Polizeistatistik 2010 - erheblicher Rückgang der Gewaltdelikte

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 20.05.2011

Soeben wurden auf der Internetseite des BKA die Zeitreihen der polizeilich registrierten Straftaten der PKS 2010 veröffentlicht. (Kurzbericht hier; Zeitreihen nach Straftatenschlüsseln hier) Bundesinnenminister Friedrich hat die PKS 2010 in einer Pressekonferenz vorgestellt. Die polizeiliche Kriminalstatistik ist keine Statistik zur Kriminalität, sondern eine Statistik zur polizeilichen Befassung mit Straftaten. Da die Registrierung von Straftaten fast nur durch Anzeigenerstattung erfolgt, gibt die Statistik in ihren Grundzahlen primär wieder, welche Delikte im vergangenen Jahr der Polizei angezeigt wurden, kieneswegs also die tatsächliche Kriminalität. Zudem ist aufgezeichnet, in welchen Fällen Tatverdächtige bekannt wurden und einige ihrer  Personendaten (v.a. Alter, Geschlecht, Nationalität). Entweder wurden die Tatverdächtigen bei der Strafanzeige gleich "mitgeliefert", wie typischerweise etwa beim Ladendiebstahl, oder die Polizei hat sie ermittelt. Aus dem Anteil der Fälle mit Tatverdächtigen an allen Fällen ergibt sich die Aufklärungsquote, die wiederum gestiegen ist. Da der Anteil der angezeigten Straftaten an allen tatsächlich begangenen von Delikt zu Delikt sehr unterschiedlich ist, aber auch von Jahr zu Jahr nicht stabil bleibt, kann man insgesamt nicht davon ausgehen, dass die PKS ein realistisches Abbild der "Kriminalität" in Deutschland darstellt, dasselbe gilt auch für die Aufklärungsquote, die stark davon abhängt, bei wie vielen Delikten ein Tatverdacht schon bei Anzeigeerstattung erfolgt.

Um ein Fazit gleich vorweg zu nehmen: Die deutsche Presse berichtet in ihren Überschriften (laut google news)  fast gleichgeschaltet über einen Anstieg der Computer- und Internetkriminalität und geht damit wie üblich  an den wirklich bedeutsamen Aussagen der PKS 2010 vorbei.

In manchen Deliktsbereichen, in denen man davon ausgehen kann, dass sie zu einem hohen und relativ stabilen Anteil angezeigt werden (z.B. Raub, Wohnungseinbruch, Diebstahl von KfZ), kann sich aber in der Zeitreihe immerhin ein realistisches Abbild dahingehend ergeben, ob diese Straftaten häufiger oder weniger oft begangen wurden als zuvor, selbst wenn eben nur ein Teil der Taten bekannt werden und ein erhebliches Dunkelfeld verbleibt.

Zu diesen Deliktsbereichen gehören allerdings grds. nicht die Körperverletzungs- und Sexualdelikte, bei denen das Anzeigeverhalten mit hoher Wahrscheinlichkeit recht instabil ist, was v.a. auch von gesellschaftlichen bzw. kulturellen Veränderungen abhängt.

Dies vorausgeschickt hier ein kleiner Blick auf die Zahlen der PKS 2010.

Es setzt sich ein Trend der vergangenen Jahre fort (siehe hier), d.h. die Gesamtzahl der (angezeigten) Delikte ist weiter - im Vergleich zum Vorjahr um 2 % - gesunken. Es sind seit 1993 (erste gesamtdeutsche PKS) jetzt Tiefstwerte erreicht.

Es sind sogar 3,5 % weniger Gewaltdelikte angezeigt worden (niedrigster Wert seit 2002). Da der gesellschaftliche Trend nach wie vor eher zu einer erhöhten Anzeigebereitschaft bei Gewaltdelinquenz tendiert (Indiz dafür ist die Erhöhung der Anzeigehäufigkeit bei einfacher Körperverletzung), wage ich die Behauptung, dass die Gewaltdelinquenz  in der Realität - im Gegensatz zur medialen Darstellung - eher noch stärker zurückgegangen ist.

Der Straftatenschlüssel 222100 "Gefährliche und schwere Körperverletzung auf Straßen, Wegen und Plätzen" hatte im vorvergangenen Jahr etwas Wirbel ausgelöst. Ich hatte bemerkt, dass der damals vom BKA in den Medien verbreitete Anstieg von über 9 % auf einem Statistikfehler beruhte (Quelle). Die fehlerhaft kombinierten Zahlen  - und der 9%-Sprung von 2007 auf 2008 - sind nach wie vor in der Zeitreihe (Quelle, dort Seite 34) wiedergegeben, aber die Entwicklung seither bestätigt mich: Die Zahlen gehen zurück, in diesem Jahr um 2,3 %

Die Straßenkriminalität insgesamt (wozu z.B. auch Sachbeschädigungen an KfZ gehören), die in der Bevölkerung im allgemeinen zum Anlass der Beunruhigung des Sicherheitsgefühls herangezogen wird, ist gar um 5,8 % gesunken (im Jahr 2010 wurden jetzt 1 Million Taten weniger als 1993 angezeigt), auch hier ist nicht generell von einer Abnahme der Anzeigefreudigkeit auszugehen, aber möglicherweise von eienr abnehmenden Bereitschaft der Polizei, wegen nicht leicht aufklärbarer Delikte eine Strafanzeige aufzunehmen.

Erheblich ist auch der Rückgang der Straftatenbegehung durch Jugendliche und Heranwachsende (minus 6,9 % bzw. 4,9 %).

In der Pressekonferenz, aber v.a. in den Medien, wurden andere Werte in den Vordergrund gestellt, deren  Aussagekraft zur Entwicklung der Straftatenbegehung aber geringer ist (vgl. FAZ):

Der insgesamt  leichte Anstieg bei Betrugsdelikten ist die Fortsetzung eines allg. kulturellen Trends, wobei sich die Vermögensdelinquenz seit Jahrzehnten vom Diebstahl entfernt und zum Betrug tendiert. Das liegt u.a. daran, dass immer mehr Zahlungen ohne Bargeld  erfolgen, d.h. Bargeld als wichtigstes Diebstahlsgut nicht mehr so allgemein verbreitet ist. Entsprechend den Tatgelegenheiten  passen sich die Straftaten an. Dasselbe gilt für Internetdelinquenz, in den meisten Fällen ebenfalls Betrugsdelikte oder deren Vorbereitung. Da immer mehr Menschen im Internet einkaufen, spielen und anders kommunizieren, ist es wenig überraschend, dass auch ein größerer Teil der Delinquenz hier stattfindet und angezeigt wird. D.h. diese Straftaten reflektieren nur eine gesellschaftlich-kulturelle Entwicklung - Beispiel: Bevor es  Autos gab, gab es auch keine Kfz-Diebstähle, bzw. -Aufbrüche und auch keine Trunkenheitsfahrten. Dieser Trend wird noch eine Weile anhalten. Nach meiner Einschätzung steigt aber die Internetnutzung (nach Zeit und Verhaltensweise) sogar stärker an als die Straftatenbegehung im Netz. Auch die Entwicklung an den Geldautomaten ist - neben Kundenbequemlichkeit - zum Teil auf Effizienzstreben der Banken zurückzuführen. Früher praktizierte Kontrollen und heute (natürlich mit gewissem Aufwand) mögliche technische Präventionsmaßnahmen  werden aus wirtschaftlichen Gründen unterlassen, womit praktisch eigene teure Sicherungsmaßnahmen der Banken an die Strafverfolgungsbehörden "outgesourct" werden.

Bei den Wohnungseinbruchsfällen dagegen kann tatsächlich eine  "reale" mäßige Erhöhung wahrgenommen werden, eine bloße Veränderung des Anzeigeverhaltens ist hier unwahrscheinlich. Damit setzt sich ein Trend fort, der 2006 begonnen hat. Allerdings waren die Zahlen in der ersten Hälfte des 00er Jahrzehnts noch deutlich höher. Ein hier zu berücksichtigender Umstand ist die steigende Anzahl von Haushalten bei gleichzeitig geringerer Haushaltsgröße (Quelle): Eine Singlewohnung ist eine günstigere Tatgelegenheit, weil sie öfter als eine Familienwohnung allein steht.

 

Update (17.00 Uhr): Auf Spiegel Online (hier) wird jetzt von einer "großen Mogelpackung" gesprochen. Offenbar haben jetzt endlich auch Spiegel-Journalisten erkannt, dass sie früher die PKS immer missverstanden haben. Die PKS war ja immer schon eine fast bloße Anzeigestatistik, wurde aber früher (sofern die Vorurteile der Journalisten bestätigt wurden) immer als Aussage zur realen Kriminalität interpretiert. Jetzt, wo die PKS nicht mehr das Vorurteil "alles wird immer schlimmer und gewalttätiger" bestätigt, spricht man plötzlich von Mogelpackung. Aber Vorsicht ist angebracht: Die Zusammenhänge, die dort zwischen Polizeidichte und Statistik hergestellt werden, sind teilweise falsch dargestellt und sie beruhen zum Teil auf Aussagen von Polizisten insb. der Polizeigewerkschaften, die selbst nicht an einer realitätsgetreuen Darstellung interessiert sind. 

 

 

 

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