Übernahme des eröffneten AG-Verfahrens durch das LG: Muss durch ausdrücklichen Beschluss erfolgen

von Carsten Krumm, veröffentlicht am 10.12.2020
Rechtsgebiete: Verkehrsrecht|1925 Aufrufe

So etwas kommt sicher häufig vor. Das Amtsgericht bekommt nach Verfahrenseröffnung Wind davon, dass beim LG ein weiteres Verfahren anhängig ist. Manchmal wird sich da § 154 StPO anbieten. Meist wird das AG aber versuchen, sein Verfahren auch zum LG zu geben. Und die LGe nehmen diese Verfahren eigentlich immer gerne, zählen sie doch statistisch wie ein echtes landgerichtliches Strafverfahren, sind aber regelmäßig leichter zu beenden. 

Das Problem: Das LG muss einen Übernahmebeschluss erlassen, was im Eifer des Gefechts schon einmal vergessen werden kann. Konsequenz im Falle der Revision: Rückverweisung an das AG...und das darf dann die zuvor durch das LG verhängte Strafe nicht überschreiten...

 

 

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Münster vom 19. Februar 2020, soweit es ihn betrifft, mit den Feststellungen aufgehoben,
a) soweit der Angeklagte im Fall 1 der Urteilsgründe wegen
unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge verurteilt worden ist;
b) im Ausspruch über die – unter Einbeziehung der Einzelstrafen aus den Strafbefehlen des Amtsgerichts Münster
vom 26. Februar 2019 und 2. Juli 2019 nach Auflösung
der Gesamtgeldstrafe aus dem Beschluss des Amtsgerichts Münster vom 10. Oktober 2019 gebildete – Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an das Amtsgericht – Schöffengericht – Münster verwiesen.
2. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe:

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen unerlaubten Handeltreibens
mit Betäubungsmitteln in zehn Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei
Jahren und drei Monaten (Fälle 2 bis 11 der Urteilsgründe) sowie wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge unter Einbeziehung der Strafen aus zwei Vorverurteilungen nach Auflösung der insoweit gebildeten Gesamtgeldstrafe zu einer weiteren Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr
und drei Monaten verurteilt (Fall 1 der Urteilsgründe). Darüber hinaus hat es die
Einziehung aus den Vorverurteilungen aufrechterhalten und eine Einziehungsentscheidung (zu den Fällen 2 bis 11 der Urteilsgründe) getroffen. Die auf die
Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der Beschlussformel
ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2
StPO.
1. Soweit der Angeklagte im Fall 1 der Urteilsgründe wegen unerlaubten
Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge verurteilt worden ist, besteht ein von Amts wegen zu beachtendes (vgl. BGH, Beschlüsse vom 25. Mai
2011 ‒ 2 StR 106/11; vom 28. Juni 2011 ‒ 3 StR 164/11, NStZ 2012, 46; vom
14. Juli 2016 – 2 StR 514/15) Verfahrenshindernis, weil es an einem Übernahmebeschluss hinsichtlich des Verfahrens 12 Ls-260 Js 762/18-3/19 des Amtsgerichts Münster fehlt (§ 225a Abs. 3 StPO). Das Landgericht war deshalb insoweit
sachlich für die Entscheidung nicht zuständig.
a) Nachdem das Amtsgericht Münster am 28. Februar 2019 das Hauptverfahren hinsichtlich dieses Tatvorwurfs vor dem Amtsgericht – Schöffengericht – Münster eröffnet hatte, hat die Vorsitzende des Schöffengerichts am
6. Dezember 2019 die Akten dem Landgericht Münster vorgelegt und am 13. Dezember 2019 telefonisch gegenüber dem Vorsitzenden der Strafkammer die
Übernahme und Verbindung mit dem zum Landgericht angeklagten Verfahren
beantragt. Der Vorsitzende der Strafkammer hat mit Vermerk vom 13. Dezember
2019 festgehalten, dass die Strafkammer zur Übernahme des amtsgerichtlichen
Verfahrens zwecks Verbindung bereit sei. Ohne zuvor einen Übernahmebeschluss herbeizuführen, wurde das Verfahren des Amtsgerichts mit einem landgerichtlichen Aktenzeichen versehen. Sodann hat die Strafkammer mit Beschluss vom 19. Dezember 2019 das zu ihr angeklagte Verfahren eröffnet und
die beiden Verfahren unter Angabe der landgerichtlichen Aktenzeichen zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden.
b) Die Entscheidung des höheren Gerichts über die Übernahme gemäß
§ 225a StPO ergeht in der für Entscheidungen außerhalb der Hauptverhandlung
vorgeschriebenen Besetzung (vgl. BGH, Urteil vom 23. April 2015 ‒ 4 StR
603/14, NStZ-RR 2015, 250, 251 mwN). Die Form des Übernahmebeschlusses,
der den Eröffnungsbeschluss insoweit abändert, als er die Zuständigkeit des erkennenden Gerichts abweichend von diesem regelt (§ 207 Abs. 1 StPO im Verhältnis zu § 225a Abs. 3 Satz 1 StPO), richtet sich nach den für den Eröffnungsbeschluss geltenden Bestimmungen (§ 225a Abs. 3 Satz 2 StPO). Ein ordnungsgemäßer Übernahmebeschluss muss als Grundlage für das Hauptverfahren und
aus Gründen der Rechtssicherheit schriftlich abgefasst werden (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Juli 2016 – 2 StR 514/15; vgl. zum Eröffnungsbeschluss BGH,
Beschlüsse vom 3. April 2012 ‒ 2 StR 46/12, NStZ 2012, 583; vom 17. Oktober
2013 ‒ 3 StR 167/13, NStZ 2014, 400, 401; vom 14. Juli 2016 – 2 StR 514/15);
hingegen ist die Unterzeichnung eines solchen Beschlusses durch den oder die
erlassenden Richter keine Wirksamkeitsvoraussetzung (vgl. zum Eröffnungsbeschluss BGH, Beschluss vom 17. Oktober 2013 ‒ 3 StR 167/13, NStZ 2014,
400 f. mwN). Eine Übernahmeentscheidung kann in einem Verbindungsbeschluss nur dann gesehen werden, wenn das Gericht seinen Willen zur Übernahme zweifelsfrei zum Ausdruck gebracht hat (vgl. BGH, Beschluss vom
23. September 2020 ‒ 4 StR 270/20; vgl. zur Frage eines konkludenten Übernahmebeschlusses BGH, Beschluss vom 28. Juni 2011 ‒ 3 StR 164/11 mwN).
c) Diesen Anforderungen genügt das aus der Akte ersichtliche Verfahren
nicht.
aa) Der Vermerk des Vorsitzenden vom 13. Dezember 2019 stellt ‒ unbeschadet der äußeren Form und der fehlenden Unterschriften der beteiligten Richter ‒ keine hinreichend deutliche schriftliche Dokumentation des Willens der
Strafkammer dar, das Verfahren zu übernehmen. Es handelt sich um eine bloße
Absichtserklärung des Vorsitzenden, der sich nicht entnehmen lässt, dass das
Verfahren nach entsprechender Prüfung von der Strafkammer auch tatsächlich
übernommen worden ist.
bb) Auch aus oder in Verbindung mit dem von allen drei mitwirkenden
Richtern unterzeichneten Beschluss vom 19. Dezember 2019 über die Verbindung der Verfahren ist der Wille der Strafkammer, das amtsgerichtliche Verfahren zu übernehmen, nicht zweifelsfrei ersichtlich. Denn in dem Verbindungbeschluss werden beide Verfahren jeweils nur mit dem landgerichtlichen Aktenzeichen sowie dem Klammerzusatz „Landgericht Münster“ bezeichnet. Es fehlt damit an Anhaltspunkten dafür, dass sich die Strafkammer der noch ausstehenden
Übernahmeentscheidung bewusst war, weshalb auch dem Verbindungsbeschluss der Wille der Strafkammer zur Übernahme des amtsgerichtlichen Verfahrens nicht mit der erforderlichen Eindeutigkeit entnommen werden kann.
2. Die Aufhebung der Verurteilung im Fall 1 entzieht der – unter Einbeziehung der Einzelstrafen aus den Strafbefehlen des Amtsgerichts Münster vom
26. Februar 2019 und 2. Juli 2019 nach Auflösung der Gesamtgeldstrafe aus
dem Beschluss des Amtsgerichts Münster vom 10. Oktober 2019 – nachträglich
gebildeten Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten die Grundlage.
3. Die mangelnde sachliche Zuständigkeit führt – im Gegensatz zu anderen Prozesshindernissen – nicht zu einer Einstellung des Verfahrens, sondern
gemäß § 355 StPO zu einer Verweisung der Sache an das zuständige Gericht.
Der Senat verweist die Sache an das Amtsgericht – Schöffengericht – Münster,
da bei neuer Verhandlung und Entscheidung eine höhere als die ausgesprochene Gesamtfreiheitsstrafe nicht zu erwarten ist (§ 358 Abs. 2 StPO).
4. Im Übrigen hat die Prüfung des Urteils auf die Sachrüge hin keinen den
Angeklagten beschwerenden Rechtsfehler ergeben.

BGH, Beschl. v. 21.10.2020 - 4 StR 290/20

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