Keine Akteneinsicht in die Messreihe

von Carsten Krumm, veröffentlicht am 06.06.2023
Rechtsgebiete: Verkehrsrecht3|1890 Aufrufe

Das Akteneinsichtsrecht ist ja ein moderner Klassiker des OWi-Rechts. Was darf/muss die Verteidigung bekommen? Pauschale Antwort: Alles, was in der Akte ist und all das, was aus dem Gesichtspunkt des fairen Verfahrens für die Verteidigung wichtig ist. Derzeit interessieren sich viele Verteidiger*innen für mich vollkommen nachvollziehbar für die Messreihe. Die obergerichtliche Rechtsprechung sieht hier aber wohl einhellig keinen Anspruch: 

1. Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts Kaiserslautern vom 04.04.2022 wird als unbegründet verworfen, weil die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Rechtsbeschwerde keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Betroffenen ergeben hat.

 2. Der Betroffene hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen (§ 473 Abs. 1 Satz 1 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG).

 Gründe: 

 Auf den Einspruch des Betroffenen gegen den Bußgeldbescheid der Bußgeldbehörde der Stadt K. hat das Amtsgericht Kaiserslautern ihn wegen vorsätzlicher Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit innerorts um 43 km/h zu einer Geldbuße in Höhe von 400 € verurteilt und ein Fahrverbot von einem Monat verhängt. Mit seiner Rechtsbeschwerde rügt der Betroffene die Verletzung materiellen und formellen Rechts. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.

 Die Überprüfung des Urteils hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Betroffenen ergeben. Der Erörterung bedarf nur Folgendes:

 1. Soweit der Verurteilte einen Verstoß gegen das faire Verfahren und eine unzulässige Beschränkung der Verteidigung rügt, weil ihm weder Token noch Passwort für die gesamte Messreihe zur Verfügung gestellt wurden, erweist sich dieser Einwand als unbegründet. Denn der Betroffene hat bereits keinen Anspruch auf Einsicht in die gesamte Messreihe. Die Verweigerung der Herausgabe nicht bei den Akten befindlicher Unterlagen und Daten berührt den Grundsatz eines fairen Verfahrens nur dann, wenn deren Relevanz für die Verteidigung des Betroffenen nicht oder jedenfalls nicht sicher abzusprechen ist (s. VfGH Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 27.10.2022 – VGH B 57/21, juris; Senat, Beschlüsse vom 27.10.2020 – 1 Owi 2 SsBs 103/20, juris Rn. 17; vom 02.06.2022 – 1 Owi 2 SsRs 19/21, juris Rn. 17). Den Daten „der gesamten Messreihe“ kommt – jedenfalls nach derzeitigem Kenntnisstand – eine potentielle Relevanz für die Verteidigung des Betroffenen gegen den ihm vorgeworfenen Geschwindigkeitsverstoß nicht zu (Senat, Beschlüsse vom 05.05.2020 – 1 OWi 2 SsBs 94/19, zfs 2020, 413, 415; vom 02.06.2022 – 1 OWi 2 SsRs 19/21, juris; vom 26.07.2022 – 1 Owi 2 SsBs 84/21, juris Rn. 7; BayObLG, Beschluss vom 04.01.2021 – 202 ObOWi 1532/20, juris Rn. 11). Die potentielle Beweisbedeutung von Informationen und Daten stellt eine Tatsachenfrage dar (BGH, Beschluss vom 30.03.2022 – 4 StR 181/21, juris Rn. 11). (vgl. bereits). Die PTB hat in ihrer öffentlich zugänglichen Stellungnahme vom 30.03.2020 plausibel und nicht auf ein bestimmtes Messgerät beschränkt erläutert, weshalb aus der Betrachtung der „gesamten Messreihe“ kein relevanter Erkenntnisgewinn zu erwarten ist (Senat, Beschlüsse vom 02.06.2022 – 1 Owi 2 SsRs 19/21, juris Rn. 19; vom 05.05.2020 – 1 Owi 2 SsBs 94/19, a.a.O.). Der Betroffene selbst trägt keine konkreten Einzelaspekte vor, die eine Relevanz der Falldatensätze der gesamten Messreihe für die Beurteilung der verfahrensgegenständlichen Messung nicht als zumindest möglich erscheinen lassen.

 2. Auch mit der Rüge, den für die konkrete Einzelmessung erforderlichen Token und das Passwort nicht erhalten zu haben, kann der Betroffene nicht durchdringen. Aus dem Recht auf ein faires Verfahren kann grundsätzlich ein Anspruch auf Zugang des Betroffenen zu nicht bei der Bußgeldakte befindlichen, aber bei der Bußgeldbehörde vorhandenen Informationen folgen (s. BVerfG, Beschlüsse vom 28.04.2021 – 2 BvR 1451/18, juris Rn. 5; vom 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18, juris Rn. 47). Diese Informationen müssen (zum Zweck der Ermittlung) entstanden und weiterhin vorhanden sein, damit sie dem Betroffenen zur Verfügung gestellt werden können (s. VerfGH Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 22.07.2022 – VGH B 30/21, juris Rn. 33; vgl. BVerfG, Beschluss vom 12.01.21983 – 2 BvR 864/81, juris Rn. 62 ff., BVerfGE 63, 45). Nach dem Rechtsbeschwerdevorbringen begehrte der Betroffene vorliegend aber gerade keine bei der Bußgeldbehörde vorhandenen Informationen, sondern um einen von dem zuständigen Eichamt erst noch zu erzeugende Daten (Token und Passwort für die einzelne Datei). Es bestand somit auch kein Anspruch darauf, dass sich die Bußgeldbehörde oder das Gericht diese Daten beschafft, um sie an den Betroffenen herauszugeben. Dem Betroffenen war es unbenommen, selbst Ermittlungen anzustellen und sich die aus seiner Sicht erforderlichen Informationen zu besorgen. Hierzu hat die Bußgeldbehörde seinem Verteidiger mehrfach genau erklärt, wohin er sich wenden müsse, um die begehrten Informationen zu erhalten. Dass und aus welchem Grund er gehindert gewesen wäre, diese einzuholen, trägt der Betroffene nicht vor.

OLG Zweibrücken Beschl. v. 1.3.2023 – 1 OWi 2 SsBs 49/22, BeckRS 2023, 6312 

 

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3 Kommentare

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Solche Beschlüsse ergeben sich, wenn die obergerichtliche Rechtsprechung das Verfassungsgericht ignoriert und es zudem an technischen Grundlagenkenntnissen fehlt.

Das BVerfG hat sich nämlich nicht nur allgemein zu dem Anspruch der Betroffenen auf Zugang zu Informationen geäußert, in der Sache 2 BvR 277/19 auch konkret zu Messdaten, die einem Betroffenen demnach zur verfügung zu stellen sind.

Die Unkenntnis oder bewusste Missachtung des Beschlusses ist meiner Sicht ebensowenig nachzuvollziehen wie die technische Unkenntnis, die aus dem Urteil spricht.

So lässt sich anhand von konketen Beispielen eindeutig und auch für OLG-Richter und -Richerinnen verständlich zeigen, dass die zitierte Aussage der PTB schlicht falsch ist. Eine Messreihe kann nämlich nicht nur einen Beitrag im Hinblick auf die Bewertung einer Einzelmesung liefern, sie wird bei Poliscan sogar zwangsläufig benötigt, da ohne sie unzulässige Bedienhandlungen in zeitlicher Nähe zur Messung nicht ausgeschlossen werden können.

Die Behauptung, bei dem vom Betroffenen angeforderten Token mit Password handele es um bei den Eichbehörden "noch zu erzeugende"  Daten, ist ebenfalls falsch. Da die Eichbehörde als TrustCenter fungiert, m u s s der dort hinterlegte Token Bit für Bit dem von Gerätebetreiber genutzten entsprechen. Es gibt dementsprechend auch keinen "Gutachter-Token", von dem man immer wieder liest.

Und da die OLG-Richter und _Richterinnen sich die Frage stellen, aus welchem Grund ein Betroffener gehindert sein könnte, einen Token bei den Eichbehörden anzufordern, hier noch eine Erläuterung: Rechtsschutzversicherungen zahlen zwar ein Gutachten zur Überprüfung einer Messung, nicht aber evtl. Nebenkosten.

Die Eichbehörden stellen für die - eine gepflegte Datenbank vorausgesetzt - maximal zwei Minuten dauernde Übermittlung des Tokens mit Password (zwei winzige Dateien) deutlich mehr als 100 EUR in Rechnung. Ein Stundensatz von 3000 EUR für eine Tätigkeit, die jede Bürokraft mit grundlegenden PC-Fähigkeiten erledigen kann, scheint für OLG-Richter und -Richterinnen also in Ordnung zu sein.

Für Bezirksrevisoren aber nicht. So ist ein Fall bekannt, wo der Bezirksrevisor beim LG Saarbrücken die Erstattung der Gebühr der Eichbehörden in einem OWI-Verfahren über 5 EUR hinaus abgeleht hat, weil das JVEG für die Übermittlung einer digitalen Datei nun einmal maximal diese 5 EUR vorsieht.

Der Token liegt beim Gerätebetreiber in identischer Form vor wie beim Eichamt oder könnte es zumindest,  wenn die Gerätebetreiber mit mehreren Messgeräten die Token nicht nur in einem Universaltoken zusammengefassen, sondern auch die Einzeltoken vorhalten würden. Aus welchem Gund  sollte es daher sinnvoll sein, den Token zu objektiv vollkommen ungemessene Kosten bei der Eichbehörde anzufordern?

Man sieht in solchen Fällen immer wieder, dass Juristen in OWI-Sachen im Zusammenhang mit Geschwindigkeitsmessungen keine sinnvollen Beschlüsse fassen können, wenn sie technisch schlecht bzw. einseitig informiert sind oder auch nur kein Interesse an technischen Zusammen hängen haben. Und das ist - wie dieser Beschluss mal wieder eindrucksvoll zeigt - leider die Regel.

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Es gibt glücklicherweise auch Juristen, die bereit sind, bei ihrer Bewertung auch technische Aspekte zu berückichtigen und nicht blind PTB-Stellungnahmen widerkäuen, egal wie unsinnig die auch sein mögen.

So begründet z.B das OLG Düsseldorf (OLG Düsseldorf, Anerkenntnisurteil vom 14.07.2022 - 3 RBs 82/22) das Erfordernis der Einsichtnahme in die gesamte Messreihe wie folgt:

"Es besteht jedenfalls die Möglichkeit, dass aus der Messreihe insgesamt Entlastungsmomente
abgeleitet werden können und eine potentielle Beweiserheblichkeit kann danach nicht von vornherein verneint werden.
Das Einsichtsrecht in verfahrensfremde Messdaten lässt sich auch nicht wegen entgegenstehender Interessen der betreffenden
Verkehrsteilnehmer ablehnen, denn der Eingriff in deren Persönlichkeitsrecht ist unter den gegebenen Umständen als recht
geringfügig und den Rechten des Betroffenen nachrangig anzusehen."

Jeder Sachverständige kann einige Beispiele nennen, aus denen sich auch für vollkommene Laien sofort ergibt, wie blödsinnig die PTB-Stellungnahme ist, nach der eine Messreihe gar nichts zur Bewertung einer Einzelmessung aussagen kann.

So ist z.B. bei Poliscan nicht prüfbar, ob eine Messung überhaupt verwertbar ist, wenn nicht die beiden Messungen davor und danach betrachtet werden. Ergibt sich aus denen nämlich eine nicht dokumentierte Bedienhandlung, darf die Messung lt. PTB nicht verwendet werden. Und wenn sich aus der gesamten Messreihe eine nicht dokumetierte Bedienhandlung ergibt, handelt es sich zumindest nicht um ein standardisiertes Messverfahren. 

Diese Sachverhalte sollten eigentlich allen Juristen baknnt sein, die sich mit der Verkehrsüberwachung beschäftigen. Daher haben haben auch die OLG Jena (Beschl. v. 17.03.2021,– 1 OLG 331 SsBs 23/20) und Stuttgart (Beschl. v. 03.08.2021, – 4 Rb 12 Ss 1094/20) das Einsichtsrecht in die Messreihe bejaht.

"Einhellig" ist die Ablehnung also glücklicherweise nicht.

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