EuGH: Arbeitnehmer hat Anspruch auf eine finanzielle Vergütung für noch nicht genommenen Jahresurlaub bei Ausscheiden

von Prof. Dr. Markus Stoffels, veröffentlicht am 19.01.2024
Rechtsgebiete: Bürgerliches RechtArbeitsrecht|1282 Aufrufe

Kaum ein Thema nimmt den EuGH so stark in Anspruch, wie das in Art. 31 Abs. 2 GR-Charta und Art. 7 der Arbeitzeits-Richtlinie 2003/88/EG verankerte Recht auf einen Mindestjahresurlaub. Ein weiteres Mosaiksteinchen fügt nun die Entscheidung des EuGH vom 18.1.2023 (C-218/22) hinzu. Thema ist die finanzielle Vergütung nicht genommenen Urlaubs im Falle des Ausscheidens.

Ein im öffentlichen Dienst beschäftigter Arbeitnehmer war von Februar 1992 bis Oktober 2016 als Verwaltungsleiter bei der italienischen Gemeinde Copertino tätig. Er schied aus dem Dienst aus, um in den vorzeitigen Ruhestand einzutreten, und verlangte eine finanzielle Vergütung für die während seines Arbeitsverhältnisses nicht genommenen 79 Tage bezahlten Jahresurlaubs. Die Gemeinde Copertino trat diesem Begehren entgegen und berief sich dabei auf die in den italienischen Rechtsvorschriften enthaltene Regel, wonach die im öffentlichen Dienst beschäftigten Arbeitnehmer anstelle des bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht genommenen bezahlten Jahresurlaubs in keinem Fall Anspruch auf eine finanzielle Vergütung haben.

Das mit dem Rechtsstreit zwischen dem Arbeitnehmer und der Gemeinde Copertino befasste italienische Gericht hat Zweifel an der Vereinbarkeit dieser Regel mit dem Unionsrecht und legte die Sache dem EuGH vor.

Mit seinem Urteil bestätigt der Gerichtshof, dass das Unionsrecht einer nationalen Regelung entgegensteht, die es verbietet, dem Arbeitnehmer eine finanzielle Vergütung für nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub zu zahlen, wenn der Arbeitnehmer das Arbeitsverhältnis auf eigenen Wunsch beendet. Hinsichtlich der vom italienischen Gesetzgeber mit dem Erlass der betreffenden nationalen Regelung verfolgten Ziele weist der Gerichtshof darauf hin, dass der Anspruch der Arbeitnehmer auf bezahlten Jahresurlaub, einschließlich seiner etwaigen Ersetzung durch eine finanzielle Vergütung, nicht rein wirtschaftlichen Überlegungen wie der Eindämmung öffentlicher Ausgaben untergeordnet werden darf. Demgegenüber entspricht das Ziel in Bezug auf die organisatorischen Erfordernisse des öffentlichen Arbeitgebers für die ordnungsgemäße Planung des Urlaubszeitraums der Zielsetzung der Richtlinie, die darin besteht, dem Arbeitnehmer zu ermöglichen, sich zu erholen, und ihn dazu anzuhalten, seinen Urlaub in Anspruch zu nehmen.

Somit kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass das Unionsrecht nur dann nicht dem Verlust dieses Anspruchs entgegensteht, wenn der Arbeitnehmer seinen Urlaub aus freien Stücken nicht genommen hat, obwohl ihn der Arbeitgeber dazu aufgefordert und über das Risiko des Verlusts dieses Anspruchs am Ende eines Bezugs- oder zulässigen Übertragungszeitraums informiert hat. Folglich verstoßen das Erlöschen des Urlaubsanspruchs am Ende des Bezugs- oder zulässigen Übertragungszeitraums und – bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses – das entsprechende Ausbleiben der Zahlung einer finanziellen Vergütung für den nicht genommenen Jahresurlaub gegen Art. 7 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2003/88 und gegen Art. 31 Abs. 2 der GR-Charta, wenn der Arbeitgeber nicht nachweisen kann, dass er mit aller gebotenen Sorgfalt gehandelt hat, um den Arbeitnehmer tatsächlich in die Lage zu versetzen, den ihm zustehenden bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.

Die Entscheidung war zu erwarten und erzwingt im deutschen Recht keine Korrektur, da § 7 Abs. 4 BUrlG ohnehin zwingend (§ 13 Abs. 1 S. 1 BUrlG) anordnet, dass Urlaub, der wegen Beendigung des Arbeitsverhältnisses ganz oder teilweise nicht mehr gewährt werden kann, abzugelten ist. Interessant für die Vertragspraxis ist allerdings die Erkenntnis, dass nach Unionsrecht die finanzielle Entschädigung dann ausgeschlossen werden kann, wenn der Arbeitgeber nachweisen kann, dass er mit aller gebotenen Sorgfalt gehandelt hat, um den Arbeitnehmer tatsächlich in die Lage zu versetzen, den ihm zustehenden bezahlten Jahresurlaub zu nehmen. Hier ist das deutsche Recht sogar strenger als das Unionsrecht.

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