitieren ohne den zugrundeliegenden Sachverhalt zu kennen über den man lachen soll.

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Dieser Verteidiger, den Richter Ralf Fischer damit angesprochen hatte, hatte selber in einem Interview mit einer großen Tageszeitung (DIE WELT), veröffentlicht am 23.05.2016, folgenden Satz gesagt:

"Selbstverständlich. Es gibt eine Grundregel. Alles was wir sagen, ist wahr, aber wir sagen nicht alles, was wir wissen."

Auch Hans Ulrich Endres, den ich ein paar Mal auch im Gerichtssaal erleben konnte, hätte diesen Satz so sagen können, und dem möchte ich mich auch hierbei anschließen. Mehr aber möchte ich dazu nicht mehr sagen und auch kein Buch schreiben, oder es vermarkten.

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