Koks auf dem Oktoberfest - EGMR erlaubt BILD die Berichterstattung unter Namensnennung
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Das Thema "Berichterstattung über Ermittlungsverfahren" hat uns in den vergangenen Jahren schon mehrfach hier im Blog beschäftigt.
Nun ist das Thema wieder auf der Tagesordnung, die Große Kammer des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat in einem 12 zu 5 judgment in Entscheidungen des LG und OLG Hamburg gegen die Berichterstattung der BILD eine Verletzung des Art. 10 EMRK gesehen und Deutschland verurteilt.
Hintergrund war die Berichterstatung über einen TV-Schauspieler, den Polizisten in der Nähe der Toiletten eines Promi-Zelts auf der Wiesn mit verdächtigen Handbewegungen an seiner Nase fummeln sahen. Die Überprüfung ergab die Bestätigung des Verdachts, dass dieser Mann eine Nase Kokain geschnupft hatte. Ein Polizist bestätigte dies vor Ort dem BILD-Reporter, der sich zusätzlich vom Sprecher der Münchener Staatsanwaltschaft bestätigen ließ, dass es sich beim Verdächtigen um einen Serien-TV-Kommissar handle.
Gegen die daraufhin erschienenen Artikel über das Ermittlungsverfahren (mit vollst. Namensnennung und Fotos) setzte sich der Betroffene in Hamburg erfolgreich zur Wehr.
Der Axel-Springer-Verlag klagte dagegen vor dem EGMR und bekam jetzt Recht: Die Abwägung zwischen Rechten der Privatsphäre/Persönlichkeitsrecht und Berichterstattung über Strafverfahren gegen Prominente sei von den Hamburger Gerichten unzutreffend erfolgt.
Ein maßgeblicher - in Hamburg als nicht ausschlaggebend angesehener, vom EGMR aber herausgehobener Umstand - war die Bestätigung der Tatsache durch die Presseabteilung der Münchener Staatsanwaltschaft. Ein mittelbar zu ziehendes Fazit: Die BILD konnte nach der Bestätigung durch den Pressesprecher davon ausgehen, dass sie darüber auch berichten durfte. Damit ist auch das Thema unmittelbar berührt, das ich schon mehrfach zum Gegenstand von Aufsätzen und Vorträgen gemacht habe: Die Öffentlichkeitsarbeit durch Strafverfolgungsbehörden in Ermittlungsverfahren. Bislang gibt es keine gesetzliche Grundlage, die klar regelt, ob und welche Informationen die Staatsanwaltschaft bzw. die Polizei herausgeben darf. Bislang wird meistens ein "Auskunftsanspruch" der Presse aus den Landespressegesetzen bemüht, der aber viel zu global ist und auf die Besonderheiten im Strafverfahren nicht eingeht. Zudem berief man sich seitens der Behörden (bislang) erfolgreich darauf, dass die Redakteure vor der Veröffentlichung dieselbe Prüfpflicht treffe, ob sie etwas veröffentlichen dürfen oder nicht. Anders der EGMR:
In the Court’s opinion, there is nothing to suggest that such a balancing exercise was not undertaken. The fact is, however, that having regard to the nature of the offence committed by X, the degree to which X is well known to the public, the circumstances of his arrest and the veracity of the information in question, the applicant company – having obtained confirmation of that information from the prosecuting authorities themselves – did not have sufficiently strong grounds for believing that it should preserve X’s anonymity. In that context, it should also be pointed out that all the information revealed by the applicant company on the day on which the first article appeared was confirmed by the prosecutor W. to other magazines and to television channels.
Wenn Journalisten also die Information von den Strafverfolgern selbst erhalten, dann gibt es regelmäßig keinen Grund mehr für sie, die Privatsphäre durch Anonymisierung zu schützen.
Der EGMR gibt damit sozusagen den "schwarzen Peter" an die Staatsanwaltschaften zurück. Schon um die Pressesprecher zu schützen, aber mehr noch, die nur Verdächtigen in einem Ermittlungsverfahren, sollte dies Anlass sein, die Öffentlichkeitsarbeit in Strafverfahren jetzt klar gesetzlich zu regeln - und dies meines Erachtens möglichst restriktiv.
Ausführliche Besprechung auch hier: e-comm
Kritisch zur Entscheidung: Internet-Law