Corona-bedingte Verfahrensverzögerungen und Untersuchungshaft – Blick auf die jüngste oberlandesgerichtliche Rechtsprechung

von Markus Meißner, veröffentlicht am 22.04.2020
Rechtsgebiete: StrafrechtStrafverfahrensrechtCorona|4977 Aufrufe

In den letzten Wochen hatten sich mehrere Oberlandesgerichte im Rahmen des besonderen Haftprüfungsverfahren gem. §§ 121, 122 StPO mit der Frage zu befassen, ob eine Verfahrensverzögerung aufgrund der aktuellen Corona-Pandemie einen „wichtigen Grund“ i.S.d. § 121 Abs. 1 StPO darstellt, der die Verlängerung der Untersuchungshaft rechtfertigt (OLG Jena, Beschl. v. 08.04.2020 – 1 Ws 110/20; OLG Stuttgart, Beschl. v. 06.04.2020 – H 4 Ws 71/20, BeckRS 2020, 5974; OLG Stuttgart, Beschl. v. 06.04.2020 – H 4 Ws 72/20, BeckRS 2020, 5689; OLG Naumburg, Beschl. v. 30.03.2020 – 1 Ws HE 4/20; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 30.03.2020 – HEs 1 Ws 84/20, BeckRS 2020, 4623). Bei allen genannten Entscheidungen handelte es sich um die erste oberlandesgerichtliche Haftprüfung gem. §§ 121, 122 StPO („6-Monats-Vorlage“). So unterschiedlich die Gründe für die Aussetzung[1] der jeweiligen Hauptverhandlung waren[2], desto einheitlicher war der „Tenor“ der unterschiedlichen Oberlandesgerichte.

Die aktuelle COVID-19-Pandemie kann die Aussetzung einer begonnenen Hauptverhandlung in einer Haftsache und die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen

In dem Beschluss des OLG Stuttgart vom 06.04.2020 (H 4 Ws 72/20), der wiederum auf die Entscheidung des OLG Karlsruhe vom 30.03.2020 Bezug nimmt, heißt es in diesem Zusammenhang (a.a.O., Rn. 19):

„Nicht behebbare unabwendbare Schwierigkeiten oder unvorhersehbare Zufälle und schicksalhafte Ereignisse, wie etwa die krankheitsbedingte, zur Aussetzung der Hauptverhandlung zwingende Verhinderung unentbehrlicher Verfahrensbeteiligter stellen einen wichtigen Grund im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO dar (vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 30. März 2020 - HEs 1 Ws 84/20 - juris unter Hinweis auf BVerfG, Beschluss vom 12. Dezember 1973 – 2 BvR 558/73 –, BVerfGE 36, 264). Auch die Erkrankung eines Verfahrensbeteiligten mit einer hochansteckenden Krankheit, die an sich keinen Hinderungsgrund darstellt, aber eine erhebliche Gefährdung anderer in sich birgt, kann einen solchen Grund darstellen (vgl. OLG Hamburg, Beschluss vom 20. November 2015 – 1 Ws 148/15 –, juris). In Anbetracht der zwischenzeitlich als nachgewiesen anzusehenden hohen Ansteckungsgefahr, der vermutlich hohen Anzahl unentdeckter Infektionen und des derzeit noch nicht abschließend einschätzbaren Ausmaßes schwerer bis tödlicher Krankheitsverläufe kann ein solcher wichtiger Grund deshalb auch in der aktuell rapide fortschreitenden COVID-19-Pandemie bestehen, wenn sich das Gericht – wie hier – nicht in der Lage sieht, das Ansteckungsrisiko der Verfahrensbeteiligten, der Bediensteten des Gerichts, der Sicherheitsbeamten und des Publikums im Einklang mit den Vorschriften über das Verfahren, namentlich der zur Sicherung der Verteidigungsrechte und zur Gewährleistung der Öffentlichkeit der Hauptverhandlung, auf ein vertretbares Maß zu reduzieren (vgl. OLG Karlsruhe, aaO). Dem zur Entscheidung berufenen Spruchkörper steht bei der Einschätzung, ob und welche Maßnahmen zur Senkung des Ansteckungsrisikos geeignet und zumutbar sind, ein – vom Senat nur eingeschränkt überprüfbarer– Beurteilungsspielraum zu (OLG Karlsruhe, aaO).“

 

Jedoch: Erhöhte Anforderungen an die Tatgerichte mit Blick auf den weiteren Verfahrensablauf

Ausschlaggebend dafür, dass in den konkreten Entscheidungen die Haftfortdauer als „noch verhältnismäßig“[3] bzw. die Schwelle zu einer nicht hinnehmbaren Verfahrensverzögerung als „noch nicht überschritten“[4] angesehen wurde, war sicherlich auch der Umstand, dass die Tatgerichte zum Zeitpunkt der oberlandesgerichtlichen Entscheidung überwiegend bereits neue Hauptverhandlungstermine bestimmt hatten.

Die jeweiligen Haftsenate machten weiterhin deutlich, dass  - ungeachtet der getroffenen Haftfortdauerentscheidung – angesichts der zunehmenden Bedeutung des Freiheitsanspruchs des Angeklagten zukünftig

„strengere Anforderungen an die zur Sicherung ergreifenden Maßnahmen zu stellen sein“ werden, „um das Infektionsrisiko während und im unmittelbaren Umfeld der Verhandlung auf ein vertretbares Maß zu senken []

Jedenfalls sind die Anstrengungen und die der Durchführung entgegenstehenden Gründe zu dokumentieren, um die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Fortdauer der Untersuchungshaft im Hinblick auf § 121 Abs. 1 und 2 StPO sowie dem allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu ermöglichen“[5]

Das OLG Braunschweig hob im Rahmen einer Beschwerdeentscheidung vom 25.03.2020 (1 Ws 47/20) einen amtsgerichtlichen Haftbefehl sowie den landgerichtlichen Haftfortdauerbeschluss auf und führte in seiner Begründung zu den Begründungsanforderungen an einen tatgerichtlichen Aussetzungsbeschluss u.a. aus (a.a.O.)[6]:

„Die Aussetzung der Hauptverhandlung in einer (Über-)Haftsache "zum Schutz vor der Ausbreitung des Corona-Virus“ ist jedenfalls dann nicht gerechtfertigt, wenn sie ohne jegliche Begründung ergeht und der erneute Verhandlungsbeginn ungewiss ist. Der Schutz der Gesundheit der Verfahrensbeteiligten und Dritter kann gegenüber dem Recht des Angeklagten auf Aburteilung binnen angemessener Frist vielmehr nur dann überwiegen, wenn die Aussetzung der Hauptverhandlung tatsächlich erforderlich ist, weil ihre Fortführung auch unter Schutzvorkehrungen nicht verantwortbar wäre."

 

„Katalog“ möglicher Schutzmaßnahmen

Insbesondere die Anordnung folgender Maßnahmen sei von den Tatgerichten in Betracht zu ziehen, um die Durchführung der Hauptverhandlung zu sichern:

  • Beschränkung des Publikums auf ein gesetzlich zulässiges Maß[7]
  • Sicherstellung eines ausreichenden Abstandes zwischen den Verfahrensbeteiligten[8]
  • Tragen von Schutzkleidung für Wachtmeister[9]
  • Zulassung der Tonübertragung in einem Arbeitsraum für Pressevertreter gemäß § 169 Abs. 1 S. 3 GVG[10]
  • Verlegung der Hauptverhandlung in einen anderen Sitzungssaal, ggfs. sogar außerhalb des Gerichtsgebäudes[11]
  • Bestellung eines anderen Verteidigers, wenn allein noch das Gesundheitsrisiko des bisherigen Pflichtverteidigers einem dem Beschleunigungsgebot entsprechenden Verfahrensfortgang entgegenstehen sollte[12]

Eine Erweiterung dieses „Katalogs“ um die beispielsweise die „Anordnung des Tragens eines Mundschutzes im Sitzungssaal“ oder aber die Anbringung baulicher Vorrichtungen, die eine Ansteckung durch Tröpfcheninfektion verhindern sollen („Plexiglasscheiben“) lässt sich ohne weiteres vorstellen.

 

Blick aus der Verteidigerperspektive …

Will der Verteidiger sich im Rahmen einer Haftbeschwerde oder im besonderen Haftprüfungsverfahren gem. §§ 121, 122 StPO nach einer „Corona-bedingten“ Aussetzung der Hauptverhandlung gegen die Fortdauer der Untersuchungshaft zur Wehr setzen, empfiehlt es sich zum einen, den Fokus auf die „Begründungstiefe“ der tatgerichtlichen Aussetzungsentscheidung zu legen (Hat das Gericht tatsächlich alle Schutzvorkehrungen bedacht, unter denen eine Fortführung der Hauptverhandlung verantwortbar gewesen wäre?). Zum anderen kann es auch sinnvoll sein, zu problematisieren, wenn das Tatgericht in unmittelbaren Zusammenhang mit der Aussetzung der Hauptverhandlung keine konkrete Termine für einen Neubeginn der Hauptverhandlung anberaumt hat.

Angesichts der mit Zeitablauf stetig zunehmenden Bedeutung des Beschleunigungsgrundsatzes sowie der sich aktuell nahezu wöchentlich ändernden Einschätzung der gesundheitlichen Lage kann es sich im Einzelfall zudem empfehlen, eine Verkürzung der Frist des § 122 Abs. 3 S. 3 StPO zu beantragen. Eine solche hätte zur Folge, dass sich das Oberlandesgericht im Rahmen der (weiteren) besonderen Haftprüfung gem. § 122 Abs. 4 StPO nicht erst nach drei Monaten, sondern bereits zu einem früheren Zeitpunkt wieder mit der Frage der Fortdauer der Untersuchungshaft beschäftigen muss und prüfen kann, ob das Tatgericht zwischenzeitlich alles zur Verfahrensförderung erforderliche unternommen hat.

 

[1] Die vom Gesetzgeber geschaffene und zum 28.03.2020 in Kraft getretene rechtliche Möglichkeit einer Unterbrechung der Hauptverhandlung gem. § 10 Abs. 1 EGStPO i.V.m. § 229 StPO bestand zum Zeitpunkt der Entscheidungen über die Aussetzung noch nicht.

[2] z. B. OLG Stuttgart, 06.04.2020, H 4 Ws 71/20 (vom Dienstherrn angeordnete Quarantäne eines Beisitzers); OLG Stuttgart, 06.04.2020, H 4 Ws 72/20 (Pflichtverteidiger, der zu einer Risikogruppe lt. dem RKI gehörte); OLG Karlsruhe, 30.03.2020, HEs 1 Ws 84/20 (Einschätzung der Strafkammer, dass ein Schutz der Verfahrensbeteiligten sowie Zuhörer im Sitzungssaal vor einer Infektion nicht gewährleistet sei)

[3] OLG Stuttgart, H 4 Ws 72/20, Rn. 21

[4] OLG Stuttgart, H 4 Ws 71/20, Rn. 30

[5] OLG Stuttgart, H 4 Ws 71/20, Rn. 32

[6] vgl. zu dieser Entscheidung auch den Beitrag des Kollegen Patzak hier im Blog vom 16.04.2020

[7] OLG Stuttgart, 06.04.2020, H 4 Ws 71/20; OLG Stuttgart, 06.04.2020, H 4 Ws 72/20; OLG Karlsruhe, 30.03.2020, HEs I Ws 84/20

[8] OLG Braunschweig, 25.03.2020, 1 Ws 47/20

[9] OLG Braunschweig, 25.03.2020, 1 Ws 47/20

[10] OLG Karlsruhe, 30.03.2020, HEs I Ws 84/20

[11] OLG Stuttgart, 06.04.2020, H 4 Ws 72/20; OLG Karlsruhe, 30.03.2020, HEs I Ws 84/20

[12] OLG Stuttgart, 06.04.2020, H 4 Ws 72/20

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