Präludien von Bach als Lärm

von Dr. Klaus Lützenkirchen, veröffentlicht am 17.03.2010

Gemäß § 4 Berl.ImSchG ist es an Sonn- und gesetzlichen Feiertagen verboten, Lärm zu verursachen, durch den jemand in seiner Ruhe erheblich gestört wird. Nach § 15 Abs. 1 Nr. 4 Berl.ImSchG handelt ordnungswidrig, wer vorsätzlich oder fahrlässig entgegen § 4 Berl.ImSchG ohne eine zugelassene Ausnahme nach § 10 Berl.ImSchG oder eine Genehmigung nach § 11 Berl.ImSchG Lärm verursacht, durch den jemand in seiner Ruhe erheblich gestört wird. Vergleichbare Regelungen finden sich in den Lärmschutzgesetzen der übrigen Bundesländer.

Die Familie des Mieters ist „musikbegeistert”. Die Tochter des Mieters spielt Klavier, nahezu jeden Tag übt sie am späten Nachmittag für etwa eine Stunde. An einem Sonntag im Februar 2008 spielte sie zu Übungszwecken bis gegen 19 Uhr etwa eine Stunde lang Präludien und Französische Suiten von Bach. Der Nachbar fühlte sich hierdurch gestört und rief nach ca. einer halben Stunde die Polizei. Der Polizeibeamte konnte bei seinem Erscheinen die Klaviermusik in der Wohnung des Nachbarn deutlich wahrnehmen und empfand diese ebenfalls als belästigend, sofern es sich nicht um einen kurzfristigen Einzelfall handeln sollte. Nachdem der Polizeibeamte sich entfernt hatte, spielte die Tochter des Mieters nochmals für circa eine Viertelstunde weiter am Klavier. Aufgrund der Anzeige des Nachbarn erging ein Bußgeldbescheid über 75 € gegen den Mieter, den das Amtsgericht bestätigte.

Allerdings verstößt diese Entscheidung gegen Art. 103 Abs. 2 GG (BVerfG v. 17. 11. 2009 - 1 BvR 2717/08, NZM 2010, 154). Nach dem danach bestehenden  besonderen Bestimmtheitsgebot ist der Gesetzgeber verpflichtet, die Voraussetzungen der Strafbarkeit oder Bußgeldbewehrung so konkret zu umschreiben, dass Anwendungsbereich und Tragweite der Straf- oder Ordnungswidrigkeitentatbestände zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln lassen. Für die Rechtsanwendung der Gerichte folgt daraus ein Analogieverbot, das selbst dann gilt, wenn infolge des Bestimmtheitsgebots besonders gelagerte Einzelfälle aus dem Anwendungsbereich eines Straf- oder Bußgeldgesetzes herausfallen, obwohl sie ähnlich strafwürdig erscheinen mögen wie das pönalisierte Verhalten. Mit diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben war die amtsgerichtliche Entscheidung nicht vereinbar. Denn darin wurde zur inhaltlichen Bestimmung des Tatbestandsmerkmals der „erheblichen Ruhestörung” darauf abgestellt, ob die Klaviermusik müsse „objektiv störend” gewesen sei. Anstatt dazu objektive Maßstäbe heranzuziehen, werde nicht nur auf die Auskunft des Polizeibeamten über seine (subjektive) Wahrnehmung von Tatsachen abgestellt, sondern auch seinen rechtlichen Beurteilungen und Wertungen. Dies sei ohne objektive Maßstäbe (z.B. durch entsprechende Lärmmessungen) mit Art. 103 Abs. 2 GG nicht vereinbar.

Jedenfalls im Nachbarrecht kann sich der Gestörte danach nur mit Lärmschutzmessungen erfolgreich wehren. Denn auch bei der mittelbaren Anwendung der Lärmschutzbestimmungen über die §§ 1004, 823 BGB können keine anderen Maßstäbe gelten. Dann wird man entsprechende Beurteilungen auch bei § 569 Abs. 2 BGB (Kündigung wegen Störung des Hausfriedens) und der Minderung (§ 536 BGB) fordern müssen, wobei die Feststellungen über die Intensität der Lärmbeeinträchtigung nachträglich durch Sachverständige getroffen werden können.   

 

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3 Kommentare

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Aus meiner aktuellen Praxis kann ich berichten, dass ein Bezirksamt in Berlin mit der Entscheidung des BVerfG sehr innovativ umgeht. Es gab bei meinem Mandanten einen Polizeieinsatz aufgrund einer Beschwerde eines Mitmieters wegen Lärm (Gitarrenspiel). Da mein Mandant beim Eintreffen der Polizei ein wenig angetrunken war, wirft man ihm jetzt, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass ein Verstoßes gegen das Berl. ImschG nicht geahndet werden kann, fahrlässigen Vollrausch nach 122 OWiG vor. Da fehlten mir wahrlich die Worte...

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Moment, es gibt irgendein Bunderverfassungsgerichtsurteil, nachdem die tägliche Übezeit nicht unter eine Stunde gedrückt werden kann, weil Musizieren als Grundrecht gilt.

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