Der Angeklagte darf lügen, bis sich die Balken biegen

von Carsten Krumm, veröffentlicht am 30.10.2022
Rechtsgebiete: Verkehrsrecht|3937 Aufrufe

...und das darf dann eigentlich auch nicht im Rahmen der Prüfung der Sozialprognose negativ gewertet werden:

 

Die Erwägungen, mit denen das Landgericht eine ungünstige Sozialprognose (§ 56 Abs. 1 StGB) begründet hat, halten einer rechtlichen Überprüfung nicht stand. Insoweit ist in den Urteilsgründen unter Bezugnahme auf als unzutreffend gewertete Angaben des Angeklagten zu seinen persönlichen Verhältnissen Folgendes ausgeführt:

 

"Darüber hinaus hat sich im Verlauf der Hauptverhandlung gezeigt, dass es dem Angeklagten immer noch nicht gelingt, aufrichtig zu sein und Sachverhalte so darzustellen wie sie sind. [...] Unzutreffende Angaben hat der Angeklagte auch über seine derzeitige Arbeitgeberin getätigt [...]".  

 

Diese Erwägungen sind ‒ worauf der Generalbundesanwalt in seiner Zuschrift zutreffend hingewiesen hat ‒ rechtlich durchgreifend bedenklich. Sie lassen besorgen, dass das Landgericht nicht hinreichend bedacht hat, dass der Angeklagte im Strafprozess nicht zu wahrheitsgemäßen Angaben verpflichtet ist (vgl. BGH, Beschluss vom 28. August 2018 ‒ 5 StR 295/18 Rn. 4) und zulässiges Verteidigungsverhalten nicht zum Nachteil des Angeklagten berücksichtigt werden darf (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 7. Dezember 2021 ‒ 3 StR 411/21, StraFo 2022, 116; Beschluss vom 19. Januar 2016 ‒ 4 StR 521/15 Rn. 4; Beschluss vom 22. Mai 2013 ‒ 4 StR 151/13, StraFo 2013, 340). Wahrheitswidrige oder beschönigende Angaben des Angeklagten dürfen deshalb regelmäßig weder strafschärfend berücksichtigt noch zur Ablehnung einer günstigen Sozialprognose im Rahmen des § 56 StGB herangezogen werden (vgl. BGH, Beschluss vom 2. Juni 2021 ‒ 6 StR 224/21, StV 2022, 158; Beschluss vom 20. April 1999 ‒ 4 StR 111/99, StV 1999, 602; Beschluss vom 20. Februar 1998 ‒ 2 StR 14/98, StV 1998, 482). Dies gilt nicht nur dann, wenn der Angeklagte dem Tatvorwurf mit wahrheitswidrigem Vorbringen entgegentritt, sondern auch in Fällen, in denen er in dem Bestreben, einen günstigeren Rechtsfolgenausspruch zu erreichen, falsche Angaben zu seinen persönlichen Verhältnissen macht (vgl. BGH, Beschluss vom 28. August 2018 ‒ 5 StR 295/18 Rn. 4). Die Grenzen zulässigen Verteidigungsverhaltens sind regelmäßig erst überschritten, wenn das Vorbringen eine selbstständige Rechtsgutsverletzung enthält oder hierdurch eine neue Straftat begangen wird (vgl. BGH, Urteil vom 8. April 2004 ‒ 4 StR 576/03, NStZ 2004, 616, 617). Feststellungen, die diese Annahme tragen könnten, sind den Urteilsgründen auch unter Berücksichtigung ihres Zusammenhangs nicht zu entnehmen.

 

 

Ein Beruhen des Urteils (§ 337 Abs. 1 StPO) auf dem Wertungsfehler kann nicht gänzlich ausgeschlossen werden, auch wenn eine Aussetzung der Gesamtfreiheitsstrafe unter Berücksichtigung des weiter als prognostisch ungünstig angeführten Umstands der Tatbegehung nach umfangreichen Durchsuchungsmaßnahmen während laufender Ermittlungen eher fern liegt.  

 

Die Sache bedarf daher im Umfang der Aufhebung neuer Verhandlung und Entscheidung. Die Feststellungen können bestehen bleiben, da sie von dem Wertungsfehler nicht betroffen sind.
  BGH, Beschluss vom 16.08.2022 - 4 StR 186/22 openJur 2022, 17519
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