LG Regensburg: Nachträgliche Sicherungsverwahrung nach voll verbüßter Jugendstrafe erneut bestätigt
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Das Verfahren ist schon jetzt ein Kapitel in der bundesdeutschen Rechtsgeschichte, denn in ihm kulminieren gesetzliche Regelungen und Gerichtsentscheidungen, die nach Ansicht des EGMR menschenrechtswidrig, nach Ansicht des BVerfG verfassungswidrig sind. Und es stehen sich mit dem „Schutz der Allgemeinheit vor (möglicherweise) gefährlichen Straftätern“ und dem Schuldprinzip sowie dem Rückwirkungsverbot wesentliche Funktionen und Prinzipien des Strafrechts gegenüber. Ein Ende der Geschichte dieses Falls, die im Folgenden noch einmal geschildert werden soll, ist noch nicht absehbar.
1997 hat der damals 19 Jahre alte Verurteilte eine junge Frau getötet und sich (angeblich) neben der Leiche selbst befriedigt. Er wurde nach Jugendstrafrecht zur Höchststrafe (10 Jahre) verurteilt. Die Strafe hat er im Sommer 2008 voll verbüßt. Kurz vor seiner anstehenden Entlassung wurde in einem (wegen dieses Falls extra beschleunigtem) Gesetzgebungsverfahren die bis dahin im Jugendstrafrecht nicht vorgesehene nachträgliche Sicherungsverwahrung – entgegen dem mehrheitlichen Ratschlag der Experten (Beck-Blog-Link) – in Kraft gesetzt (Beck-Blog-Beitrag).
Das LG Regensburg verhängte im Juni 2009 nach Einholung von Sachverständigengutachten, die dem Verurteilten Gefährlichkeit attestierten, die Sicherungsverwahrung (Beck-Blog-Beitrag).
Die Entscheidung war noch nicht rechtskräftig, als im Dezember 2009 der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die bundesdeutsche Regelung, nach der rückwirkend die Höchstfrist für die Sicherungsverwahrung abgeschafft worden war, für menschenrechtswidrig erklärte. (Beck-Blog-Beitrag)
Mit dieser Entscheidung wurde deutlich, dass das gesamte System der nachträglichen Sicherungsverwahrung in Deutschland mit der Menschenrechtskonvention in Konflikt stand: Einen Verurteilten, der die gesamte Strafe und die Sicherungsverwahrung bis zur Höchstfrist aus einem rechtskräftigen Urteil abgesessen hat, nachträglich weiter in Haft zu behalten, verstoße gegen das Rückwirkungsverbot und gegen den geforderten Kausalnexus zwischen (ursprünglichem) Urteil und Bestrafung.
Im März 2010 bestätigte der BGH dennoch die Sicherungsverwahrung im vorliegenden Fall (Beck-Blog-Beitrag): Das Urteil des EGMR sei noch nicht rechtskräftig, weshalb man sich damit auch nicht auseinandersetzen müsse – eine Fehleinschätzung des BGH-Senats, der sich offenkundig vor einer Auseinandersetzung mit den Argumenten des EGMR drückte.
Ein Jahr später, im Mai 2011, erklärte das BVerfG praktisch die gesamten Regelungen zur Sicherungsverwahrung, ausdrücklich auch diejenigen, auf der die vom BGH bestätigte Entscheidung des LG Regensburg beruhte, für verfassungswidrig. (Beck-Blog dazu)
Allerdings stützte das BVerfG seine Entscheidung nicht auf das Rückwirkungsverbot (Art. 103 GG), sondern auf einen Verstoß gegen den allg. Vertrauensschutzgedanken. Dies ermöglichte es, dem Gesetzgeber eine großzügige Frist zur Neuregelung der Angelegenheit zu gewähren und die Gefangenen in den „Altfällen“ unter bestimmten Konditionen zunächst einmal in der Verwahrung zu belassen, so auch den Verurteilten im vorliegenden Fall. Allerdings musste die Sicherungsverwahrung zeitnah erneut gerichtlich überprüft werden, unter nunmehr etwas erhöhten Anforderungen: Erstens müsse die zugrunde liegende Gefährlichkeit nicht nur erheblich, sondern „hochgradig“ sein, zweitens müsse eine „psychische Störung“ vorliegen.
Was genau unter diesen Voraussetzungen zu verstehen ist, ist aber bislang fraglich (Beck-Blog-Beitrag)
Beide Voraussetzungen waren Kernthemen des erneuten Verfahrens vor dem LG Regensburg, das vorige Woche zum Abschluss kam. Allerdings war nach Einschätzung des Strafverteidigers von Anfang an eine Voreingenommheit des Gerichts zu beklagen (Mittelbayrische Zeitung dazu). Die beiden neuen Voraussetzungen seien nicht wirklich kritisch geprüft worden, die eingeholten neuen Gutachten seien insofern nicht schlüssig.
So wird dieser Fall in eine neue Runde gehen – zum BGH, und, möglicherweise, auch wieder zum BVerfG und zum EGMR.
Auf einen sachlich geschriebenen Beitrag von Malte Arnsberger auf Stern.de hat mich ein Blogleser hingewiesen - besten Dank.