BGH hebt Urteil in der Sache "Winnenden" auf
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Schon am 22. März hat der 1. Senat des BGH das im Februar 2011 ergangene Urteil gegen den Vater des Jungen aufgehoben, der 2009 in Winnenden 15 Personen und sich schließlich selbst getötet hat (frühere Beck-Blog-Beiträge hier und hier). Die Meldung (mit Video swr), zuerst von focus-online verbreitet, hat am Feiertag verschiedene Interpretationen ausgelöst. Der Beschluss ist im Wortlaut jetzt hier publiziert, über einige Details des Beschlusses ist schon berichtet worden. Allerdings scheint an dieser vorläufigen Berichterstattung auch manches korrekturbedürftig.
Soweit geschrieben wird, es handele sich "nur" um einen Verfahrensfehler und damit praktisch unterstellt wird, es handele sich um eine bloße Formalie, ist dieser Eindruck wohl nicht zutreffend. Hier wurde offenbar die Aussage einer wichtigen Zeugin in der Beweiswürdigung verwertet, die von der Verteidigung nicht befragt werden konnte, nachdem die Strafkammer ihr ein Auskunftsverweigerungsrecht zugebilligt hatte. Der Hintergrund wird in der Badischen Zeitung so geschildert (Auszug):
Wichtigste Belastungszeugin war die Kriseninterventions-Helferin A. L., die die Familie K. seit dem Amoklauf betreute. Sie sagte vor Gericht zunächst aus, dass Vater K. von den Mordphantasien seines Sohnes wusste. Eine Klinik, in der Tim zeitweise behandelt wurde, hatte den Eltern von einer Äußerung des Jungen berichtet, wonach dieser Hass auf die Welt habe und "am liebsten die ganze Menschheit umbringen" würde.
Zwei Wochen später widerrief sie die Aussage und schilderte eine für Jörg K. günstigere Version. Daraufhin leitete die Staatsanwaltschaft gegen die Zeugin ein Verfahren wegen versuchter Strafvereitelung ein. A. L. kehrte nun wieder zu ihrer ersten Version zurück. Das Landgericht billigte ihr aber wegen des drohenden Strafverfahrens ein Aussageverweigerungsrecht zu, so dass Jörg K.s Verteidigung die Belastungszeugin nicht befragen konnte.
Es geht nicht nur um eine Formalie. Das Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO steht einem Zeugen nur zu, wenn ihm wegen einer früheren Tat Verfolgung droht, nicht aber, wenn es um eben die betr. Zeugenaussage selbst geht, die hier ja offenbar noch nicht abgeschlossen war. Es erscheint mir zudem ganz unwahrscheinlich, dass der Schuldspruch der Strafkammer von der Revisionsentscheidung unberührt geblieben sein soll, wie es bei SPON heißt (dazu Burhoff). Offenbar soll der BGH aber ausgeführt haben (obiter dictum?), dass eine Verurteilung aus Sicht des Senats auch ohne die Aussage der Zeugin möglich wäre - fahrlässige Tötung könne dem Vater auch dann vorgeworfen werden, wenn er allgemein über die kritische psychische Befindlichkeit seines Sohnes informiert gewesen wäre - über eine Tötungsabsicht hätte er nicht unbedingt informiert sein müssen. Da dies gerade Inhalt der betr. Zeugenaussage war, würde ein solcher Hinweis thematisch durchaus Sinn machen, ändert aber nichts daran, dass der Schuldspruch zunächst einmal aufgehoben wird.
Erstaunen hat erregt, dass der BGH die Sache an eine "andere Jugendkammer" des LG Stuttgart zurückverwiesen haben soll (Quelle). Das aufgehobene Urteil stammt aber von einer Strafkammer.
Einige spekulieren, es handele sich um einen Fehler des BGH (hier), andere meinen, der BGH erachte eine Jugendkammer wegen der besonderen Schutzbedürftigkeit der (jugendlichen) Zeugen für zuständig. Eine solche Zuständigkeit ergäbe sich allenfalls aus § 26 GVG als Jugendschutzkammer, worauf ein Leser hinweist (s.u.). Ob aber überhaupt jugendliche Zeugen vernommen werden müssen, erscheint mir fraglich: Gerade die Feststellungen zum Tattag wurden nicht aufgehoben. Eine Zurückverweisung an eine Jugendkammer, wenn das Urteil gegen einen Erwachsenen von einer Strafkammer gesprochen wurde, ist zumindest "ungewöhnlich".
(Beitrag leicht geändert nach Veröffentlichung des Beschlusses auf juris)
Update (7. Mai): Der Senat hat jetzt einen Berichtigungsbeschluss getroffen: Es wird nunmehr an eine andere Strafkammer verwiesen.