Wiederaufnahme im Fall Sabolic unzulässig?

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 12.11.2018
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Im Juli hatte ich hier im Blog den Fall Sabolic zum Gegenstand eines Beitrags gemacht.

Nachdem das HansOLG Hamburg den Wiederaufnahmeantrag Ende September als unzulässig verworfen hat, erwägt die Strafverteidigung nun wohl eine Verfassungsbeschwerde.

Noch einmal zum Ausgangsfall: 
Es geht um eine Frau, die in ihrer Kleingartenlaube in Hamburg durch Feuer ums Leben kam. In den Morgenstunden war das Feuer in dem Raum ausgebrochen, in dem sie sich schlafen gelegt hatte. Brandsachverständige kamen zu der Schlussfolgerung, der Brand sei gelegt worden, indem jemand Brandbeschleuniger (Spiritus) auf die Schlafende geschüttet und sie angezündet habe. Ein Bekannter der Toten, der sich in der Nacht und am frühen Morgen verdächtig verhalten hatte, wurde beschuldigt und schließlich aufgrund von Indizien wegen Mordes verurteilt. Er habe Bargeld der Toten (etwa 110 Euro) stehlen wollen und die heimtückische Tötung mit gemeingefährlichen Mitteln zur Ermöglichung dieser Tat begangen. Er wurde vom LG Hamburg wegen Mordes, Raubes mit Todesfolge und Brandstiftung mit Todesfolge zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt, die er nunmehr seit gut 13 Jahren verbüßt. (LG Hamburg 621 Ks 12/04 vom 2. Februar 2005). 

Grundlage des diesjährigen Wiederaufnahmeantrags war die zum Zeitpunkt des Urteils noch nicht verbreitete Erkenntnis, dass der Stoff 2-Butanon nicht nur in Brennspiritus enthalten ist, sondern auch beim Abbrand von Nadelhölzern auftritt. Mit einem Gutachten, das zudem eine völlig neue Beschreibung des (wahrscheinlichen) Brandablaufs ohne Brandbeschleuniger beinhaltet, wolltel die Verteidigung belegen, dass die tatgerichtliche Annahme, es liege eine Brandstiftung vor, von falschen Voraussetzungen ausging. Sowohl das LG Hamburg als auch das HansOLG verneinten jedoch die Schlüssigkeit des Wiederaufnahmeantrags. Die Erkenntnis, dass 2-Butanon auch ohne Brennspiritus auftreten könne, sei nicht erheblich.

Zitat (HansOLG Hammburg vom 27.09.2018):

„Zunächst noch nachvollziehbar stellt zwar der Sachverständige Prof. Dr. Goertz dar (Gutachten Seite 13), dass die unter anderem zur Vergällung von Ethanol bei der Verwendung als Brennspiritus verwendete Verbindung „2- Butanon" auch bei der Verbrennung von Holz als natürliches Zersetzungsprodukt auftrete. Dies belegt der Sachverständige insbesondere mit den Ergebnissen einer Dissertation von Albert Lingens aus dem Jahr 2003 (vgl. zur Quellenangabe: Gutachten Seite 43), die der Verteidiger des Verurteilten über einen Verweis im Wiedereinsetzungsantrag auch dem Senat zugänglich gemacht hat.  Für die daraus abgeleitete Folgerung des Sachverständigen, der Nachweis von Ethanol und 2-Butanon an Kleidungsresten der Verstorbenen lasse „definitiv" nicht den Schluss zu, dass die Bekleidung der Verstorbenen mit einer brennbaren Flüssigkeit in Form von Brennspiritus in Kontakt gewesen oder „gar" getränkt worden sei, bieten die Ausführungen des Sachverständigen gleichwohl keine plausible Begründung. Der Sachverständige setzt sich nicht mit der sich aufdrängenden Frage auseinander, auf welche Weise durch Verbrennung von Holz entstandenes 2-Butanon auf die Kleidung der Verstorbenen, an der die Substanz nach den Urteilsgründen nachgewiesen worden ist, geraten sein könnte.  Dessen hätte es, um eine plausible Alternativursache für den Nachweis der Substanz an Bekleidungsresten der Verstorbenen zu begründen, jedoch ersichtlich bedurft, da die Substanz 2-Butanon nach den Gründen des rechtskräftigen Urteils sowohl flüchtig als auch brennbar ist (UA BI. 40 f.). Nichts anderes ergibt sich auch aus der im Wiederaufnahmeantrag und im Gutachten in Bezug genommenen Dissertation von Lingens aus dem Jahr 2003, da·in den Versuchen von Lingens das als Produkt der Holzverbrennung entstandene 2-Butanon in gasförmigem Zustand gewonnen wurde.  Da die Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. Goertz nicht zu erklären vermögen, dass die Substanz 2-Butanon inmitten des mit hoher Temperatur brennenden Anbaus der Gartenlaube der Verstorbenen weder verbrannte noch sich verflüchtigte, sondern sich auf der Bekleidung der Verstorbenen absetzte oder anreicherte, bietet der bloße Hinweis darauf, dass die Substanz ganz allgemein auch bei der Verbrennung von Holz entstehen kann, keine die Urteilsausführungen in Frage stellende alternative Erklärung für den Nachweis von Ethanol und 2-Butanon auf Bekleidungsresten der Verstorbenen.“ 

Für den Senat wird nun die Frage, wie der Stoff 2-Butanon als Spur an die Kleidung der Toten geraten ist, zur entscheidenden: Weil sich der neue Sachverständige dazu nicht geäußert habe, soll die Schlussfolgerung des Tatgerichts, Brennspiritus als Brandbeschleuniger sei über dem Opfer ausgegossen worden, immer noch als wahrscheinlich(st)er Ablauf gültig sein. Die neue Tatsache bzw. das neue Beweismittel Sachverständiger führe nicht zur Erschütterung der das Urteil tragenden Feststellungen.  In rechtlicher Hinsicht steht dahinter auch die Frage, inwieweit die Beweiswürdigung in der Zulässigkeitsprüfung der Wiederaufnahme vorweggenommen werden soll bzw. darf. Über die Grenzziehung besteht Streit zwischen Praxis und Schrifttum. Hier im Auszug die Darstellung von Schmidt im Karlsruher Kommentar (Hervorhebungen von mir).   

„Nach der Rechtsprechung des BGH (BGHSt 17, 303, 304 = NJW 1962, 1520; NJW 1977, 59; NJW 1993, 1481, 1484) ist die Einengung auf eine abstrakte Schlüssigkeitsprüfung weder dem Gesetz zu entnehmen, noch vom Gesetzgeber gewollt. Dabei ist § 244 Abs. 3 nicht entsprechend anzuwenden (Meyer-Goßner Rn 9; aA Eisenberg JR 2007, 360, 365). Das Gericht darf die Beweiskraft der beigebrachten Beweismittel werten, soweit das ohne förmliche Beweisaufnahme möglich ist (BVerfG EuGRZ 2007, 586, 588: BGHSt 17, 303, 304; […]). Dabei ist nach hM vom Standpunkt des erkennenden Gerichts ([…] stRspr), zu prüfen, ob das Urteil bei Berücksichtigung der neuen Beweise anders ausgefallen wäre (…). Zu diesem Zweck muss das Antragsvorbringen zu dem gesamten Inhalt der Akten und zu dem früheren Beweisergebnis in Beziehung gesetzt werden (…)  Erheblich ist das Wiederaufnahmevorbringen, wenn die neuen Tatsachen oder Beweise geeignet sind, die den Schuldspruch tragenden Feststellungen des Urteils zu erschüttern (…). Der Wiederaufnahmeantrag ist demnach unzulässig, wenn die erstrebte Beweiserhebung nach dem bisherigen Erkenntnisstand als nicht Erfolg versprechend oder nutzlos erscheint. Es müssen ernste Gründe für die Beseitigung des Urteils sprechen (…)  Demgegenüber wird in der Literatur eine Vorwegnahme der Beweiswürdigung vielfach für gänzlich unzulässig (von Hentig, Wiederaufnahmerecht, S. 223; EbSchmidt Rn 1; Eisenberg JZ 2007, 360, 365; SK-Frister/Deiters § 359 Rn 61) oder doch für zu weitgehend (Günther MDR 1974, 98 ff. mwN; Peters, Fehlerquellen, Bd. 3 S. 135 und JR 1975, 167; 1977, 219 und FS Dünnebier, 1982, S. 71 ff.; von Stackelberg, Festgabe für Peters, 1984, S. 459; vgl auch OLG Köln NJW 1963, 967) gehalten. De lege ferenda wird gefordert, die entscheidende Prüfung des Wiederaufnahmeantrags erst im Begründetheitsverfahren vorzunehmen (Peters, Fehlerquellen, Bd. 3 S. 134f) und im Zulässigkeitsverfahren die Möglichkeit einer reformatio in melius ausreichen zu lassen (J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 111f).  Das geltende Recht verlangt aber bewusst die – nicht nur abstrakte – Geeignetheit des Beweismittels. Der Gesetzgeber wollte damit den Gerichten das Begründetheitsverfahren bei offenkundig erfolglosen Wiederaufnahmeanträgen ersparen und so beispielsweise Zeugen, denen keine Glaubwürdigkeit zugemessen werden kann, bereits hier als geeignete Beweismittel ausschließen (vgl zur Entstehungsgeschichte Günther MDR 1974, 93, 96); er hat deshalb für den Beschluss nach § 370 nur auf die Bestätigung der aufgestellten Behauptung abgestellt und somit für die Zulässigkeit keine leichteren Voraussetzungen als für die Begründetheit des Wiederaufnahmeantrags geschaffen (Peters, Fehlerquellen, Bd. 3, S. 84). Daher rechtfertigen nur solche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils, die nicht nur „theoretisch“ (Bottke NStZ 1981, 135, 137), sondern konkret und „vernünftig“ (Schöneborn, Strafprozessuale Wiederaufnahmeproblematik, S. 198) sind, die Zulassung des Wiederaufnahmeantrags. Die behaupteten – und als richtig zu unterstellenden – Tatsachen müssen in die Urteilsgründe gedanklich eingefügt werden (KG JR 1975, 166 m. Anm. Peters; Günther MDR 1974, 96); werden dadurch die den Schuldspruch tragenden tatsächlichen Feststellungen ernstlich erschüttert, so ist die Wiederaufnahme zuzulassen (…)“

Die Verteidigung hat (mit Unterstützung des Sachverständigen) geantwortet, es sei mit einfachen Physik-Kenntnissen erklärbar, wie eine Spur des Stoffs 2-Butanon an die Kleidung des Brandopfers gelangt sei.
Der Brandsachverständige:

„Die Betroffene hat während eines Flash-Over, selbst brennend oder in Brand geratend, ihre vollständig aus Holz bestehende, durchzündende Gartenlaube verlassen. Diese Brandraum-Atmosphäre enthält eine Vielzahl chemischer Substanzen, und in ihr laufen unübersehbar viele chemische Reaktionen ab. Die Betroffene hat diese von chemischen Zersetzungsprodukten geradezu gesättigte Atmosphäre durchschritten. Es ist eine triviale Selbstverständlichkeit, dass beim Aufenthalt in einer solchen Atmosphäre diese Substanzen auch auf die Oberfläche des Körpers gelangen und anschließend als Spuren analytisch nachgewiesen werden können. Das liegt u. a. auch daran, dass der menschliche Körper deutlich kühler ist, als die Brandraumatmosphäre, und dass Substanzen auf der Körperoberfläche auskondensieren.“  

Die Verteidigung:

„Die weitere Argumentation folgt unmittelbar dieser sinnberaubten Eingangsüberlegung, der Sachverständige hätte nicht erklärt, wie es zur Antragung von Spuren des 2-Butanons auf der Kleidung der Frau Schmadtke gekommen sei. Fast alles, was das Oberlandesgericht sonst auf den weiteren 16 Seiten seines Beschlusses als angebliche Plausibilitätsmängel ausbreitet, hätte sich bei einer Befragung des Sachverständigen unschwer auflösen lassen. Eine solche Befragung – im Probationsverfahren oder gar in einer erneuerten Hauptverhandlung – war aber nicht erwünscht.“

Insbesondere wenn man die Perspektive des Ausgangsgerichts einbezieht, lässt sich die Auffassung des HansOLG kaum vertreten: Bis 2005 galt es tatsächlich als ausgemacht, dass (u.a.) der Stoff 2-Butanon, am Brandort gefunden, ein deutlicher Hinweis auf Brandbeschleuniger und damit auf Brandstiftung sei. Erst nach dem Skandal um das LKA Berlin und den Fall Montgazon hat man sich eines anderen besonnen. Hineinversetzt in die Beweiswürdigung des LG Hamburg vor 13 Jahren lag zwar auf der Hand, dass der Tatverdächtige aufgrund der Indizien als einziger für eine Brandstiftung in Frage kam. Aber dies hatte natürlich zur Voraussetzung, dass eine Brandstiftung überhaupt (zweifelsfrei) vorlag. Wenn nun 2005 schon bekannt gewesen wäre, dass 2-Butanon eben nicht nur in Brennspiritus, sondern auch beim Abbrand von Nadelholz auftritt, wäre die Frage, ob eine Brandstiftung vorlag, mit hoher Wahrscheinlichkeit ganz anders beantwortet worden. Da es um das zentrale Beweismittel für eine Brandstiftung geht, kann man durchaus von einer "Erschütterung" der tatgerichtlichen Feststellungen ausgehen.

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51 Kommentare

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Gibt ja auch nur ein einziges BVerfG hier, da muss es sich schon etwas zurückhalten, bevor er die Richter dort als juristische Deppen hinstellt.

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