Nachträgliche Verlängerung der Sicherungsverwahrung ist menschenrechtswidrig - Deutschland in Straßburg verurteilt
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg (Entscheidung im Wortlaut) hat die Bundesrepublik Deutschland zur Zahlung von Schmerzensgeld an einen derzeit noch Sicherungsverwahrten verurteilt (hier der Bericht auf Zeit-Online). Die Sicherungsverwahrung sei menschenrechtswidrig, da die nachträgliche Verlängerung (neben einer Verletzung des Art.5) auf einer nach Art.7 I 2 EMRK verbotenen Rückwirkung beruhe.
Artikel 7 I der EMRK lautet:
(1) Niemand darf wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach innerstaatlichem oder internationalem Recht nicht strafbar war. Es darf auch keine schwerere als die zur Zeit der Begehung angedrohte Strafe verhängt werden.
Der Betroffene war 1986 erstmals neben einer Verurteilung zu Freiheitsstrafe auch zu Sicherungsverwahrung verurteilt worden, als die Höchstfrist für die erstmalige Anordnung in § 67 d StGB noch auf zehn Jahre bestimmt war. Diese Höchstfrist wurde mit der heute geltenden Fassung 1998 abgeschafft. Für den Betroffenen entfiel daher die Höchstfrist der Sicherungsverwahrung, danach hätte er spätestens 2001 entlassen werden müssen - etwa 70 weitere Fälle sollen ähnlich gelagert sein.
Das BVerfG hatte diese Praxis mit Urteil des Zweiten Senats vom 5. Februar 2004 - 2 BvR 2029/01 - für verfassungsgemäß erachtet. Hier die entscheidende Passage des Urteils:
"Ebenso wenig revidiert die Gesetzesänderung die im Straferkenntnis rechtskräftig festgesetzten Rechtsfolgen zum Nachteil des Betroffenen. Denn die gesetzliche Höchstfrist des § 67d Abs. 1 StGB a.F. war nicht Bestandteil des unter alter Rechtslage ergangenen Strafurteils, erwuchs also nicht in Rechtskraft. Der Urteilstenor lautete früher wie heute lediglich auf "Unterbringung in der Sicherungsverwahrung". Die Unterbringung wurde auch nach früherer Rechtslage nicht befristet angeordnet (vgl. Stree, in: Schönke/Schröder, StGB, 25. Aufl., § 66 Rn. 67; Tröndle, StGB, 48. Aufl., § 66 Rn. 22; Hanack, in: LK, StGB, 11. Aufl., § 66 Rn. 183). Darauf, ob und wie lange (vgl. §§ 67c, 67d Abs. 2 StGB) die angeordnete Sicherungsverwahrung nach Strafende tatsächlich vollzogen wird, hatte und hat das Tatgericht keinen Einfluss. Insbesondere steht die Beantwortung der Frage, wie lange ihr Vollzug angesichts der prognostizierten Gefährlichkeit als verhältnismäßig anzusehen ist, nicht in seiner Entscheidungskompetenz. Hierüber befindet vielmehr allein die Strafvollstreckungskammer (§§ 67c, 67d StGB, § 463 Abs. 3, §§ 454, 462a Abs. 1 StPO). Dem Tatgericht war und ist es selbst dann verwehrt, eine Sicherungsverwahrung mit einer bestimmten Höchstfrist anzuordnen, wenn es einen länger dauernden Vollzug angesichts der Anlasstat oder sonstiger Umstände für unverhältnismäßig hält."
Die damalige Argumentation des BVerfG erscheint mehr ergebnis- als rechtsstaatsorientiert. Da es sich um eine gesetzliche Höchstfrist handelte, ist es meines Erachtens für die Frage der Rückwirkung unerheblich, dass die Sicherungsverwahrung im Allgemeinen im Urteil nicht befristet angeordnet wird. Das Gesetz selbst ist Maßstab der Rechtskraft des Urteils. "Unbestimmt" lange Sicherungsverwahrung ist materiell etwas anderes als "unbestimmte Sicherungsverwahrung, höchstens die gesetzliche Höchstfrist". Das BVerfG hat darüber "hinwegrechteln" wollen.
Dem Urteil aus Straßburg ist rechtlich zuzustimmen.
Spannend können noch folgende Fragen werden:
1. Wie wird die EGMR-Entscheidung - vorausgesetzt sie wird rechtskräftig - umgesetzt? Kommt es jetzt zur Freilassung der bislang als gefährlcih angesehenen Verurteilten?
2. Welchen Einfluss hat die Entscheidung auf die nachträgliche Sicherungsverwahrung insgesamt, also in Fällen wo es nicht lediglich um eine Verlängerung geht, sondern um die nachträgliche erstmalige Anordnung selbst?