LG Baden-Baden im Zwangsvollstreckungsrecht: Familie mit arbeitenden Eltern braucht doch ein Auto!

von Carsten Krumm, veröffentlicht am 20.12.2021
Rechtsgebiete: Verkehrsrecht2|2560 Aufrufe

Ich glaube, das ist die erster Entscheidung aus dem Zwangsvollstreckungsrecht im verkehrsrechtlichen Bereich des Beck-Blogs. Es geht um die Frage, ob ein (auch) für die Arbeitswege genutztes, aber hierfür nicht zwingend nötiges Fahrzeug gepfändet werden darf. "Nein!", so das LG Baden-Baden:

 

 

1. Auf die sofortige Beschwerde der Schuldnerin wird der Beschluss des Amtsgerichts Bühl vom 12.04.2021, Az. M 275/21, aufgehoben.

 2. Der Gläubiger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

 Gründe: 

 I.

 Die Parteien streiten über die Pfändbarkeit eines im Eigentum der Schuldnerin stehenden PKW.

 Der Gläubiger betreibt gegen die Schuldnerin die Zwangsvollstreckung aus einem rechtskräftigen Urteil des Amtsgerichtes Bühl vom 28.07.2020 (Az.: 3 C 487/17) wegen einer Forderung in Höhe von 5.175,91 €. Er erteilte dem Gerichtsvollzieher Auftrag zur Pfändung in die bei der Schuldnerin befindlichen körperlichen Sachen. Die Schuldnerin ist nach der Vermögensauskunft vom 02.02.2021 Eigentümerin eines Fahrzeugs Ford Kuga 2,0 Diesel, Baujahr 2014, amtliches Kennz....7. Die Pfändung des Fahrzeugs hat der Gerichtsvollzieher mit Hinweis auf § 811 Abs. 1 Nr. 5 ZPO abgelehnt.

 Die Schuldnerin wendet sich mit ihrer Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts Bühl vom 12.04.2021, mit dem der Gerichtsvollzieher angewiesen wurde, im Auftrag des Gläubigers den PKW der Schuldnerin zu pfänden und zu verwerten. Zur Begründung führt die Schuldnerin an, dass die vierköpfige Familie auf das Auto angewiesen sei. Sie habe schulpflichtige Kinder im Alter von 14 und 7 Jahren. Im Notfall könne man die Kinder nicht mehr zur Schule fahren oder davon abholen. Auch Einkäufe und Arztfahrten seien … zweimal und ihr Ehemann bereits dreimal am Knie operiert worden sei.

 Mit Schreiben vom 01.06.2021 hat die Schuldnerin zudem mitgeteilt, dass sie seit dem 25.05.2021 bei der Firma C. GmbH, Dr.-R. Straße ..., in ... B. angestellt sei und im Zwei-Schicht-Betrieb arbeite.

 Der Beschwerdegegner begehrt die Zurückweisung der Beschwerde, da die Voraussetzungen des § 811 ZPO nicht vorlägen: Die Beschwerdeführerin könne auf den in Bühl vorhandenen funktionierenden öffentlichen Personennahverkehr zurückgreifen.

 Das Amtsgericht Bühl hat der sofortigen Beschwerde mit Beschluss vom 27.04.2021 nicht abgeholfen.

 Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsvollzieherakte und die gewechselten Schriftsätze verwiesen.

 II.

 Die sofortige Beschwerde ist zulässig und begründet.

 Der PKW der Schuldnerin ist der Pfändung nicht unterworfen, da er gemäß § 811 Abs. 1 Nr. 5 ZPO zur Fortsetzung der Erwerbstätigkeit der Schuldnerin erforderlich erscheint.

 Zwar ist dem Amtsgericht zuzugeben, dass der PKW zum bloßen Erreichen der Arbeitsstätte des Ehemannes nicht erforderlich erscheint. Da dieser über ein Fahrrad verfügt, kann er seine Arbeitsstelle mit dem Rad aufsuchen. Dass Operationen am Knie in der Vergangenheit diese Fortbewegungsart entgegen stehen würden ist nicht ausreichend dargetan. Auch die Schuldnerin könnte ihren Arbeitsort in der Dr. R.-Str. in B. grundsätzlich ohne Auto erreichen, obwohl sie nach ihrer Vermögensauskunft nicht über ein Fahrrad verfügt: Die Arbeitsstätte liegt in Baden-Baden-Steinbach und laut Google Maps zu Fuß nur rund 17 Minuten vom Wohnort entfernt.

 Trotzdem erscheint der PKW der Schuldnerin zur Fortsetzung ihrer Erwerbstätigkeit erforderlich. Erforderlich im Sinne des § 811 Abs. 1 Nr. 5 ZPO bedeutet dabei nicht unentbehrlich; es ist ausreichend, wenn der Gegenstand zur Erreichung des Normzwecks nötig ist (Gruber in: MüKo ZPO, 6. Aufl. 2020, § 811 Rn. 40). Die Vorschriften über den Pfändungsschutz sollen dem Schuldner und seinen Familienangehörigen die Grundlagen seiner wirtschaftlichen Existenz erhalten, damit er - unabhängig von staatlichen Leistungen - ein bescheidenes, der Würde des Menschen entsprechendes Leben führen kann (Musielak/Voit/Flockenhaus, 18. Aufl. 2021 Rn. 1, ZPO § 811 Rn. 1).

 Die Grundlage der wirtschaftlichen Existenz der Familie ist zwischenzeitlich auch wieder die konkrete Erwerbstätigkeit der Schuldnerin. Vorliegend ist das Gericht nach Betrachtung der Umstände in diesem Einzelfall zur Überzeugung gelangt, dass die Schuldnerin ohne ein Auto zeitlich nicht die Möglichkeit hätte, ihre Vollzeit-Tätigkeit weiter auszuüben. Das Fahrzeug ermöglicht ihr daher diese konkrete Erwerbstätigkeit, weshalb es nicht gepfändet werden darf. Es ist hierbei zu berücksichtigen, dass die Schuldnerin 40 Stunden pro Woche in Schichtarbeit tätig ist. Sie hat außerdem zwei schulpflichtige Kinder, die sie gemeinsam mit ihrem Ehemann zu betreuen und versorgen hat. Die Familie wohnt zudem in Bühl-Weitenung und damit im ländlichen Raum. Gerichtsbekannt sind in Weitenung nicht alle Geschäfte zur Deckung des täglichen Bedarfs vorhanden, so dass die Schuldnerin ihre Einkäufe nicht in kurzer Distanz erledigen können würde. Ohne Auto oder Fahrrad, sondern unter Zuhilfenahme öffentlicher Verkehrsmittel, würde die Erledigung der Einkäufe eine erhebliche Zeit in Anspruch nehmen: Um den täglichen Bedarf einer vierköpfigen Familie ohne Auto zu transportieren müsste die Schuldnerin zu Fuß und mit dem Bus nahezu täglich zum Einkaufen fahren. Auch erforderliche Arztbesuche, welche die Schuldnerin nicht nur selbst, sondern auch mit ihren Kindern zusammen bewerkstelligen muss, wären mit dem Bus deutlich zeitintensiver. Auch ohne eine (nicht ausreichend dargelegte) Einschränkung durch Knieoperationen in der Vergangenheit ist der erforderliche Zeitaufwand durch entsprechende Wege offensichtlich groß.

 Da schließlich (zumindest) die jüngere Tochter der Schuldnerin, welche die Grundschule besucht, betreuungsbedürftig ist, dürfte dies ebenfalls einen erheblichen Teil der der Schuldnerin am Tag zur Verfügung stehenden Zeit in Anspruch nehmen. Noch nicht berücksichtigt sind hierbei die auch von der Schuldnerin ins Feld geführten Gelegenheiten, zu denen ein Kind krankheitsbedingt abgeholt werden muss.

 Nach den konkreten Umständen ermöglicht erst die Nutzung des PKW der Schuldnerin ihre Vollzeit-Erwerbstätigkeit, weshalb dieser unter § 811 Abs. 1 Nr. 5 ZPO fällt und die Entscheidung des Amtsgerichts aufzuheben war.

 Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 ZPO.

LG Baden-Baden Beschl. v. 19.9.2021 – 3 T 28/21, BeckRS 2021, 29325

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2 Kommentare

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Wird hier ein Grundrecht auf ein Auto - zumindest für Familien - formuliert? Das wird die Sozialämter und Jobcenter aber freuen. Denn es gibt tatsächlich Menschen mit Führerschein, aber ohne Auto und ohne Geld für ein Auto.

Immerhin wird im drittletzten Absatz ein wenig dafür getan, den Einzelfall ordentlich aus der Masse herauszuarbeiten. Aber auch die dort genannten Gründe treffen für fast alle Familien außerhalb der Innenstädte zu, wenn beide Partner arbeiten. Und für Alleinerziehende erst Recht!

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Einen Ferrari wird man wohl pfänden können, einen VW-Golf (jedenfalls sofern es sich um ein normales Durschnittsauto handelt, und nicht um eine PS-starke aufgetunte GTI-Rennversion, oder um eine mit Ricaro-Ledersitzen und Edelhölzern besonders teurere ausgestattete Luxusversion handelt) wohl eher nicht.

Wir sind nicht mehr im Jahr 1950, sonders 71 Jahre weiter, und heutztage gehört ein Auto sowohl für einen Arbeitnehmer, wie auch für einen nicht gerade bereits im Pflegeheim bettlägerigen oder in einer Justizvollzugsanstalt einsitzenden Menschen, zur teilnahme am sozialen Leben dazu.

In Großstädten mit rund um die Uhr kurz getakteten hervorragendem ÖPNV, wie etwa Berlin, Hamburg und München, könnte man es vielleicht anders sehen, ebenso bei Personen, die über einen auch privat nutzbaren Dienstwagen verfügen, oder die jederzeit auf eine Fahrbereitsschaft wie etwa die der Bundeswehr oder des Bundestages zurückgreifen können.

Der Umstand, daß es in Großstädten in der alternaviven Szene, etwa unter ökologisch besonders bewußten Kindergärtnerinnen oder Erziehern auch Menschen gibt, die freiwillig auf PKWs verzichten, steht dem nicht entgegen, denn für diese Leute gehört es geradezu zu ihrem Lifestyle und zu dem Image das sie generieren möchten, daß sie keinen PKW nutzen.

Bloß weil es bestimmte, teils sektiererische Gruppen (wie etwa die Amish-People, oder Autonome oder Radikal-Ökologen) gibt, die auf bestimmte an sich nützliche Dinge verzichten, bedeutet das noch lange nicht, daß alle Menschen zum Verzicht darauf bereit sein müssen.

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