Gefängnisskandal in Sachsen – Ist der Wohngruppenvollzug dafür verantwortlich?

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 08.07.2009

Durch die jetzt bekannt gewordenen Vorfälle in der modernen Jugendstrafanstalt Regis-Breitingen (Quelle) ist der Wohngruppenvollzug in die Diskussion gekommen. Wohngruppenvollzug bedeutet in der modernen Anstalt, dass die Gefangenen (neben ihrer Unterbringung in – möglichst – Einzelhafträumen) während des Tages wie in einer WG zusammenleben, also Teile ihrer Freizeit miteinander in der Wohngruppe verbringen, gemeinsames Essen, Spielen, Fernsehen in einem Gemeinschaftsraum. Die Gruppen sind jeweils 10 bis 12 Personen groß und sie werden – möglichst – von für eine bestimmte Gruppe zuständigen Vollzugsbeamten betreut und beaufsichtigt. Der Wohngruppenvollzug ist in Deutschland keineswegs neu, er wird in baulich dazu geeigneten Anstalten seit ca. 30 Jahren praktiziert.

In der betr. sächsischen Anstalt wurde zusätzlich ein relativ freier Umschluss (von 8.30 bis 21.30 Uhr) durchgeführt, d.h. die Gefangenen konnten sich über mehrere Abteilungen hinweg frei bewegen, in jedem Stockwerk war dann nur ein Aufsichtsbeamter für die Sicherheit zuständig (Quelle).

Der Wohngruppenvollzug hat anerkannte Vorteile, denn die Alternative ist der Einschluss während der gesamten Freizeit, was erzieherisch ebenfalls große Nachteile mit sich bringt. Der Kriminologe Christian Pfeiffer dazu in einem Telepolis-Interview letztes Jahr: „Nur isoliert sein und einmal in der Woche Hofgang haben, das bringt die Leute in die innere Verzweiflung, weil sie keine Ansprache mehr haben. Das einzige Kommunikationsmittel ist dann die Einbahnstraße des Fernsehers in der Zelle, dem man passiv zuhört. Zwischendurch auch mal Skat oder Schach spielen zu können oder über Sorgen und Probleme zu reden, ist wichtig. Und nicht alle Mitgefangenen sind ja gleich potentielle Gewalttäter.“(Quelle)

Aber der Wohngruppenvollzug bringt auch die Probleme mit sich, die jetzt in Sachsen bestätigt wurden. Dies ist seit längerer Zeit bekannt. So kritisierte das niedersächsische Justizministerium 2004 die Befürwortung des Wohngruppenvollzugs durch die Rot-Grüne Bundesregierung. Es habe sich in den vergangenen 30 Jahren gezeigt, dass das Wohngruppenkonzept nur dann funktioniere, wenn es über die Maßen personalintensiv geführt wird. Solange sich die Gefangenen in der Wohngruppe frei bewegen können, sei eine enge Beaufsichtigung nötig, um schwächere Gruppenmitglieder vor Schikanen und Quälereien zu schützen. "Unsere Erfahrungen mit dem Wohngruppenvollzug haben gezeigt, dass bei einer Wohngruppe ein besonders intensiver Personaleinsatz erforderlich ist, um den gewünschten erzieherischen Erfolg bewirken zu können." (Quelle)

Der sächsische Justizminister Mackenroth betonte nunmehr zum aktuellen Fall, dieser sei "nicht auf Personalmangel zurückzuführen" (Quelle) Dazu passt allerdings nicht ganz, dass man nach dem Vorfall, an dem offenbar beinahe eine ganze Wohngruppe beteiligt war, den Personalschlüssel in der Anstalt erhöht hat, so dass ein Justizbeamter mittlerweile nur noch für zwölf Insassen zuständig ist. (Quelle)

Die Betreuung durch einen festen Vollzugsbeamten, der für „seine“ Wohngruppe zuständig ist, ist allerdings schon seit langem „state of the art“, weshalb mich wundert, dass dies in der betr. Anstalt bislang nicht befolgt wurde, obwohl doch kein Personalmangel herrschte. Ein Schutz schwächerer Gefangenen vor Angriffen anderer ist zudem kaum effektiv möglich, wenn man die Gefangenen sich über mehrere Stockwerke hinweg frei bewegen lässt. Dass hiermit eine Subkulturbildung eher gefördert als behindert wird, ist nicht fernliegend.

Pfeiffer (im oben verlinkten Interview aus dem vergangenen Jahr): „Das Entscheidende ist, ob eine Wohngruppe pädagogisch gut betreut ist - ob das Anstaltspersonal mit dabei ist, wenn Zellenaufschluss herrscht. Und da mangelt es oft. Gegen den Wohngruppenvollzug habe ich nichts - aber ich bin sehr wohl dagegen, dass die Jugendlichen bei Zellenaufschluss sich selbst überlassen bleiben“

Ich denke, angesichts der bekannt gewordenen Vorfälle ist dem zuzustimmen.

P.S.: Nunmehr sollen sich auch Vollzugsbeamte an fragwürdigen Methoden beteiligt haben (Quelle)

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2 Kommentare

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Sehr geehrter Herr Bothge,

vielen Dank für Ihren Beitrag - ich vermute, Sie sind der Sache fachlich nicht ganz fern. Ihrer Annahme, das Zusammensperren von (nicht selten wegen Gewaltdelikten) Verurteilten  werde kaum von allein dazu führen, dass Gewalttätigkeiten aufhören, sondern im Gegenteil seien die Anstalten prädestiniert dazu, Gewalt zu produzieren, wenn nicht gezielt gegengesteuert werde, stimme ich zu.

Man hatte halt in der Vergangenheit gehofft bzw. es wurde vertreten, der Wohngruppenvollzug sei eine effektive Maßnahme der Deeskalation, deshalb meine Fokussierung auf diesen Zusammenhang. Im übrigen sind wir uns einig.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass Herr Pfeiffer nicht weiß, dass es eine (auch eingehaltene) Pflicht zum täglichen Aufenthalt im Freien gibt. Möglicherweise liegt hier ein Übertragungsfehler im Interview vor.

Beste Grüße

Henning Ernst Müller

Herr Mühlbauer nimmt sich auf telepolis des hier besprochenen Themas an, er hält aber offenbar Wohngruppenvollzug und "Umschluss" für die gleiche Sache und nennt das ganze vorurteilsbehaftet "Sozialpädagogische Menschenrechtsverletzungen". Er will seine Ansicht (= linke sozialpädagogische Spinner sind mit ihrem 70er Jahre Wohngruppenvollzug für die Gewalttaten verantwortlich) auf eine in der Tat wichtige Studie stützen, deren Inhalt er meines Erachtens aber verzerrend darstellt. Im fazit der (im unterschied zur Darstellung Mühlbauers) sehr differenzierten Studie heißt es u.a.:

In all diesen Schlussfolgerungen klingt ein „Ja, aber …“ an und genau deshalb sollten die zu
ziehenden Konsequenzen auch immer ein „Sowohl … als auch“ beinhalten: Erweiterte Möglichkeiten
einer Einzel- oder Wohngruppenunterbringung, aber auch des offenen Vollzuges
sollten genutzt werden, wo immer es möglich und vertretbar ist, aber gleichzeitig muss die
systematische Identifizierung von Gewalttätern verbessert und ihre konsequente Trennung
von Gefangenen betrieben werden, die bislang nicht mit Gewaltdelikten straffällig geworden
sind bzw. die nicht als gewaltbereit gelten..

 

 

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