Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Urteil gegen Deutschland rechtskräftig; rückwirkende Sicherungsverwahrung rechtswidrig
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Es war schon im Dezember abzusehen (Blogbeitrag), dass das sehr eingehend begründete Urteil der kleinen Kammer in Straßburg (Quellenlink) höchstwahrscheinlich nicht durch die große Kammer aufgehoben wird. Deutschland hat sich also mit seinem Antrag nur etwas Zeit verschafft, muss allerdings nun nach Ablauf dieser Zeit doch die Konsequenzen ziehen. Der Sicherungsverwahrte M., dessen zunächst gesetzesgemäß angeordnete 10jährige Sicherungsverwahrung durch Gesetzesänderung rückwirkend auf unbestimmte Zeit verlängert wurde, wird für mittlerweile acht Jahre unrechtmäßige Einsperrung entschädigt werden müssen. Die Justizministerin hat entsprechende Schritte bereits angekündigt (laut Spiegel-Online). Ob er auch umgehend freigelassen wird, steht noch nicht ganz fest. Auch für die ca. 50 bis 70 Sicherungsverwahrten, für die dieselben Umstände zu einer rückwirkenden Verlängerung der Sicherungsverwahrung geführt haben, wird eine rechtmäßige Lösung gesucht werden müssen - nach derzeitigem Stand wird man auch sie freilassen müssen. Darüber hinaus wird man sich darauf einzurichten haben, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung (§ 66b StGB) insgesamt gekippt wird, da der EGMR insb. auch einen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1 S. 2 EMRK bemängelt hat. Die nachträgliche Sicherungsverwahrung verstößt ebenfalls gegen den Grundsatz, wonach eine Strafsanktion auf einem Urteil beruhen muss. Entsprechende Beschwerden liegen derzeit dem EGMR schon vor. Betroffen sein wird auch - entgegen der Einschätzung des BGH die erst jüngst eingeführte und prompt erstmals angewendete Version der nachträglichen Sicherungsverwahrung im Jugendstrafrecht (§ 7 Abs.2 JGG) - (link zum Blogbeitrag).
Das jetzt rechtskräftige Urteil des EGMR ist - nebenbei - eine Ohrfeige für den 2. Senat des BVerfG (2 BvR 2029/01) (= NJW 2004, 739), der vor 6 Jahren in derselben Sache keinen Verstoß gegen das Rückwirkunsgverbot gesehen hatte. Wer die beiden gegenläufigen Entscheidungen vergleicht, wird feststellen, auf welch schwacher Argumentationsbasis das BVerfG hier den rückwirkenden Eingriff des Gesetzgebers in eine rechtskräftige Entscheidung (also nicht nur auf den Tatzeitpunkt, sondern sogar auf den gerichtlichen Entscheidungszeitpunkt) bestätigt hatte.
Man wird sich jetzt in der Politik Gedanken darüber machen, wie künftig eine Sicherungsverwahrung rechtlich geregelt werden soll. Der EGMR hat eine Präventivsanktion bzw. -einsperrung nicht etwa ausgeschlossen. Wer das Urteil genau liest, kann durchaus Spielräume für den Gesetzgeber erkennen, nämlich einerseits solche in der Vollzugsgestaltung (deutlich vom Strafvollzug zu trennen) andererseits solche in der Anordnungspraxis. Aber eins ist ausgeschlossen: Man wird nicht mehr mit dem bloßen Verweis, es handele sich um Prävention, das Rückwirkungsverbot umgehen können.
Letzteres hat auch Generalbundesanwalt a.D. Kay Nehm erkannt, in einem Aufsatz auf dem Spiegel-Online Ableger "Legal Tribune".
Ich weise noch ergänzend hin auf meinen Besprechungsaufsatz "Die Sicherungsverwahrung, das Grundgesetz und die Europäische Menschenrechtskonvention" in: Strafverteidiger 2010, S. 207-212 (Heft 04/2010).