Beschwer trotz Freispruch. Verhilft der EGMR Gustl Mollath zur Revision?
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Im Sommer 2014 hat das LG Regensburg Gustl Mollath freigesprochen:
Einerseits aus tatsächlichen Gründen, nämlich insbes. hinsichtlich der angeklagten Sachbeschädigungen, denn diese blieben unbewiesen. Es gab sogar Hinweise darauf, dass die angebliche Serie von Reifenstechereien Gustl Mollath untergeschoben worden war.
Andererseits aus rechtlichen Gründen: Hinsichtlich der gefährlichen Körperverletzung an seiner damaligen Frau beruhte der Freispruch darauf, dass das Gericht eine Schuldunfähigkeit Mollaths am 12.08.2001 nicht für ausgeschlossen hielt. Den Tatvorwurf selbst allerdings hielt das Gericht für erwiesen.
Gustl Mollath und viele seiner Unterstützer fanden das Urteil trotz des Freispruchs inakzeptabel: Auch die gefährliche Körperverletzung sei nicht bewiesen, und die Annahme, Mollath sei bei Tatbegehung möglicherweise schuldunfähig psychisch krank gewesen, sei eine zusätzlich belastende Behauptung.
Nach der bisherigen Rechtsprechung zum Revisionsrecht bedarf es allerdings für die Zulässigkeit des Rechtsmittels einer „Beschwer“ aus dem Urteilstenor, es gilt der "Grundsatz der Tenorbeschwer". Danach kann gegen einen Freispruch nur die Staatsanwaltschaft Revision einlegen, nicht aber der Freigesprochene. Ein sich (nur) aus den Urteilsgründen ergebender Nachteil soll dagegen nicht genügen. Deshalb erscheint bislang sehr zweifelhaft, ob eine Revision, mit der Gustl Mollath Rechtsfehler bei der Beweiswürdigung rügen könnte (z.B. dass man früheren Aussagen seiner Ex-Frau Glauben schenkte, obwohl sie in der Hauptverhandlung nicht erschienen war), überhaupt zugelassen wird.
Nun hat heute Oliver Garcia im Blog „delegibus“ auf eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg, hingewiesen. Nach der Entscheidung des EGMR im Fall Cleve gegen Deutschland vom 15.01.2015 können die Urteilsgründe eines freisprechenden Urteils einen Verstoß gegen die Unschuldsvermutung darstellen. Cleve war vom Vorwurf des sex. Missbrauchs freigesprochen worden; allerdings hatte das Landgericht Münster in den Urteilsgründen geäußert, Cleve habe wohl tatsächlich "sexuelle Übergriffe“ begangen; die genauen Umstände und Tatzeiten seien aber nicht mehr beweisbar. Cleve konnte gegen das freisprechende Urteil keine Revision einlegen. Das BVerfG hatte seine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Der EGMR sprach nun Cleve Schmerzensgeld zu, denn Art. 6 Abs.2 EMRK (Unschuldsvermutung) sei durch die Urteilsgründe verletzt. Einige zentrale Aussagen:
“In cases in which a criminal court rejected an indictment and acquitted the accused or discontinued the proceedings against him, both the Court and the Commission stressed that the reasoning in the domestic court’s decision forms a whole with, and cannot be dissociated from, the operative provisions. Therefore, the Convention organs had to examine the reasoning of the domestic court’s decision in the light of the presumption of innocence despite the fact that the indictment was rejected” (…) “The Court, thus, considers that once an acquittal has become final
– be it an acquittal giving the accused the benefit of the doubt in accordance with Article 6 § 2 – the voicing of any suspicions of guilt, including those expressed in the reasons for the acquittal, is incompatible with the presumption of innocence”
Für die weitere Argumentation möchte ich auf Oliver Garcia verweisen, der sehr detailliert argumentiert, diese EGMR-Entscheidung müsse auch bei anders gelagerten Fällen und insbesondere bei Gustl Mollath zur Folge haben, dass künftig eine Beschwer, die sich aus den Urteilsgründen ergibt, für eine Revisionszulassung genüge. Ob dies Gustl Mollath tatsächlich unmittelbar zur Revision beim BGH verhilft, ist aber derzeit noch offen. Die Entscheidung des EGMR ist noch nicht rechtskräftig. Zudem könnte der BGH argumentieren, ein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung – wenn ein solcher im Fall Mollath überhaupt vorliege - solle auf anderem Wege als durch Revision gerügt werden. Allerdings erscheint mir die Argumentation von Garcia sehr beachtlich. Die Begrenzung auf die Tenorbeschwer lässt sich dem Gesetzeswortlaut des § 333 StPO nicht zwingend entnehmen. In der Wissenschaft wird seit Jahren um die Tenorbeschwer gestritten, u. a. gerade mit dem Argument, dass die Annahme der Tatbegehung bei gleichzeitiger Feststellung der Schuldunfähigkeit eben eine Belastung des Freigesprochenen darstelle, die ihn durchaus hinreichend "beschwere".
Für die hiesige Diskussion rege ich an, sich auf die angesprochene Frage der Revisionszulassung zu konzentrieren. Viele weitere Einzelheiten zum Fall Mollath und zur Entscheidung des LG Regensburg sind in den fast 2000 Kommentaren zum früheren Beitrag bereits verhältnismäßig erschöpfend abgehandelt worden und benötigen auch keine Wiederholung.