Tarifbindung – keine validen Statistiken

von Prof. Dr. Markus Stoffels, veröffentlicht am 20.09.2023
Rechtsgebiete: Bürgerliches RechtArbeitsrecht|1109 Aufrufe

Die Stärkung der Tarifbindung zählt zu den erklärten Zielen der regierenden Ampelkoalition. Im Koalitionsvertrag (S. 56) heißt es wörtlich: Wir wollen die Tarifautonomie, die Tarifpartner und die Tarifbindung stärken…“. Auf welchen Wegen dies geschehen soll, ist allerdings umstritten. Wichtig wären in diesem Zusammenhang vor allem belastbare Zahlen. Daran mangelt es jedoch offenbar, wie eine neue Studie des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) mit dem Titel „Die statistische Erfassung der Tarifbindung und der Tarifgeltung“ deutlich macht. Auch die FAZ hat in ihrer Ausgabe vom 19.9.2023 (S. 20) hierüber ausführlich berichtet.

Die wesentlichen Ergebnisse der Studie werden wie folgt zusammengefasst:

„• Die allgemeine Verwendung des Begriffs Tarifbindung ist in allen offiziellen Datenquellen ungenau, da damit in der Regel die Tarifgeltung gemeint ist.

• Es gibt keine amtlichen Daten zur kraft beiderseitiger Tarifbindung (Arbeitgeber und Arbeitnehmer) erzeugten Tarifgeltung nach § 3 Absatz 1 und § 4 Absatz 1 Satz 1 Tarifvertragsgesetz (originäre Tarifbindung).

• Im IAB-Betriebspanel wird nicht danach gefragt, ob eine Tarifbindung (eigentlich: Tarifgeltung) durch eine Tarifbindung im Sinne der § 3 Absatz 1 und § 4 Absatz 1 Satz 1 Tarifvertragsgesetz (originäre Tarifbindung), kraft gesetzlicher Anordnung (etwa über eine Allgemeinverbindlichkeit) oder durch eine arbeitsvertragliche Inbezugnahme des Tarifvertrags entsteht.

• Im IAB-Betriebspanel wird die Tarifbindung der Beschäftigten nicht direkt erhoben, sondern aus der Tarifbindung der Betriebe abgeleitet. Jeder Beschäftigte, der in einem tarifgebundenen Betrieb arbeitet, gilt als tarifgebunden. Damit werden auch Beschäftigte als tarifgebunden klassifiziert, die möglicherweise außertariflich entlohnt werden.

• Die monatliche Verdiensterhebung des Statistischen Bundesamts (früher: Verdienststrukturerhebung) fragt ebenfalls nicht danach, wie eine Tarifbindung (Tarifgeltung) im Einzelnen erzeugt wird. Auch hier wird die Tarifbindung der Beschäftigten aus der der Betriebe abgeleitet.

• Nach aktuell geltender Gesetzeslage soll in der Verdiensterhebung alle fünf Jahre die Tarifbindung der Beschäftigten auch auf individueller Basis und damit genauer als im IAB-Betriebspanel erfasst werden. Dadurch lassen sich außertariflich bezahlte Beschäftigte aus der Tarifbindung herausrechnen.

• Das Sozio-oekonomische Panel (SOEP) ist die einzige Datengrundlage, in der Arbeitnehmer nach ihrem Tarifbindungsstatus befragt werden. Da auch der Gewerkschaftsstatus regelmäßig abgefragt wird, lässt sich die originäre Tarifbindung näherungsweise über das SOEP berechnen. Allerdings werden die Fragen nicht in jeder Welle gestellt, sodass die Berechnungen nur unregelmäßig durchgeführt werden können. Die Abfrage im SOEP unterscheidet zudem nicht mehr nach der Art der Tarifbindung (Haus- oder Branchentarifvertrag) und sie gibt auch keine Auskunft darüber, wie groß der Anteil der mittels gesetzlicher Anordnung erreichten Tarifgeltung ausfällt.

• Die vorhandenen drei Datenquellen zur Tarifbindung führen zu deutlich abweichenden Ergebnissen, was angesichts der Unkenntnis darüber, wie eine Tarifbindung (genauer: Tarifgeltung) im Einzelnen entsteht, nicht verwunderlich ist.

• Nur Angaben aus dem IAB-Betriebspanel und aus der neuen Verdiensterhebung (laut Absichtserklärung) stehen zeitnah zur Verfügung.

• Als offene Frage bleibt, welche Normierungskraft eine Tarifbindung im Falle der Nutzung tarifvertraglicher Öffnungsklauseln hat.

• Nicht mit den existierenden Erhebungen zu klären ist, welche Normierungskraft eine Tarifbindung im Falle einer übertariflichen Bezahlung hat.“

 

Daraus werden sodann folgende Verbesserungsvorschläge abgeleitet:

„• Ziel einer empirischen Erhebung müsste sein, die originäre Tarifbindung nach § 3 Absatz 1 und § 4 Absatz 1 Satz 1 Tarifvertragsgesetz und die sonstige Tarifgeltung regelmäßig gegenüberzustellen, um die Ursachen der Erosion der Tarifbindung transparenter zu machen und zu zeigen, in welchem Aus[1]maß Tarifverträge staatlich (etwa über eine Allgemeinverbindlichkeit) erstreckt werden.

• Dazu müsste abgefragt werden, in welchem Umfang a) eine Tarifbindung (genauer: Tarifgeltung) kraft beiderseitiger Tarifbindung (originäre Tarifbindung nach § 3 Absatz 1 und § 4 Absatz 1 Satz 1 TVG), b) kraft gesetzlicher Anordnung (zum Beispiel aufgrund der Allgemeinverbindlichkeit eines Tarifvertrags nach § 5 TVG) und c) kraft arbeitsvertraglicher Inbezugnahme des Tarifvertrags im Arbeitsvertrag i. V. m. § 611a BGB entsteht. Da nicht bekannt ist, ob ein Arbeitnehmer gewerkschaftlich organisiert ist, lassen sich die originäre Tarifbindung und die Tarifgeltung kraft arbeitsvertraglicher Inbezugnahme des Tarifvertrags im Rahmen des IAB-Betriebspanels und der Verdiensterhebung nicht ermitteln. Es sollte aber zumindest nach der Tarifbindung kraft gesetzlicher Anordnung gefragt werden.

• Befragungsdaten sind zeitnah bereitzustellen.

• In Abwägung mit dem Erhebungsaufwand sollte erwogen werden, die individuelle Tarifbindung in der Verdiensterhebung in kürzeren Abständen zu erfassen.

• Im SOEP sollte die Gewerkschaftsmitgliedschaft in allen Wellen abgefragt werden, in denen auch nach der Tarifbindung gefragt wird. Ziel sollte sein, zumindest alle zwei Jahre die Tarifbindung kraft beiderseitiger Tarifbindung (originäre Tarifbindung nach § 3 Absatz 1 und § 4 Absatz 1 Satz 1 Tarifvertragsgesetz) zumindest näherungsweise zu berechnen.

• Tarifvertragliche Öffnungsklauseln führen dazu, dass Tarifbindung und Normierungskraft des Tarifvertrags nicht dasselbe ist, sondern auch in tarifgebundenen Betrieben unterschiedliche Arbeitsbedingungen bestehen; notwendig ist daher eine größere Transparenz über die Verbreitung und Wirkung von Öffnungsklauseln.

• Mehr Transparenz über das quantitative Ausmaß übertariflicher Bezahlung ist nötig: Wie viele der tarifgebundenen Betriebe zahlen übertariflich, wie viele Beschäftigte sind betroffen und wie groß ist die Spanne zwischen Tariflohn und tatsächlichem Lohn.

• Es ist mehr Transparenz darüber zu schaffen, was Orientierung am Tarifvertrag konkret bedeutet.

• Hohen Erkenntnisgewinn verspricht eine Befragung, die gleichzeitig bei Betrieben und den dort beschäftigten Arbeitnehmern durchgeführt wird. Hierfür sollten die notwendigen Voraussetzungen geschaffen werden.“

 

Abschließend heißt es:

„Würden diese Verbesserungsvorschläge umgesetzt, könnte sich die politische Debatte weniger auf den formalen Tarifbindungsstatus als auf die tatsächlich vorhandene Vielfalt konzentrieren. Es würde transparenter, dass Betriebe, die formal an einen gemeinsamen Flächentarifvertrag gebunden sind, durchaus unterschiedlich bezahlen oder auch andere Arbeitsbedingungen unterschiedlich regeln. Gleichzeitig würde stärker berücksichtigt, dass der Flächentarifvertrag auch auf Betriebe ausstrahlt, die nicht tarifgebunden sind, sich aber an wesentlichen Inhalten orientieren.

Durch die Ermittlung der originären Tarifbindung (die kraft beiderseitiger Tarifbindung im Sinne des Tarifvertragsgesetzes erzeugte Tarifgeltung) würde deutlich, dass durch die freiwillige Erstreckung von Tarifnormen durch tarifgebundene Betriebe (arbeitsrechtliche Inbezugnahme des Tarifvertrags) viele Mitarbeiter profitieren, die nicht gewerkschaftlich organisiert sind. In der politischen Debatte über eine Stärkung der Tarifbindung würde dann auch die Mitgliedschaft von Arbeitnehmern in Gewerkschaften eine größere Rolle spielen. Politische Maßnahmen würden dann weniger darauf abzielen, die Tarifgeltung auszuweiten. Stattdessen würde die Verantwortung der Tarifparteien in den Fokus rücken, selbst für eine ausreichende Mit[1]gliederstärke zu sorgen.“

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