Das Kopftuch erneut vor dem EuGH

von Prof. Dr. Markus Stoffels, veröffentlicht am 01.12.2023
Rechtsgebiete: Bürgerliches RechtArbeitsrecht|1143 Aufrufe

Der EuGH (Urteil vom 28.11.2023 - C-148/22) hatte sich ein weiteres Mal mit der Frage zu befassen, ob einer Muslima das Tragen eines religiösen Kopftuchs untersagt werden kann, diesmal in der öffentlichen Verwaltung. Der EuGH schreitet dabei auf dem schon bisher eingeschlagenen Weg weiter fort und belässt nicht unerhebliche Handlungsspielräume. Es handelt sich um eine Vorlage aus Belgien.

Einer Bediensteten der Gemeinde Ans, die als Büroleiterin ganz überwiegend ohne Publikumskontakt tätig ist, wurde es untersagt, am Arbeitsplatz das islamische Kopftuch zu tragen. Anschließend änderte die Gemeinde ihre Arbeitsordnung und schrieb in der Folge ihren Arbeitnehmern eine strikte Neutralität vor: Jede Form von Proselytismus (Damit ist das Abwerben von Gläubigen aus anderen Konfessionen gemeint.), und das Tragen von auffälligen Zeichen ideologischer oder religiöser Zugehörigkeit ist allen Arbeitnehmern, auch denen, die keinen Publikumskontakt haben, verboten. Die Betroffene möchte feststellen lassen, dass sie in ihrer Religionsfreiheit verletzt wurde und diskriminiert wird. Dem mit dem Rechtsstreit befassten Arbeitsgericht Lüttich stellt sich die Frage, ob die von der Gemeinde aufgestellte Regel der strikten Neutralität eine gegen das Unionsrecht verstoßende Diskriminierung begründet.

Der Gerichtshof antwortet, dass die Politik der strikten Neutralität, die eine öffentliche Verwaltung ihren Arbeitnehmern gegenüber durchsetzen will, um bei sich ein vollständig neutrales Verwaltungsumfeld zu schaffen, als durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt angesehen werden kann. Ebenso gerechtfertigt ist die Entscheidung einer anderen öffentlichen Verwaltung für eine Politik, die allgemein und undifferenziert das Tragen von sichtbaren Zeichen u. a. weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen, auch bei Publikumskontakt, gestattet, oder ein Verbot des Tragens solcher Zeichen beschränkt auf Situationen, in denen es zu Publikumskontakt kommt.

Die Mitgliedstaaten und die unterhalb der staatlichen Ebene angesiedelten Einheiten verfügen nämlich über einen Wertungsspielraum bei der Ausgestaltung der Neutralität des öffentlichen Dienstes, die sie in dem für sie spezifischen Kontext am Arbeitsplatz fördern wollen. Dieses Ziel muss aber in kohärenter und systematischer Weise verfolgt werden, und die zu seiner Erreichung getroffenen Maßnahmen müssen sich auf das absolut Notwendige beschränken. Es ist Sache der nationalen Gerichte, zu prüfen, ob diese Anforderungen erfüllt sind.

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